Runde #173: Warum Entwickler nicht frei sprechen können

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xaan
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Re: Runde 173

Beitrag von xaan »

Feamorn hat geschrieben: 3. Aug 2018, 10:10Deine Aussage impliziert aber, dass man einen James Gunn dann automatisch mit dem "Bösewicht" gleichsetzen muss [...]
Ich unterstelle, dass Disney das tut. Und dass ihnen seine Reue dabei egal ist. Ein echter Disney-Bösewicht zeigt keine Reue - und falls doch, ist er nicht der hauptsächliche Antagonist, sondern eigentlich ein versteckter "guter".
Ja, es gibt regelbestätigende Ausnahmen.

Wenn wir die Analogie mit den Filmen denn bedienen müssen (fraglich ob sie überhaupt zutrifft).

Andererseits: wenn wir denn schon solche Vergleiche herstellen, dann wäre DIsney selbst ein heißer Kandidat für die Rolle des Bösewichts in einem ihrer eigenen Filme. :D
Roemisch12
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Re: Runde 173

Beitrag von Roemisch12 »

monieu hat geschrieben: 2. Aug 2018, 20:44 Grundsätzlich eine interessante Idee aber eine Frage der Reichweite.
Wenn Electronic Arts oder Ubisoft so ein Begegnungsforum für Spieler und Entwickler aller Titel ihres Portfolio aufsetzen würde, gäbe es sicherlich viel Aufmerksamkeit dafür. Selbst eine große Gruppe von Indieentwicklern, die sich zusammenfinden, wäre bei Reddit wahrscheinlich immer noch deutlich sichtbarer als mit einem eigenen Forum.
Kommt halt drauf an was man für Absichten hat. Ich glaube nicht, dass es bei Themen zur Spieleentwicklung nötig ist das gesamte Internet anzusprechen, oder riesige Multi-Purpose Plattformen wie reddit zu nutzen. Dazu ist das Thema wohl zu sehr Nische.
monieu hat geschrieben: 2. Aug 2018, 20:44 Die Diskussion in Foren kann auch viel stärker geregelt werden, wobei man die gängigen Lösungen dafür vermutlich weiterentwickeln müsste. Sagen wir eine Forensoftware, die ein Debattierformat umsetzt.
Muß ja nicht mal ein Forum im klassischen Sinne sein. Vielleicht braucht es für so ein Vorhaben auch eine komplett neue Software. Allgemein und abstrakt formuliert wäre meine Idee folgende: In einer gemeinsamen, selbstkontrollierten Umgebung im Internet haben Entwickler die Möglichkeit ihre Berichte, Entwicklertagebücher, etc. einzustellen und mit interessierten Lesern zu diskutieren oder eben auch nicht. Je nach Wunsch.
Die Plattform müsste allerdings einen neutralen Betreiber haben und keinen Publisher oder Entwickler. Vielleicht einen Game-Verband?

Ziel soll es dabei eben sein, die Zielgruppe mitzunehmen (auch über Hinweispostings über Twitter, wie es z.B. bei Youtube möglich ist einzustellen) und die breite Masse eher nicht zu behelligen. Innerhalb der Zielgruppe müsste man an Anfang sicherlich noch mal aussieben. Würde nicht annehmen dass jeder in dieser Zielgruppe vernünftig und höflich ist :D
Coti86
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Re: Runde 173

Beitrag von Coti86 »

Interessant ist in dem Zusammenhang mit James Gunn ist auch, dass dieser direkt vom Mutterkonzern Walt Disney Company gefeuert wurde. Also weder von Marvel Studios, noch von Walt Disney Studios. Soweit ich informiert bin, ist so ein direkter Eingriff in die Personalie von ganz oben sehr ungewöhnlich. Er scheint sich wohl wirklich die falschen Feinde gemacht zu haben.
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Dr.Soltberg
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Re: Runde 173

Beitrag von Dr.Soltberg »

Vielen Dank für diese Sonntagsfolge, zu diesem - wie ich finde - durchaus wichtigen Thema.
Ich stimme in einigen Punkten nicht zu 100% überein, werde aber hoffentlich in der Lage sein, mich zu erklären ohne jemandem zu nahe zu treten.

1. Das Thema ist relevant und berichtenswert, weil es Teil der öffentlichen Meinung ist. Verbreitete kommunikationswissenschaftliche Ansichten gehen davon aus, dass die für die Öffentlichkeit relevanten Themen durch die Massenmedien und Berichterstattung konstituiert werden. Das kann man gut oder schlecht finden, jedenfalls würde das bedeuten, dass eine relevante Nachricht erst durch den derzeitigen Zustand des Nachrichtennetzwerks einer Gesellschaft ausgehandelt wird. Das Paradoxe daran: Obwohl Andre und Jochen beklagen, dass unangemessen viel über solch unangenehme Themen berichtet wird, verstärken sie den Effekt durch ihre eigene Berichterstattung. Das wissen sie selbstverständlich bereits, sind aber trotzdem zu dem Schluß gekommen, dass es wichtig und richtig ist, diese Folge aufzunehmen.

2. Das Verhalten von Jessica Price finde ich mehr als unangemessen. Die Anzahl an hasserfüllten und beleidigenden Tweets, die jedwede Norm des sozialen Anstands verletzen finde ich schier unerträglich. Es liegt mir fern, diese Frau nur als Opfer eines hasserfüllten Lynchmobs zu begreifen, der andere und insbesondere weibliche Stimmen zum Schweigen bringen will und deren Geduldsfaden infolge ständiger Provokation irgendwann gerissen ist, was ich für einen bemerkenswerten hermeneutischen Aufwand halte um dieses unentschuldbare Verhalten zu entschuldigen. Immerhin weisen zahlreiche auf ihrem Twitteraccount getätigte Aussagen auf die Art und Weise des Umgangs hin, die Price im Internet pflegt. Das Verhalten des Studios zu beurteilen ist meines Erachtens schon schwieriger. Sollte Price eine ähnlich höfliche Kommunikationsform im Büro aufgewiesen haben, kann ich nachvollziehen, wieso der Arbeitgeber nicht lange gezögert hat, aber das ist ebenfalls nur Spekulation.

3. Das Recht auf Diskursteilnahme: Was mich wirklich traurig macht, ist die Art und Weise mit der Price versucht, anderen (insbesondere männlichen) Diskutanten die Teilnahme am Diskurs zu verbieten. Das geschieht zum einen über die Identifikation als unterdrückte Frau gegenüber erklärungssüchtigen Männern -das Phänomen Mansplaining finde ich im Übrigen nicht besonders überzeugend-, zum anderen über einen Ausschluss aller "äußeren" Personen. Wie würde wohl der Spielejournalismus darauf reagieren, wenn ihm, ähnlich der "männlichen" Community in diesem Fall jedes mal vorgeworfen würde: "Schon wieder ahnungslose Besserwisser, die glauben, sie könnten mir erklären, wie ich meinen Job zu machen habe!" Ist das ein legitimes Argument? Ich denke nicht und plädiere für Redefreiheit und das Recht auf Diskursteilnahme jedes Einzelnen, sonst kann man doch auch nichts lernen. Es ist ja nicht so, als hätte ein Spieler Price befohlen auf eine bestimmte Art und Weise zu arbeiten. Was ich damit sagen will: Nicht allein der Hetzmob von 4chan und Reddit versucht hier, Leute an der Rede zu hindern, sondern Price tut es meines Erachtens selbst auf eine reichlich unfaire Art und Weise.

4. Die Ausführungen zu Petersen spare ich mir an dieser Stelle. Nur soviel: Die Frage, ob es sich bei diesem Wissenschaftler um Täter oder Opfer handelt, lässt sich lange und ausgiebig diskutieren. Ich bin da persönlich noch zu keinem Schluß gelangt, wenngleich ich vielen seiner Positionen widersprechen würde.

So, ich hoffe, meine Gedanken wirken auf den Einen oder Anderen nicht vollkommen abwegig. Ich wünsche allen willkommenen Diskutanten in diesem Thread jedenfalls einen tollen Start in die Woche!
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jensscholz
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Re: Runde 173

Beitrag von jensscholz »

Ein Gedanke, den Jochen in der Folge ausformulierte war, dass Social Media ungeeignet für die Diskussion von Themen sei, in denen viele Meinungen aufeinanderprallen, weil es grundsätzlich ausartet und eskaliert weil eine kleine Minderheit gefühlt die Diskussion übernimmt und dadurch "Macht" bzw Deutungshoheit über Firmen und Menschen gewinnt. Das möchte ich (da ich das beruflich mache quasi aus Profisicht) gerne ergänzen, indem ich mal erläutere, warum das so ist. Der Grund liegt nämlich in der Mechanik von Social Media Plattformen:

Die Plattformen haben ihre User Experience so konstruiert, dass sie vor allem Interaktionen hervorhebt und möglichst viele neue erzeugt. Das ist zunächst auch ganz logisch und nachvollziehbar, aber so wie sie es tun, führt das inzwischen dazu, dass der Dissens massiv amplifiziert wird und der Konsens als reiner Statistikwert als kleine Zahl (Likes oder Herzchen) fast unsichtbar bleibt - er führt natürlich zu Reichweite, daher sind die "Likes" und Herzchen und Sternchen trotzdem wichtig. Aber: Der Konsens ist am Ende immer nur eine zusammengefasst Zahl, jeder Dissens wird dagegen einzeln angezeigt und jeder davon hat einen individuellen Namen. Du bekommst per Mail eine Notification und sollst reagieren, obwohl es am Ende nur ein winziger Bruchteil der Reaktionen ist.

Die "wir zeigen Dir das, was relevant ist" Mechaniken der Social Media Plattformen, wozu auch die von Facebook eingeführte Vorauswahl der angezeigten Inhalte gehört, die die frühere diskriminierungsfreie, weil schlicht nach absteigender Aktualität sortierte Reihenfolge abgelöst hat, haben unsere Timelines mit steigender Nutzerzahl in gefühlte Schlachtfelder verwandelt.

Wenn ihr mehr darüber lesen möchtet, ich habe dazu auch einen längeren Artikel geschrieben, in dem ich das auch an Hand eines Testtweets aufzeige, den ich vor einiger Zeit mal abgesetzt habe um genau das mal zu demonstrieren:
https://jensscholz.ghost.io/wie-man-das ... zu-werden/.

Viele Grüße und weiter so!
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Andre Peschke
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Re: Runde 173

Beitrag von Andre Peschke »

jensscholz hat geschrieben: 9. Aug 2018, 17:47 führt das inzwischen dazu, dass der Dissens massiv amplifiziert wird und der Konsens als reiner Statistikwert als kleine Zahl (Likes oder Herzchen) fast unsichtbar bleibt
Das heißt, deine These ist: Der Versuch der Social-Media-Plattformen mehr Harmonie zu schaffen, indem sie nur positive Reaktionen via Likes / Emotes zulassen hat dazu geführt, dass jeder der negativ reagieren will zum Kommentar gezwungen wird (oder zumindest überproportional oft), weil ihm kein gleichwertiges Tool zur Verfügung steht (wie ein Downvote)?

Zumindest interessanter Gedanke. Wobei die Downvotes Reddit auch nicht vor solchen Diskussionsverläufen schützen. ^^

Andre
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XfrogX
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Re: Runde 173

Beitrag von XfrogX »

Glaube auch ein Problem ist, Zustimmung ist halt einfach ja oder nein. Aber sobald man nicht zustimmt beginnt das Problem, die Frage nach dem warum kommt.

Deswegen hat YouTube ja auch ein Problem mit downvotes. Also zumindest bei kleineren Projekten. Keiner weiß warum bekommt er die. Schlechte Qualität, falsche Inhalte oder mag der Zuschauer nur den Inhalt selber nicht?

Das ist auch beim reddit der Fall, die einen voten runter weil ihnen der Inhalt nicht passt andere wegen dem Ton wieder andere einfach weil sie finden es gibt einen besseren Beitrag mit der selben Meinung ...

Ich denke die Bewertung müsste entweder vielfältiger werden mit nem Klick oder man sollte ganz darauf verzichten und wie in einem Forum agieren. Aber das braucht dann viel Moderation. Was die großen nicht leisten können, und viele kleine schnell nicht mehr bewältig bekommen.

Außerdem gibt’s doch noch irgendeinen Effekt das man immer sich aufschaukelt weil man in einer Gruppe altzeptiert werden will und dafür gefühlt immer noch die Stufe härter dafür Eintritt. Komme aber gerade Weder auf den Namen vom Effekt noch kann ich’s richtig formulieren.

Man merkt auch schön wenn man Leute oder Projekten folgt wie es irgendwann kippt. Meistens so bis 800 oder 1000 Leuten bleibt es sehr positiv jeder will unterstützen und alle bleiben fair und dann kommt der Punkt wo immer irgendwer was zu meckern hat und das macht dann den Projekten zu schaffen, die Stimmung wird blöder usw.

Daher großen Respekt dafür wie ihr das geschafft habt und viel Kraft und Energie um das weiter so zu erhalten.
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philoponus
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Re: Runde 173

Beitrag von philoponus »

Kann da jemand beim Betreff für die älteren vergesslichen Menschen hier bitte einmal das Thema ergänzen?

Danke höflichst :clap:
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jensscholz
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Re: Runde 173

Beitrag von jensscholz »

Andre Peschke hat geschrieben: 9. Aug 2018, 20:49
jensscholz hat geschrieben: 9. Aug 2018, 17:47 führt das inzwischen dazu, dass der Dissens massiv amplifiziert wird und der Konsens als reiner Statistikwert als kleine Zahl (Likes oder Herzchen) fast unsichtbar bleibt
Das heißt, deine These ist: Der Versuch der Social-Media-Plattformen mehr Harmonie zu schaffen, indem sie nur positive Reaktionen via Likes / Emotes zulassen hat dazu geführt, dass jeder der negativ reagieren will zum Kommentar gezwungen wird (oder zumindest überproportional oft), weil ihm kein gleichwertiges Tool zur Verfügung steht (wie ein Downvote)?

Zumindest interessanter Gedanke. Wobei die Downvotes Reddit auch nicht vor solchen Diskussionsverläufen schützen. ^^
Was ich mal ausklammere ist das Thema "schriftlich klingt alles erst mal wie Gemotze" - das kennen wir glaube ich seit Menschen auf Messageboards scheiben, das Usenet und Foren nutzen oder eben inzwischen Social Media Plattformen. :)

Reddit hat ein generell anders Konzept, weil die Boards dort ja schon mal rein themenbezogen sind und auch die Administration und Verwaltung wesentlich individualisierbarer ist (dh die Boardadmins haben es jeweils in der hand, wie scharf oder harmonisch es auf den von ihnen verwalteteten Boards zugeht). Die "Filterbubbles" sind jedenfalls dort wesentlich homogener, was auch den Blick darauf einfacher macht, denn ein hochtoxisches Incel-Board muss man schon bewusst betreten, da flattert nicht wie bei Facebook plötzlich mal irgendein ausländerfeindliches Gehate über die Timeline, weil ein Freund dort protestiert hat und Facebook meint, dass dich ja sicher auch interessiert, womit sich Freunde von Dir "engagieren".

Das Problem bei so heterogenen (und gewachsenen) UX-Konglomeraten wie FB ist halt auch, dass sich da unterschiedliche Ziele beißen. Wie Du schreibst: Dass man versucht, über die schnelle Klickreaktion vor allem "positives" Feedback zu erzeugen führt dazu, dass Nutzer nicht mehr "Ja, genau!" oder "Volle Zustimmung" oder "Richtig" schreiben müssen. Wenn sie aber widersprechen wollen, können sie das wiederum eben nicht per schnellem Klick sondern sind quasi gezwungen, einen Kommentar zu schreiben (das Kotz-Emoji im Kommentar ersetzt ja oft genug den fehlenden entsprechenden Reaktions-Smiley).

Dh wir haben - übrigens dadurch, dass FB kein Sentiment einschätzen kann, sprich die Stimmung und Motivation für eine Interaktion jenseits des Like-Buttons erkennen kann - zum einen das Problem, dass wir ständig Inhalte sehen, die uns stressen (weil wir eben _nicht_ vorbereitet sind auf Hateposts, weil wir im Gegensatz zu reddit keine bewusste Entscheidung treffen, uns das mal anzusehen) und zum anderen die asynchrone Reaktionsmechanik. Das ist aber noch nicht alles.

Ein weiteres Problem sind unterschiedliche Auffassungen darüber, was Plattformen eigentlich sind, erschwerend kommt dazu, dass sie sich auch noch über die Jahre ständig verändern. Facebook - um mal dabei zu bleiben - war eine Studentencommunity und entsprechende "Funktionen" hatte es mal (anstupsen, Hot or Not, Funboards, ...), die in einer homogenen Peergroup verstanden werden, aber sobald die Großeltern auch auf Facebook auftauchten, verschwanden all diese Dinge sehr schnell bzw wurden versteckt. Dafür kamen plötzlich Medien, "Influencer", Werbetreibende, Firmen. Leute, die Nutzern gegenüber Ansprüche und Forderungen stellten - das sind alles Stressfaktoren, die es nicht gibt, solange man das Gefühl hat "unter sich" zu sein. Lustigerweise ist das alles nicht neu - vielleicht erinnert sich der ein oder andere ja daran, als AOL und T-Online Nutzer plötzlich in Massen im Usenet auftauchten.

Das nächste Problem ist die "kritische Masse". Es gibt m.E. für jede Plattformtechnik eine kritische Masse, bis zu der sie funktioniert und ab der man sich nur noch wie in einem überfüllten Zugwaggon fühlt. Ich hab schon mal versucht, das super kompakt zusammenzufassen (sorry, ist trotzdem ein bisschen Text):

Am Anfang waren Messageboards und Mailinglisten. Die wurden unübersichtlich, sobald mehr als - sagen wir - 200 Menschen in einer Gruppe schrieben. Außerdem war der Punkt, an dem einzelne Nutzer ein ganzes Board vergiften und unbrauchbar machen konnte, sehr schnell erreicht. Es ist kein Wunder, dass der Begriff "Troll" in dieser Zeit entstand.

Danach gab es Forensysteme, in denen eine Nutzerverwaltung eingeführt wurde und damit den Teilnehmern verschiedenen Tools und technische Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden konnten, um sich besser in der Informationsmenge zurecht zu finden. Das erhöhte die kritische Masse von 200 auf - ich würde mal schätzen je nach Aufwand in die Struktur und die Moderation - 5-10.000 Menschen.

Es gab dann für eine Weile ein dezentrales Netz aus Blogs: Kleine Blognetzwerke aber vor allem unzählige einzelne Blogs, die auf viele unterschiedliche Arten miteinander vernetzt waren. Es gab viele Blogger, die schrieben und noch viel mehr Leser, die kommentierten. Was das interessante daran war: Es gab nicht das eine Netzwerk für alle, sondern jede/r Einzelne formte sich sein eigenes Netz. So war eine wesentlich losere, aber auch eine viel breitere Öffentlichkeit miteinander verbunden, ob sie es merkte oder nicht. Als Blogger merkte man die potenzielle Reichweite zuweilen, wenn ein Blogeintrag plötzlich nicht mehr wie üblich 800 mal sondern plötzlich 20.000 mal - und zuweilen sogar hunderttausendfach aufgerufen wurde. Wir haben und hier also ein Vernetzungssystem geschaffen, das eine sechsstellige Menge an Menschen miteinander in Verbindung brachte.

Dann kamen die großen zentralen sozialen Netzwerke, von denen zum heutigen Zeitpunkt Twitter und Facebook die Führungsrolle übernommen haben: Beide übernehmen unterschiedliche Aufgaben, aber was sie beide konnten war, eine bislang unmöglich große Menge an NutzerInnen aufnehmen und miteinander verknüpfen. Facebook hat es dabei besser geschafft, die Latte für die kritische Masse zu erhöhen, indem es Algorithmen nutzte, um die Informationsflut nach Relevanz zu filtern. Ob das mit der Relevanz erfolgreich war, sei dahingestellt, was aber gelang war, die Menge der Interaktionen auf ein persönlich verträgliches Maß zusammenzustutzen. Aber seit einer guten Weile gerät auch Facebook an die Grenze des Möglichen. Hatemobs, Fakenews, Polarisierung, die unverhältnismäßige Lautstärke von aggressiven Nutzern und der Rückzug der Moderaten Stimmen wird immer deutlicher sichtbar und Facebook hat offensichtlich kein Rezept mehr, dem beizukommen und mit einigen Millionen Nutzern die - wie ich meine für ein zentrales Netzwerk - kritische Masse erreicht.
(Wen der gesamte Text interessiert: https://jensscholz.ghost.io/ello-mastodon-2/. Sorry für evtl. etwas viel Text, ich mach das beruflich und freue mich einfach, dass ihr differenzierter seid und nicht einfach nur das "Social Media ist Scheiße"-Lied singt.)
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