Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

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Stuttgarter
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Stuttgarter »

Puschkin hat geschrieben:
[...]

Greift Wolfenstein diese Ambivalenz der Kollaboration in der internationalen Fassung dahingehend nicht besser auf?
Jetzt kenn ich die internationale Fassung von Wolfenstein nicht, kann diese Frage also nicht beantworten. Grundsätzlich ist natürlich klar, dass eine Parabel historische Begebenheiten nicht eins zu eins widerspiegelt, sie wird immer auf der Ebene bleiben, auf der man Parallelen und Symbolik erkennen, aber nicht eins zu eins übertragen kann. Mein Lieblingsbeispiel ist (wieder einmal) Harry Potter, bei dem die Autorin selbst jeglichen Bezug zum Dritten Reich vehement abstreitet, viele Leser den auch nicht sehen wollen. Und trotzdem stecken von Band IV an ständig Parallelen drin. Am deutlichsten wirds im letzten Band, in dem man ohne große Mühe "Ariernachweis", "Gleichschaltung" und noch einiges andere erkennen kann. Aber auch die Todesser erinnern doch sehr an die SS. Voldemort hat sein eigenes Symbol, das seine Getreuen am Unterarm tragen. Nicht ganz so offensichtlich, aber dennoch vorhanden ist selbst die Parallele, dass Voldemort selbst gar nicht dem propagierten Ideal entspricht (Voldemort ist nicht "reinblütig" <-> Hitler war alles andere als ein blonder großgewachsener Germane).

Bei Wolfenstein stellt sich mir allerdngs die Frage, wie viel Wert so eine historisch korrekte Darstellung in einem ansonsten durchgeknallten Alternativsetting letztlich hat: So, wie ich bei Total War: Rome und dem SJR erstmal dazu neigen würde, das gezeigte zu glauben (weil zumindest unterschwellig vermittelter Anspruch "historisch"), so würde ich bei einem Wolfenstein das erstmal nicht unbedingt für bare Münze nehmen.

Ein Spiel, das das wohl tatsächlich hinbekommen hätte, wenn es gewollt hätte, wäre vermutlich Velvet Assassin gewesen - dieses Spiel muss in einer (bis dahin zumindest) einzigartigen Art das Grauen der Naziherrschaft tatsächlich gut vermittelt haben. Aber das wollte damals keiner spielen.
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Terranigma
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Terranigma »

Stuttgarter hat geschrieben:Grundsätzlich ist natürlich klar, dass eine Parabel historische Begebenheiten nicht eins zu eins widerspiegelt, sie wird immer auf der Ebene bleiben, auf der man Parallelen und Symbolik erkennen, aber nicht eins zu eins übertragen kann.
"Parabel" ist eigentlich ein schöner Ansatz, weil - behaupte ich einmal - alle Videospiele oder Spielfilme mit historischen Setting im Kern Parabeln sind, d.h. sie nutzen den historischen Hintergrund als Folie, greifen Charaktere heraus, orientieren sich am zeitlichen Verlauf ausgewählter Ereignisse, usw. aber durch die Wahl der Perspektive, der Inszenierung und Anordnung der Ereignisse, erzählen sie im Endeffekt eine eigene Geschichte, die etwas über das Wesen von etwas sehr Grundsätzlichen aussagen soll.


"Braveheart" ist ein Historienfilm, aber es ist primär eine Parabel auf den heldenhaften Befreiungskampf eines unterdrücktes Volkes. Diese Handlung kann man anhand des Konfliktes zwischen Schottland und England ebenso gut erzählen, wie man sie anhand des Konfliktes zwischen Palästina und Israel, Indien und Großbritannien, Spanien gegen Frankreich, o.Ä. erzählen. Die Historie ist die Bühne, aber die eigentliche Geschichte, ist die eines Befreiungskampfes.

"Kingdom of Heaven" ist ein Historienfilm, aber primär eine Parabel über Völkerverständigung und religiösen Eifer, wobei in dem Fall der religiöse Eifer primär auf der Seiten der Christen gesehen wird, während die Muslime - allenvoran Saladin - als mehrheitlich friedliebend und tolerant dargestellt werden. Aggressor in diesem "Kulturkampf" seien demnach die Christen - aka der Westen - die durch ihren Krieg die Harmonie im Nahen Osten stören. Kritik seitens Historikern reichte von "Das ist Orientalismus!" bis hin zu "Das ist Geschichtsschreibung im Sinne Osama bin-Ladens!" Ridley Scott wiederum sagte im Making-Of explizit, dass der Film eine moderne (!) Interpretation des historischen Stoffes sei, und er vorsätzlich bestimmte Aspekte überzeichnet hat, damit moderne Zuschauer einen besseren Zugang finden.

usw.

Bezüglich Kingdom Come: Deliverance kursiert ja derzeit das Gerücht, dass auch das Spiel vor einem historischen Hintergrund spielt, primär aber die alte "Vom Tellerwäscher zum Millionär"-Geschichte erzählt, wo man als Niemand startet aber durch Irrungen und Wirrungen am Ende eine wichtige Position im Krieg einnimmt. Quasi die klassische Heldenreise als Erzählstruktur. Ich würde mich nicht wundern, wenn es am Ende tatsächlich so ist.
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Puschkin
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Puschkin »

Terranigma hat geschrieben:
usw.

Bezüglich Kingdom Come: Deliverance kursiert ja derzeit das Gerücht, dass auch das Spiel vor einem historischen Hintergrund spielt, primär aber die alte "Vom Tellerwäscher zum Millionär"-Geschichte erzählt, wo man als Niemand startet aber durch Irrungen und Wirrungen am Ende eine wichtige Position im Krieg einnimmt. Quasi die klassische Heldenreise als Erzählstruktur. Ich würde mich nicht wundern, wenn es am Ende tatsächlich so ist.
Es wurden ja scheinbar schon die Achievments bekannt gegeben.
SpoilerShow
Eines davon ist sowas wie "finde heraus wer dein leiblicher Vater ist". Wenn da nicht mal rauskommt das der Spieler Charakter doch der sohn von irgendeinem Adligen ist.
Ja das es so eine Jedermanns Geschichte wird habe ich auch gehört. Und was ich da als Rekurs auf die Geschichte aus heutiger Sicht vermute ist, eine Geschichte das man nur echten hartarbeitenden Tschechen vertrauen kann. Nicht den Deutschen und nicht diesem "kosmopolitischen Adel" der sich ja unter sich in alle Richtungen Europas verheiratet hat. Das ist natürlich Spekulation.
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Stuttgarter
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Stuttgarter »

@Terranigma

Die Frage ist halt, wo die Interpretation aufhört und die Verfälschung beginnt. Das mag oft schwammig sein - aber sowohl die Szene aus SJR als auch die geschilderte Darstellung in Total War dürften eindeutige Verfälschungen sein. Im Fall vom SJR wohl, um die Dramatik zu erhöhen (filmtechnischer Grund) und gleichzeitig die "Heldenhaftigkeit" herauszustellen (politischer Grund). Ich bin den Alliierten und auch speziell den Amerikanern weiß Gott dankbar, dass der D-Day stattgefunden hat und Europa danach Stück für Stück zurückerobert wurde (dadurch durfte ich Teile meiner Familie noch kennenlernen, die sonst vermutlich nicht überlebt hätten). Dennoch wehrt sich alles in mir gegen diese Glorifizierung. Und grade ein Spielberg, der einerseits Popcornkino, andererseits historische Stoffe abhandelt, sollte meiner Meinung nach bei seinen historischen Stoffen so exakt wie möglich sein. Ja, ich weiß, hundertprozentige Korrektheit geht nicht. Aber wie der Strand der Normandie im Juni '44 ausgesehen hat ist nun wirklich keine Ansichts- oder Interpretationssache.

Spielberg schadet seinen "ernsthaften" Filmen in meinen Augen ungemein, wenn er bei diesen Filmen dem Effekt Vorrang vor der Genauigkeit gibt. Denn jetzt, da ich das mit SJR weiß, stellt sich mir zwangsläufig die Frage, "Wie sieht es bei seinen anderen ernsthaften Filmen aus?". Bei "Lincoln"? (Okay, bei dem wusste man von Anfang an, dass er an der Geschichte rumgepfuscht hat.) Bei "München"? Und auch - bei "Schindlers Liste"? Und spätestens bei dem wird es fatal, wenn die Meinung kursiert, "Spielberg übertreibt gern, um die Szene dramatischer zu gestalten", und man das anhand einzelner Beispiele auch belegen kann.

Man kann wunderbar anhand historischer Themen tagesaktuelle Kommentare abgeben - Clooneys "Good night and good luck" wäre so ein Beispiel. (In dem Film geht es um die McCarthy-Ära. Und gleichzeitig war er ein damals hochaktueller Kommentar zur George W. Bush-Politik.) Ein Kunstschaffender schadet aber sich und seinem Anliegen, wenn er sich aufgrund fehlerhafter Darstellung angreifbar macht.
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Terranigma
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Terranigma »

Stuttgarter hat geschrieben:Die Frage ist halt, wo die Interpretation aufhört und die Verfälschung beginnt.
Ich würde sagen, der Unterschied liegt nicht in der Frage "Was man ändert", sondern "Warum man es ändert". Ich unterstelle z.B. Spielberg oder Scott keine bewusst demagogische Absicht, o.Ä. Tatsache ist aber, dass ein Film - oder Videospiel - ein anderes Medium ist, als ein wiss. Artikel. Auch die Zielsetzung ist eine andere. Von einer "Verfälschung" würde ich insofern nicht sprechen.

"Kingdom of Heavens", "Braveheart", "Saving Private Ryan" und Co sind allesamt moderne Geschichten, die sich in alte Kostüme kleiden, aber ihrem Wesen nach sind sie fiktiv. Dementsprechend würde ich nicht unbedingt die Forderung an den Regisseur oder Entwickler stellen, sondern an den Rezipienten. Der müsste lernen, eine authentische Kulisse nicht für eine authentische Darstellung von Vergangenheit misszuverstehen, sondern sich bewusst sein, dass es Fiktion ist. Ich glaube, dann kann man sich das auch mit der nötigen Distanz ganz nüchtern geben.


Natürlich tun Rezipienten das nicht. Ich auch nicht jederzeit, eben weil man insgeheim doch betrogen werden möchte. Ich weiß jetzt bereits, dass Kingdome Come: Deliverance ein Videospiel von einem tschechischen Entwickler aus 2018 ist, d.h. eine moderne Erzählung, die in ein historisches Szenario gelegt wurde. Das Spiel ist Fiktion. Viele Aspekte des Spiels - z.B. die Musikuntermalung, die Sprachausgabe, das Verhalten der NPCs, usw. - werden ausschließlich der Phantasie der Autoren entstammen. Das weiß ich, und dennoch freue ich mich darauf, mein Hirn während des Spiels abzuschalten und mich der naiven Illussion hinzugeben, dass es mir wirklich einen authentischen Blick in die Vergangenheit gewährt. Das tut es natürlich nicht, und das weiß ich. Aber ich will diese Illussion genießen, denn aus irgendeinem Grund ist die Vorstellung, ein Roman, Film oder Spiel könnte einem zeigen, "wie es damals eigentlich war", sehr attraktiv. Zumindest für mich liegt eine andere Faszination darin, dass ich die Illussion mag, Videospiele könnten mir wie eine Art Reiseführer interessante Ortschaften der Erde zeigen.


Aber so mal allgemein gefragt: Warum mögt ihr eigentlich historische Szenarien? Was bietet ein Videospiel mit historischen Setting, das ein Fantasy-Titel nicht bieten kann?
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Don Mchawi
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Don Mchawi »

Terranigma hat geschrieben:
Aber so mal allgemein gefragt: Warum mögt ihr eigentlich historische Szenarien? Was bietet ein Videospiel mit historischen Setting, das ein Fantasy-Titel nicht bieten kann?
Ich glaube viele hier, mich eingeschlossen, haben einfach ein generelles stark ausgeprägtes Interesse an Geschichte.
Und wie du schon sagst, als Konsument kann man sich der Illusion hingeben, jetzt wirklich in dieser Epoche aktiv zu sein oder ihr als Zeuge beizuwohnen - und näher an dieses Gefühl als durch Medien in dem Thema können wir bis zur Erfindung der Zeitmaschine ja auch gar nicht kommen.

Ich persönlich bin absolut kein Fan von Fantasy oder Science Fiction. Hier liegt auch ein Vorteil von historischen Settings: Sie bedienen sich Geschichten, die auf wahren Biographien beruhen und dadurch glaubwürdiger werden oder auf Erzählungen, die Jahrhunderte lang gereift sind und damit auch eine Faszination auslösen: Wie Siegfried den Drachen erschlug (okay, historisches Setting mit fantasievoller Erweiterung in dem Fall) fanden auch vor 500 Jahren Leute schon spannend. Das finde ich sehr faszinierend.
Fantasy und Science Fiction sind dagegen per se fiktiv, außerdem haben sie für mich häufig das Problem, dass in ihrer eigenen Welt alles im Zweifel mit irgendeinem Zauber oder irgendeiner Erfindung erklärt werden kann. In einem historischen Setting müssen Handlungs- und Charakterentwicklungen sinnvoll eingebettet und bodenständiger sein.
Davon ab, ich kann mir nicht helfen, aber oft finde ich Fantasy und Science Fiction eher lächerlich. Wobei es auch in beiden Bereichen wenige Ausnahmen gibt, die ich mag - Herr der Ringe, Game of Thrones/Lied von Eis und Feuer, Star Wars. Alles aber ja auch für sich ein wenig bekannt, Fantasy bzw Science Fiction für Leute zu sein, die mit dem Genre sonst nicht viel anfangen können. Stimmt voll bei mir. :D

Bei Spielen bin ich etwas toleranter bei Fantasy, wenn es nicht so total lächerliche Riesenschwerter und bunte Explosionen sind, komme ich mit Monstern und ergänzender Magie (Gothic, Witcher, Dragon Age) klar. Aber tatsächlich ist das für mich bei KC:D der interessanteste Faktor: Endlich mal ein großes Rollenspiel ohne Fantasy.
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Maulwuerfel
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Maulwuerfel »

Spiele haben doch gar nicht den Anspruch authentisch zu sein. Man nimmt sich ein Setting und baut dann ein Entertainment-Produkt daraus. Ganz gleich ob das jetzt der 2. Weltkrieg oder ein komplett fiktives Setting ist, am Ende soll ein unterhaltsames Produkt rauskommen das Spaß macht. Wenn die Betonbunker in der Normandie das "Spielfeld" spannender aussehen lassen, dann bitte immer her damit! Die großen Triple-A Spiele sehe ich so wie Blockbuster-Spielfilme (deshalb für mich auch bei Saving Private Ryan total okay, wenn der Film nicht akkurat ist). Spielfilm != Dokumentation
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Puschkin
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Puschkin »

Maulwuerfel hat geschrieben:Spiele haben doch gar nicht den Anspruch authentisch zu sein. Man nimmt sich ein Setting und baut dann ein Entertainment-Produkt daraus. Ganz gleich ob das jetzt der 2. Weltkrieg oder ein komplett fiktives Setting ist, am Ende soll ein unterhaltsames Produkt rauskommen das Spaß macht. [...]
Also beim aktuellen Beispiel KCD springt dir aber in jedem zweiten Artikel oder Meldung dazu entgegen wieviel Wert dort auf Authentizität gelegt wird.
Vielleicht wird KCD die Geister der Authentizität die die KCD PR Abteilung gerufen hat jetzt nicht mehr los?
Und es gibt da wohl verschiedene Arten der Authentizität. Bei KCD ist es eine Authentizität der Kulissen. Aber da wird weder im Marketing noch in der Presse differenziert drauf eingegangen so das es hängen bliebe. Es wird alles mit dem Begriff der Authentizität 'erschlagen'.
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Stuttgarter
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Stuttgarter »

Grundsätzlich seh ich in dem Standpunkt "Spiele, Filme, Bücher dürfen sich die Vergangenheit so zurechtlegen wie es ihnen passt" halt einen gewaltigen Nährboden für die berühmten "alternative facts". Klar kann man sich wünschen, dass der Rezipient gebildet und aufgeklärt genug ist, das nicht für bare Münze zu nehmen - aber eine Grundtheorie des Threaderstellers war ja, dass falsche Darstellungen irgendwann "richtig" werden, wenn sie nur oft genug gezeigt wurden.

Davon abgesehen gab es vor ein paar Jahren eine repräsentative Umfrage in England, in der die Befragten zu 60 % der Ansicht waren, dass die Schlacht um Helms Klamm historisch sei, der Kalte Krieg hingegen laut 30 % eine Erfindung von Schriftstellern und Drehbuchautoren.

Angesichts dessen finde ich es nicht wirklich übertrieben, Kunstwerke und Künstler in die Verantwortung zu nehmen, zumindest die Rahmenbedingungen so akkurat wie möglich darzustellen, wenn sie einen historischen Stoff nehmen. Wenn sie das nicht wollen, gibt es das große Feld der Fantasie, wo sie sich die oben schon erwähnten Parabeln ausdenken können.

Und mir stellt sich eine ganz simple Frage - bis zu welchem Grad ist Geschichtsverfälschung um der Story willen denn okay?
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Terranigma
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Terranigma »

Stuttgarter hat geschrieben:Und mir stellt sich eine ganz simple Frage - bis zu welchem Grad ist Geschichtsverfälschung um der Story willen denn okay?
Ich würde halt nicht von Geschichtsverfälschung sprechen, weil "Fälschung" ja eine kriminelle oder böswillige Intention voraussetzt. Und weil eine "Fälschung" ja häufig ein Mittel ist, um irgendein eigennütziges Ziel zu erreichen. Wenn Spielberg die Landung an Omaha Beach anders inszeniert, als es wohl tatsächlich ablief, dann tut er das ja nicht in der Absicht, dort Geschichte zu verfälschen, sondern um für sein Dafürhalten die Dramaturgie des Films zu erhöhen. Ich würde insofern sagen: Sie ist immer okay. Man sollte als Autor lediglich ehrlich kommunizieren, dass man hier eine Interpretation (!) eines historischen Stoffes mit allerlei Fiktion abliefert, und der Rezipient sollte das Werk auch in diesem Bewusstsein rezipieren. Das tun Autoren aber (natürlich) nicht, weil ja ein Verkaufsargument gerade darin liegt, dass ein Spielfilm, Roman oder Videospiel einen quasi in die Vergangenheit schicken und an monumentalen Ereignissen teilhaben lassen kann. Die Fiktion lebt davon, dass sie ihre eigene Fiktionalität leugnet. Darum sehe ich die Verantwortung da beim Konsumenten. Und den Journalisten! ;)


Jedes Medium bietet ganz eigene Möglichkeiten, stellt aber auch Forderungen. Ob ich die Landung an Omaha Beach in einem Roman, einem Gemälde, einem Song, einem Spielfilm, einem Theaterstück oder einem Videospiel darstelle, hat massiven Einfluss auf die Darstellung. Wenn ich die Landung in einem Roman erzähle, kann ich allerlei visuelle Eindrücke weglassen; womöglich schreibe ich nur, dass es Bunker gibt, aber mache keine Angabe über deren Abstände. In einem visuellen Medium muss ich wiederum alles zeigen, während ich in einem Roman selektiv Highlights erwähnen kann. Wiederum will ein Spielfilm eine Dramaturgie aufbauen; und so wie man sich Freiheiten bei den Charakteren nimmt, kann man sich auch Freiheiten bei dem Bühnenbild nehmen. Nur mit dem Unterschied, dass es vielen Rezipienten eher auffällt, wenn beim Bühnenbild etwas nicht stimmt, als wenn die Charaktere sich anachronistisch verhalten.

"Authentizität" wird bei WW2-Shootern ja z.B. auch gerne daran bemessen, ob die Auswahl der Waffen passend ist, ob die Vehikel zeitgemäß sind, ob die Uniformen richtig sind, usw. Also eigentlich achtet man sehr penibel auf die Gestaltung des Bühnenbildes und der Kostüme, während man den Autoren sehr viel Freiräume bei der Charakterisierung, der Narrativität, usw. gibt. Wahrscheinlich, weil es leichter ist "Fakten" - "Gewehr XYZ hat es 1944 noch gar nicht gegeben!" - zu überprüfen, und man die Korrektheit von Oberflächlichkeiten daher eher als Ausweis für einen hohen Grad an Authentizität nimmt. Da aber jeder historische Stoff extrem ge- und verbogen wird, stört es mich persönlich wenig, wenn sich Autoren auch bei diesen Oberflächlichkeiten Freiheiten nehmen. DIe nehmen sie sich auch überall sonst.
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Stuttgarter »

Terranigma hat geschrieben:
Man sollte als Autor lediglich ehrlich kommunizieren, dass man hier eine Interpretation (!) eines historischen Stoffes mit allerlei Fiktion abliefert, und der Rezipient sollte das Werk auch in diesem Bewusstsein rezipieren. Das tun Autoren aber (natürlich) nicht, weil ja ein Verkaufsargument gerade darin liegt, dass ein Spielfilm, Roman oder Videospiel einen quasi in die Vergangenheit schicken und an monumentalen Ereignissen teilhaben lassen kann. Die Fiktion lebt davon, dass sie ihre eigene Fiktionalität leugnet. Darum sehe ich die Verantwortung da beim Konsumenten. Und den Journalisten! ;)
Okay, dem entnehme ich, dass Du es also völlig okay findest, dass Autoren bewusst lügen?
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Terranigma
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Terranigma »

Stuttgarter hat geschrieben:Okay, dem entnehme ich, dass Du es also völlig okay findest, dass Autoren bewusst lügen?
Lügen sind immer bewusst und vorsätzlich, und verweisen im allgemeinen Sprachgebrauch zumeist auf böswillige Absichten. Insofern wäre "lügen" hier nicht meine Wortwahl, weil ich in der Erhöhung von Dramatik keinen böswilligen Vorsatz sehe; das ist eine künstlerische Entscheidung. Ebenso sehe ich in der Idealisierung des Islams in "Kingdome of Heavens" keine Lüge, weil dies der Intention des Autoren dient, einen Antagonismus zwischen Christenheit und Islam zu inszenieren. Oder es werden Konflikte zwischen Charakteren inszeniert, die nicht unbedingt in der Geschichte ihren Ursprung haben, sondern in der dramaturgischen Notwendigkeit, dem Protagnisten auch einen passenden Antagonisten zu verpassen. Ich würde sagen, dass ich es okay finde, wenn Autoren sich Freiheiten in der Erzählung nehmen. Denn das tun sie, notwendigerweise.

Mein Eindruck ist, dass wir hier nur zwei verschiedene Wertigkeiten im Hinterkopf haben: Ich sehe, dass Videospiele und Spielfilme immerzu fiktiv sind, sodass es mich in einem ohnehin fiktiven Werk auch nicht weiter stört, wenn sie im Bühnenbild und bei den Kostümen fiktiv sind. Dass z.B. Charaktere in Braveheart mit Kilts rumliefen ist Fiktion. Kilts kamen erst ab dem 18. Jhrd. auf. Da aber sowieso alles an Braveheart fiktiv ist, stört mich dieses Detail auch nicht weiter. Ich könnte ebenso den nach modernen Standards väterlichen Umgangston zwischen William und seinen Vater kritisieren und den Dialogen, die dem 20. Jhrd entsammen.

Du legst - mein Eindruck - mehr wert auf die Akkuratheit des Bühnenbildes und der Kostüme, womit du aber doch implizierst, dass dich "Lügen" in anderen Bereichen - z.B. dem zwischenmenschlichen Agieren von Charakteren, Charakterisierung von Persönlichkeiten, usw. - vergleichsweise weniger stören. Ich sehe das eher auf einer Stufe, auch wenn sichtbare Fiktion im Bühnenbild natürlich eher ins Auge fallen. Deswegen achten Autoren ja zumeist auch darauf, dass hier möglichst "akkurat" gearbeitet wird und man die Checkliste abhakt.
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Ricer
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Re: Authentizität? Wie Spiele verzerrte, historische Darstellungen reproduzieren

Beitrag von Ricer »

Maulwuerfel hat geschrieben:Spiele haben doch gar nicht den Anspruch authentisch zu sein. Man nimmt sich ein Setting und baut dann ein Entertainment-Produkt daraus. Ganz gleich ob das jetzt der 2. Weltkrieg oder ein komplett fiktives Setting ist, am Ende soll ein unterhaltsames Produkt rauskommen das Spaß macht. Wenn die Betonbunker in der Normandie das "Spielfeld" spannender aussehen lassen, dann bitte immer her damit! Die großen Triple-A Spiele sehe ich so wie Blockbuster-Spielfilme (deshalb für mich auch bei Saving Private Ryan total okay, wenn der Film nicht akkurat ist). Spielfilm != Dokumentation
Vor kurzem erschien eine Reportage des SWR2 mit dem Titel "Zivilisten in Kriegsspielen". Die Argumentation wäre, dass es in dem Fall authentischer wird, weil man andere Wege geht und am Ende nicht immer ein Produkt herauskommen muss, was Spaß macht. Es geht von der Darstellung von Zivilisten in den Anfängen der Medal-of-Honor-Reihe und Counterstrike zu Spielen wie This War of Mine, Spec Ops und CoD WW2. Die Darstellung des Holocaust wird ebenfalls angesprochen. Wer Andres Reportagen mochte, sollte reinhören.
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