Andre Peschke hat geschrieben: ↑9. Aug 2018, 20:49
jensscholz hat geschrieben: ↑9. Aug 2018, 17:47
führt das inzwischen dazu, dass der Dissens massiv amplifiziert wird und der Konsens als reiner Statistikwert als kleine Zahl (Likes oder Herzchen) fast unsichtbar bleibt
Das heißt, deine These ist: Der Versuch der Social-Media-Plattformen mehr Harmonie zu schaffen, indem sie nur positive Reaktionen via Likes / Emotes zulassen hat dazu geführt, dass jeder der negativ reagieren will zum Kommentar gezwungen wird (oder zumindest überproportional oft), weil ihm kein gleichwertiges Tool zur Verfügung steht (wie ein Downvote)?
Zumindest interessanter Gedanke. Wobei die Downvotes Reddit auch nicht vor solchen Diskussionsverläufen schützen. ^^
Was ich mal ausklammere ist das Thema "schriftlich klingt alles erst mal wie Gemotze" - das kennen wir glaube ich seit Menschen auf Messageboards scheiben, das Usenet und Foren nutzen oder eben inzwischen Social Media Plattformen.
Reddit hat ein generell anders Konzept, weil die Boards dort ja schon mal rein themenbezogen sind und auch die Administration und Verwaltung wesentlich individualisierbarer ist (dh die Boardadmins haben es jeweils in der hand, wie scharf oder harmonisch es auf den von ihnen verwalteteten Boards zugeht). Die "Filterbubbles" sind jedenfalls dort wesentlich homogener, was auch den Blick darauf einfacher macht, denn ein hochtoxisches Incel-Board muss man schon bewusst betreten, da flattert nicht wie bei Facebook plötzlich mal irgendein ausländerfeindliches Gehate über die Timeline, weil ein Freund dort protestiert hat und Facebook meint, dass dich ja sicher auch interessiert, womit sich Freunde von Dir "engagieren".
Das Problem bei so heterogenen (und gewachsenen) UX-Konglomeraten wie FB ist halt auch, dass sich da unterschiedliche Ziele beißen. Wie Du schreibst: Dass man versucht, über die schnelle Klickreaktion vor allem "positives" Feedback zu erzeugen führt dazu, dass Nutzer nicht mehr "Ja, genau!" oder "Volle Zustimmung" oder "Richtig" schreiben müssen. Wenn sie aber widersprechen wollen, können sie das wiederum eben nicht per schnellem Klick sondern sind quasi gezwungen, einen Kommentar zu schreiben (das Kotz-Emoji im Kommentar ersetzt ja oft genug den fehlenden entsprechenden Reaktions-Smiley).
Dh wir haben - übrigens dadurch, dass FB kein Sentiment einschätzen kann, sprich die Stimmung und Motivation für eine Interaktion jenseits des Like-Buttons erkennen kann - zum einen das Problem, dass wir ständig Inhalte sehen, die uns stressen (weil wir eben _nicht_ vorbereitet sind auf Hateposts, weil wir im Gegensatz zu reddit keine bewusste Entscheidung treffen, uns das mal anzusehen) und zum anderen die asynchrone Reaktionsmechanik. Das ist aber noch nicht alles.
Ein weiteres Problem sind unterschiedliche Auffassungen darüber, was Plattformen eigentlich sind, erschwerend kommt dazu, dass sie sich auch noch über die Jahre ständig verändern. Facebook - um mal dabei zu bleiben - war eine Studentencommunity und entsprechende "Funktionen" hatte es mal (anstupsen, Hot or Not, Funboards, ...), die in einer homogenen Peergroup verstanden werden, aber sobald die Großeltern auch auf Facebook auftauchten, verschwanden all diese Dinge sehr schnell bzw wurden versteckt. Dafür kamen plötzlich Medien, "Influencer", Werbetreibende, Firmen. Leute, die Nutzern gegenüber Ansprüche und Forderungen stellten - das sind alles Stressfaktoren, die es nicht gibt, solange man das Gefühl hat "unter sich" zu sein. Lustigerweise ist das alles nicht neu - vielleicht erinnert sich der ein oder andere ja daran, als AOL und T-Online Nutzer plötzlich in Massen im Usenet auftauchten.
Das nächste Problem ist die "kritische Masse". Es gibt m.E. für jede Plattformtechnik eine kritische Masse, bis zu der sie funktioniert und ab der man sich nur noch wie in einem überfüllten Zugwaggon fühlt. Ich hab schon mal versucht, das super kompakt zusammenzufassen (sorry, ist trotzdem ein bisschen Text):
Am Anfang waren Messageboards und Mailinglisten. Die wurden unübersichtlich, sobald mehr als - sagen wir - 200 Menschen in einer Gruppe schrieben. Außerdem war der Punkt, an dem einzelne Nutzer ein ganzes Board vergiften und unbrauchbar machen konnte, sehr schnell erreicht. Es ist kein Wunder, dass der Begriff "Troll" in dieser Zeit entstand.
Danach gab es Forensysteme, in denen eine Nutzerverwaltung eingeführt wurde und damit den Teilnehmern verschiedenen Tools und technische Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden konnten, um sich besser in der Informationsmenge zurecht zu finden. Das erhöhte die kritische Masse von 200 auf - ich würde mal schätzen je nach Aufwand in die Struktur und die Moderation - 5-10.000 Menschen.
Es gab dann für eine Weile ein dezentrales Netz aus Blogs: Kleine Blognetzwerke aber vor allem unzählige einzelne Blogs, die auf viele unterschiedliche Arten miteinander vernetzt waren. Es gab viele Blogger, die schrieben und noch viel mehr Leser, die kommentierten. Was das interessante daran war: Es gab nicht das eine Netzwerk für alle, sondern jede/r Einzelne formte sich sein eigenes Netz. So war eine wesentlich losere, aber auch eine viel breitere Öffentlichkeit miteinander verbunden, ob sie es merkte oder nicht. Als Blogger merkte man die potenzielle Reichweite zuweilen, wenn ein Blogeintrag plötzlich nicht mehr wie üblich 800 mal sondern plötzlich 20.000 mal - und zuweilen sogar hunderttausendfach aufgerufen wurde. Wir haben und hier also ein Vernetzungssystem geschaffen, das eine sechsstellige Menge an Menschen miteinander in Verbindung brachte.
Dann kamen die großen zentralen sozialen Netzwerke, von denen zum heutigen Zeitpunkt Twitter und Facebook die Führungsrolle übernommen haben: Beide übernehmen unterschiedliche Aufgaben, aber was sie beide konnten war, eine bislang unmöglich große Menge an NutzerInnen aufnehmen und miteinander verknüpfen. Facebook hat es dabei besser geschafft, die Latte für die kritische Masse zu erhöhen, indem es Algorithmen nutzte, um die Informationsflut nach Relevanz zu filtern. Ob das mit der Relevanz erfolgreich war, sei dahingestellt, was aber gelang war, die Menge der Interaktionen auf ein persönlich verträgliches Maß zusammenzustutzen. Aber seit einer guten Weile gerät auch Facebook an die Grenze des Möglichen. Hatemobs, Fakenews, Polarisierung, die unverhältnismäßige Lautstärke von aggressiven Nutzern und der Rückzug der Moderaten Stimmen wird immer deutlicher sichtbar und Facebook hat offensichtlich kein Rezept mehr, dem beizukommen und mit einigen Millionen Nutzern die - wie ich meine für ein zentrales Netzwerk - kritische Masse erreicht.
(Wen der gesamte Text interessiert:
https://jensscholz.ghost.io/ello-mastodon-2/. Sorry für evtl. etwas viel Text, ich mach das beruflich und freue mich einfach, dass ihr differenzierter seid und nicht einfach nur das "Social Media ist Scheiße"-Lied singt.)