Wolfgang Walk hat geschrieben: Du hättest natürlich beim zweiten Zitat auch noch den Satz, den ich EXAKT davor geschrieben habe mit reinnehmen können, dann wäre klar, auf was sich das "dabei" bezieht (kleiner Tipp: fängt mit "S" an und hört mit "ozialadäquanz" auf) - und Dein Unverständnis wäre dir selbst unverständlich geworden ...
Na ja, meine Verwirrung beruhte ja auch darauf, dass der Begriff der Sozialadäquanz meines Wissens nach ein einfach-rechtlicher ist; es handelt sich um keine Kategorie, die dem Grundgesetz als solchem bekannt wäre. Um das besser verständlich zu machen:
Im Grundgesetz taucht der Begriff nicht auf. Da nur in der Verfassung geregelte Rechte und Rechtsgüter dazu taugen, eine Einschränkung dort konstutierter Rechte und Rechtsgüter zu rechtfertigen, spielt der Begriff für das Bundesverfassungsgericht erstmal überhaupt keine Rolle. Vor dem Hintergrund wollte mir wegen meines juristischen Backgrounds nicht ganz einleuchten, was der Begriff der Sozialadäquanz im Zusammenhang mit dem Bundesverfassungsgericht soll. Deshalb habe ich auch darauf hingewiesen, dass im von Dir zitierten Urteil auf das Sittengesetz abgestellt worden ist.
Soweit ich das Urteil beim Überfliegen richtig verstanden habe, hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung im Zusammenhang mit der Strafbarkeit der Homosexualität folgende Überlegungen angestellt:
Sexuelle Handlungsfreiheit sei Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit / freien Entfaltung der Persönlichkeit, die von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird.
Art. 2 Abs. 1 GG lässt es zu, dass die allgemeine Handlungsfreiheit aufgrund der Sittengesetze eingeschränkt wird, was eine ziemlich nebulöse Sache ist, wie Du zutreffend festgestellt hast. Diese Schranke wird heute unangewendet gelassen und das BVerfG stellt eigentlich nur noch auf die ebenfalls in Art. 2 Abs. 1 GG genannte verfassungsmäßige Ordnung ab. Denn dogmatisch erfordert diese Grundrechtsschranke sehr viel mehr Begründungsaufwand und differenzierte Prüfung als die des Sittengesetz. In der damaligen Entscheidung hat das BVerfG aber noch dankbar auf das Sittengesetz zurückgegriffen, weil es eine sehr einfache Möglichkeit bot, mit wolkigem, schwulenfeindlichen Geschwätz den Anschein einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Strafbarkeit zu erwecken.
Dem verfassungsrechtlichen Begriff des Sittengesetzes gegenüber ist der Begriff der Sozialadäquanz bei der Anwendung des einfachen Rechts durch die drei Staatsgewalten häufig Schauplatz für von zB einem Strafgericht oder einer Behörde anzustellenden grundrechtliche Abwägungen. Ich finde ihn im Zusammenhang beispielsweise mit § 86 Abs. 3 StGB auch ungenau. Man spricht zwar von der Sozialadäquanz-Klausel, der Begriff der Sozialadäquanz taucht aber im Gesetz nirgends auf. Vielmehr heißt es dort: "Satz 1 gilt nicht, wenn das Propagandamittel oder die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient." Das Gesetz wird dort also viel plastischer als der Begriff der Sozialadäquanzprüfung: Es soll eben eine Grundrechtsabwägung erfolgen. Und wenn dem Fachgericht dabei Fehler passieren, zB, wenn es die Prüfung ganz unterlässt (OLG Frankfurt lässt grüßen) oder einfach aus Sicht des Verfassungsgerichts wesentlicher verfassungsgerichtliche Gesichtspunkte übersehen hat, kann es eingreifen. Selbst prüft es die "Sozialadäquanz" streng genommen nicht, weil es kein einfaches Recht anwendet; tatsächlich entspricht die Grundrechtsabwägung, die das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung etwa einer Urteilsverfassungsbeschwerde aber dem, was auch das Fachgericht macht.
Vielleicht wird jetzt deutlich, dass meine Verwirrung durch eine Mitzitierung des vorangegangenen Satzes wahrscheinlich auch nicht beigelegt worden wäre. Eine Sozialadäquanzprüfung des BVerfG gibt es eigentlich nicht. Ich denke vielleicht einfach zu juristisch als für unsere Diskussion zuträglich war; und das, obwohl es (auch) um juristische Themen geht. Für uns beide vielleicht ein bisschen frustrierend, aber, jedenfalls für mich, trotzdem interessant.
Wolfgang Walk hat geschrieben: Was auch daran liegt, dass Sozialadäquanz vor allem dazu genutzt wird, ansonsten gesetzlich verbotenes Verhalten mit sozialer Adäquanz zu entschuldigen und - früher - straffrei bzw. - heute - eher strafmildernd zu bewerten.
Im Strafrecht sind sich die meisten, aber nicht alle, darüber einig, dass die Sozialadäquanz eines Verhaltens dafür sorgt, dass ein Straftatbestand bereits nicht erfüllt ist. Man unterscheidet im materiellen Strafrecht Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld. Der Tatbestand sagt, was grundsätzlich verboten ist; da sozialadäquates Verhalten dafür sorgt, dass der Tatbestand nicht erfüllt ist, ist also zB ein Kunstwerk, dass § 86 III StGB unterfällt bereits nicht verboten. Wenn eine Norm regelt, dass etwas gerechtfertigt ist, bedeutet das, dass das gegen das strafrechtlich sanktionierte Verbot verstoßen worden ist, aber Gründe vorliegen, die das begangene Unrecht wieder aufwiegen, so dass der Verbotsverstoß gerechtfertigt war. Auf Schuldebene sagt man, Du hast zwar rechtwidrig Unrecht begangen, es gibt aber besondere Gründe, die es rechtfertigen, dass Du nicht für das begangene Unrecht bestraft werden sollst. Sozialadäquates Verhalten führt also dazu, dass ein Verhalten nicht verboten ist, also kein Unrecht verübt wurde und DESHALB das Verhalten straflos bleibt. Sorry für die Langfassung. Wenn ich es sauber erklären will, muss ich etwas ausholen.
Wolfgang Walk hat geschrieben: Da verlief ein Teil der Diskussion hier allerdings anders - und nur dagegen habe ich mich gewehrt: gegen die hier geäußerte Anmutung, dass letzten Endes bei der gerichtlichen Bewertung eines Kunstwerks ein solches Sittengesetz zur Anwendung kommen darf. Darum mein Hinweis auf das Urteil von 57 mit dem Hinweis: das ginge schief. Wobei ich immer davon ausging, dass die jetzige Besetzung des BVerfG dies genauso sähe. Aber solche Besetzungen sind halt Veränderungen unterworfen, und mit 52% AfD in Bund und Ländern ändern sich auch die Besetzungskommissionen. Soweit sind wir uns - denke ich - einig.
Jup, sind wir. Schön, dass wir das jetzt auch beide gemerkt haben. Sorry!
Hier wird's interessant:
Wolfgang Walk hat geschrieben: Hier wird's interessant: Was genau IST denn Kunst für eine Verhaltensweise?
Ich deute Deine Frage so, dass Du nicht danach fragst, wie man Kunst definiert, sondern auf welches Verhalten ich konkret Bezug nehmen wollte. Verhalten ist in der Juristerei der Oberbegriff für Tun oder Unterlassen. Mir ging es mit meiner Formulierung um die Bereiche, die durch die Kunstfreiheit konkret geschützt werden: Werken (Erstellung des Kunstwerks) und Wirken (Vermittlung des Kunstwerks an Dritte). Sowohl der Prozess der Erstellung des Kunstwerks, als auch seine wie auch immer gearteten Präsentation können ja mit anderen Verfassungswerten (Grundrechten, onstige Verfassungsgüter) in Konflikt geraten. Darum ging es mir.
Wolfgang Walk hat geschrieben: (Und es können doch nur Verhaltensweisen grundrechteinschränkenden Charakter haben, oder?)
Das ist eine gute Frage: Im juristischen Sprachgebrauch ist Verhalten jedes Tun, Dulden oder Unterlassen. Auch ein Unterlassen einer Person in Wahrnehmung eines Grundrechts kann mit dem Grundrecht eines anderen in Konflikt geraten.
Nehmen wir zB einen schweren Autounfall, bei dem ein Beteiligter schwer verletzt ist und zu versterben droht, wenn ein unbeteiligter Dritter potentieller Ersthelfer nicht eingreift. Dass Recht des Unbeteiligten, nichts zu tun, ist durch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) im Grundsatz geschützt. Andererseits ist auch das Grundrecht auf Leben des Unfallopfers bedroht, wenn der Unbeteiligte nicht hilft. Diesen Konflikt grundrechtlicher Positionen im Miteinander Privater hat der Gesetzgeber durch die Schaffung des § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung) zu einem Ausgleich gebracht.
Weiteres Beispiel: Ein Künstler will seine Gemälde auf einem Markt auf einem öffentlichen Platz aufstellen (Vermittlung des Kunstwerks an Dritte) und beantragt eine Zulassung zum Markt. Die Verwaltung tut: nichts. Sie erlässt einfach keinen Verwaltungsakt über die Zulassung oder deren Ablehnung. Dann kann der Künstler auf Zulassung klagen, ggf. auch einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch nehmen, weil die Untätigkeit der Verwaltung ihn in seiner Kunstfreiheit verletzt, wenn der Markt ohne ihn stattzufinden droht.
Wolfgang Walk hat geschrieben:
Und inwiefern kann die dann grundrechteinschränkend sein. Kunst im öffentlichen Raum geht ja in aller Regel durch Gremien. Kein Künstler kriegt einfach so einen Freibrief: "Stell da mal was hin. Hier hast du ne halbe Millionen." Sprich: in dem Fall gab es vorher einen nachvollziehbaren Beschluss, das Kunstwerk aufzustellen. Natürlich kann man dann immer noch klagen, aber es kann doch von einem allgemeinen gesellschaftlichen Unbehagen dann nicht mehr ernsthaft gesprochen werden, wenn das Kunstwerk als Ergebnis eines kompetenten Mehrheitsbeschlusses aufgestellt wurde, oder?
Wenn ich den "Schlagabtausch" zwischen Dir und André richtig verstanden habe, ging es André um Extremfälle, in denen ein weit überwiegender Teil der Bevölkerung nicht haben wollen würde, dass das Kunstwerk errichtet wird. Und in der Regel wird dann auch die Verwaltung, in weiser Voraussicht (oder vorauseilendem Gehorsam
) um einen Skandal zu vermeiden auch keine Erlaubnis erteilen und der Künstler hat den schwarzen Peter, sich die Vermittlung seines Kunstwerks zu erstreiten. Aber, um bei meinem Beispiel oben zu bleiben, es gibt ja eben auch Performancekünstler oder Leute, die ihre klassische Kunst (Skulpturen, Gemälde, etc.) öffentlich und ggf. auch nur vorübergehend ausstellen wollen. Da wird ja dann kein elaboriertes baurechtliches oder auch sonst einschlägiges Verfahren durchgeführt, sondern es geht ganz normal um eine Genehmigung zur Nutzung eines öffentlichen Platzes, einer Straße, etc. zur Ausstellung der Kunst. Und auch dort kann es natürlich zu Konflikten kommen, wenn Motiv oder Darbietung nicht dem entsprechen, was öffentlich gewollt ist. In München muss man als Musiker glaube ich auch bei der Behörde erst vorspielen, um überhaupt eine Chance auf eine Genehmigung zu haben. Da fängt es ja schon an.
Im Endeffekt wird also auch bei Behördenentscheidungen im Kleinen über Wohl und Wehe eines Kunstprojektes entschieden.
Zum Rest mache ich mir zu morgen Gedanken.
Einen schönen Abend!