Runde #150: Warum Spiele nie historisch akkurat sein können (aber authentisch)

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Terranigma
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Re: Runde #150 – Warum Spiele nie historisch akkurat sein können

Beitrag von Terranigma »

KingSirus hat geschrieben:Die Frage ist, inwieweit eine wissenschaftliche Definition des Begriffs "akkurat" für die Spieler relevant ist? [...] Und das ist eben eine andere, als die absolut korrekte wissenschaftliche!
Aus dem einen folgt für mein Dafürhalten aber nicht das andere, d.h. die Frage, inwiefern die wissenschaftliche Definition für den Spieler relevant ist, ist nicht damit beantwortet, dass er eine andere Definition für "akkurat" benutzt. Das erscheint mir nicht logisch: "Die wissenschaftliche Definition ist für Spieler nicht relevant, weil sie eine andere Definition haben." Damit ist ja nicht gesagt, warum die wissenschaftliche Definition nicht relevant sein - nur dass sie diese bisher nicht kennen. In der Schule - oder sonstwo - werden Kinder und Jugendliche ja genau deshalb mit ihnen bisher unbekannten Perspektiven konfrontiert, eben damit sie lernen eine neue Perspektive einzunehmen. "Das kenne ich bisher nicht" ist ja kein Argument dafür, dass es nicht relevant sei.

Allgemein ist's allerdings ein Kernanliegen des heutigen Geschichtsunterrichtes an Schulen, Kinder und Jugendliche genau für solche Perspektiven zu sensibilisieren. Der Grund, warum es als relevant erachtet ist, ist ...

... weil Menschen in ihrer Lebzeit sehr oft mit "fertiger Geschichte" zu tun haben werden. Sie werden Spielfilme sehen, die behaupten zu zeigen, wie es "wirklich" war. Sie werden Romane lesen, die vorgeben ein "akkurates" Bild der Vergangenheit zu zeichnen. Sie werden ebenso mit politisch aufgeladenen Diskursen, Inszenierungen und Legitimationen der Gegenwart (!) zu tun haben, die sich aus der Vergangenheit schöpfen ala: "Wegen xyz vor 100 Jahren ist es richtig und wichtig, dass wir auch heute noch xyz tun!" Um mit dieser Art von fertiger Geschichte kritisch umgehen zu können ist es wichtig überhaupt ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was Geschichte eigentlich ist. Eben keine akkurate Abbildung der Vergangenheit, sondern eine Interpretation von Vergangenheit.

Und das erscheint mir wiederum nichts mit Wissenschaftlichkeit zu tun haben im Sinne einer akademischen Betrachtung aus dem Elfenbeinturm. Gerade heutzutage, wo "Fake News" ein derartiges Thema sind, wo Geschichte weiterhin zur Rechtfertigung genutzt wird und wo man bei Videospielen schön erkennen kann, wie unterschiedlich bestimmte Themen in unterschiedlichen Kulturen - z.B. der Umgang mit Krieg in US-Amerikanischen und Deutschen Videospielen - behandelt werden, da scheint mir so eine Sensibilität für Geschichte recht alltagspraktisch.

Und in diesem Kontext sehe ich auch den Diskurs über "historische akkurate Darstellungen" in Videospielen.
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monieu
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Re: Runde #150 – Warum Spiele nie historisch akkurat sein können

Beitrag von monieu »

KingSirus hat geschrieben:Die Frage ist, inwieweit eine wissenschaftliche Definition des Begriffs "akkurat" für die Spieler relevant ist? Ich verstehe natürlich, dass man als Geschichtswissenschaftler hier über die flapsige Behandlung des Wortes eventuell entsetzt sein kann, aber letztendlich muss man bei der Diskussion doch auch bedenken wie die Begrifflichkeiten im Sprachgebrauch der meisten Menschen dort draußen genutzt werden. Und das ist eben eine andere, als die absolut korrekte wissenschaftliche!
Die wissenschaftliche Defintion von "akkurat" ist keine andere als die gebräuchliche. Wenn man erfährt aus Sicht der Geschichtswissenschaft ist diese Darstellung nicht gesichert oder vermutlich falsch, wird keiner sagen, aber in meinem Sprachgebrauch ist sie trotzdem akkurat. Auf der übergeordneten Ebene geht es lediglich um das Verständnis inwiefern der Gegenstand des Fachs sowie die methodischen Möglichkeiten Akkuratheit überhaupt zulassen. Das mag man zunächst für zu abstrakt halten, aber eigentlich ist doch jeder mit den Schwierigkeiten vertraut einen Tatort von vor zwei Tagen zu rekonstruieren, insofern ist die fundamentale Ungewissheit, die sich über weite Teile der Vergangenheit legt, eine vollkommen zumutbare und für die Allgemeinheit taugliche Vorstellung.

Ich glaube aber, man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass die Auseinandersetzung über Akkuratheit sowieso nur eine Nebendiskussion ist. Ich denke jedem ist klar, dass das Spiel sowieso nicht historisch akkurat in einem absoluten Sinn sein kann. - Dieses spielt in einem mitteralterlichen Böhmen und die Menschen sprechen Englisch miteinander. - Es wird nicht intensiv über Akkuratheit gestritten, sondern eigentlich geht es um die politische Diskussion dahinter. Im Kern um die Frage, ist das eine Spielumgebung, die den eigenen politischen Vorstellungen (hier insbesondere Frauenbild, Ethnohomogenität) entspricht, und der Verweis auf die historischen Gegebenheiten nur vorgeschoben, um sie zu rechtfertigen.

Ansonsten sehe ich das eher als ein praktisches Problem: Will man als Journalist oder Werbetreibender immer wieder Grundsatzdiskussionen führen, dann sollte man weiterhin "historisch akkurat" schreiben. Wenn nicht, gibt es viele andere schöne Formulierungen, die man verwenden kann. Und was die Geschichtswissenschaftler betrifft, natürlich ärgern sie sich, wenn sie ein bekanntes Phänomen zum hundersten Male erklären müssen, aber in Wahrheit freuen sie sich doch, wenn sie als Experten gefragt werden. Aus meiner persönlichen Sicht: Diskussionsfortschritt ist immer zu begrüßen.
KingSirus
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Re: Runde #150 – Warum Spiele nie historisch akkurat sein können

Beitrag von KingSirus »

@Terranigma
Ja ich sehe deinen Punkt und muss auch einsehen, dass mein Gedanke einfach zu kurz gedacht war.

Zum Punkt bezüglich des Kernanliegen des heutigen Geschichtsunterrichts: Ich weiß nicht inwieweit heute tatsächlich anders Geschichte unterricht wird, aber aus meiner Schulerfahrung war nie das Bestreben meiner Lehrer mich dafür zu sensibilisieren, dass überlieferte Geschichte Ungenauigkeiten unterlegen sein könnte. Es war eher ein: "So wie ich es euch sage und es im Buch steht, so ist es auch zu 100% gewesen!"

Und ich muss gestehen, dass ich bis zu dieser Folge genau daher nie Informationen zu historischen Umständen groß angezweifelt habe. Allein wie Dom die falsche Darstellung des D-Day beispielsweise in Spielen und Filmen als Beispiel nahm hat mich tatsächlich umgehauen. Man mag mich hier leichtgläubig oder dergleichen schimpfen (sicher auch zu Recht), aber ein bisschen ist mein Weltbild über die Darstellung historischer "Fakten" ins Wanken geraten.

Ich denke aber durchaus weiterhin, dass es eine unterschiedliche Betrachtung der Dinge gibt, die tatsächlich auf ein unterschiedliches Verständnis dieses Wortes zurück zu führen ist. Mein Eindruck im Podcast bei der Argumentation von Dom und einigen Beiträgen in diesem Thread war, dass teilweise akkurat in einem deutlich engeren, detailierteren und kleinteiligeren Verständnis benutzt wurde, als es viele andere in der Diskussion getan hätten.
monieu hat geschrieben:Es wird nicht intensiv über Akkuratheit gestritten, sondern eigentlich geht es um die politische Diskussion dahinter. Im Kern um die Frage, ist das eine Spielumgebung, die den eigenen politischen Vorstellungen (hier insbesondere Frauenbild, Ethnohomogenität) entspricht, und der Verweis auf die historischen Gegebenheiten nur vorgeschoben, um sie zu rechtfertigen.
Letztendlich hast du damit Recht und gleichzeitig frage ich mich, ob diese eigentliche Diskussion zu einem Ergebnis führen kann, da man letztendlich doch immer nur Mutmaßung anstellen kann ob es so ist oder nicht. Die einzigen die diese Frage entgültig aufklären könnten, werden dies vermutlich nicht tun. Denn wenn die ehrliche Antwort "Ja" lauten müsste, werden es die Entwickler (oder die Teile, die diese politischen Vorstellungen hegen) mitnichten zugeben.

Grüße Sirus
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Terranigma
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Re: Runde #150 – Warum Spiele nie historisch akkurat sein können

Beitrag von Terranigma »

KingSirus hat geschrieben:Zum Punkt bezüglich des Kernanliegen des heutigen Geschichtsunterrichts: Ich weiß nicht inwieweit heute tatsächlich anders Geschichte unterricht wird, aber aus meiner Schulerfahrung war nie das Bestreben meiner Lehrer mich dafür zu sensibilisieren, dass überlieferte Geschichte Ungenauigkeiten unterlegen sein könnte. Es war eher ein: "So wie ich es euch sage und es im Buch steht, so ist es auch zu 100% gewesen!"
Ich kann zumindest aus eigener Erfahrung sagen: in der Geschichtswissenschaft und dem Unterricht hat sich diesbezüglich manches verändert in den letzten Jahren. Das Ideal und Ziel liegt offiziell darin, den Heranwachsenden ein "Geschichtsbewusstsein" zu vermitteln, d.h. Geschichte nicht als Meistererzählung dessen zu inszenieren, wie es "damals wirklich war." Gerade auch die Dekonstruktion von fertiger Geschichte - z.B. Nachprüfen auf welchen Quellen sich eine Geschichtsdarstellung stützt, aus wessen Perspektive sie erzählt wird, was alles nicht erzählt wird, usw. - steht als Aufgabe in den meisten schulischen Lehrplänen drin. Das ist vergleichsweise neu und ich gehe stark davon aus, dass gerade ältere Kollegen auch noch Geschichte so unterrichten wie sie es vor 30 Jahren taten. Aber es ändert sich etwas - langsam.

Und in diesem Zusammenhang ist die Diskussion über das Wörtchen "Akkuratheit" oder der "historischen Korrektheit" in KC:D sogar relativ nah an dem dran, was heutzutage im Geschichtsunterricht läuft oder gemäß Lehrplan zumindest laufen sollte. Im Idealfall - der so wohl nicht überall gegeben ist - sollten gerade jüngere Zuhörer bei der Podcast-Episode nickend da sitzen und sagen: "Das kenn ich doch schon alles aus der Schule." Die Realität wird natürlich eher öfters als selten eine andere sein. :D
KingSirus hat geschrieben:[...], dass teilweise akkurat in einem deutlich engeren, detailierteren und kleinteiligeren Verständnis benutzt wurde, als es viele andere in der Diskussion getan hätten.
"Akkurat" meint ja in der Regel "den Fakten entsprechend." Die Krux bei der Geschichtsschreibung liegt aber genau darin, dass Fakten ausgewählt, in Zusammenhänge gesetzt, interpretiert und bewertet werden müssen. Und genau an diesen Punkten, wo Menschen eigene Lesarten anstellen, da entstehen die Diskussionen und Streits.

Mal als spielefremdes Beispiel, weil ich es so schön finde: über den Falklandkrieg (1982) zwischen Großritannien und Argentinien schreibt die englischsprachige Wikipedia über die Invasion der Falklandinseln, dass es eine "Invasion" sei. Diese Wikipedia-Seite wurde wohl von und für Engländer verfasst, d.h. in England wird die Militäraktion von Argentinien als "Invasion" wahrgenommen - und "Invasionen" haben einen negativen Beigeschmack. Auf der spanischsprachigen Wikipedia-Seite desselben Artikels fällt das Wort "Invasion" nirgends, stattdessen wird gesagt, dass es um die "Rückeroberung" ging.

Aus englischer Perspektive ist also Argentinien der Aggressor, der eine "Invasion" gestartet hat, und das Vorgehen Argentiniens wird als aggressiv und illegitim dargestellt. Aus argentinischer Perspektive hat man hingegen nur das "zurückerobert", was einem "eigentlich" gehört, wodurch das eigene Vorgehen legitimiert wird. Ein und dasselbe Ereignis, aber zwei völlig verschiedene Lesarten.
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