Soulaire hat geschrieben: ↑2. Sep 2019, 23:18
wirklich jeder kann sich eine Begründung aus den Finger saugen. Du kannst auch sagen dass du ein Spiel schlecht bewertest, weil du danach schlecht geschlafen hast. -ist auch eine Begründung.
Diese Art von Kritik ist für das Medium allerdings komplett wertlos und es entwertet auch den Begriff der "Kritik" enorm.
Ich frage mich grade, wieviele Kritiken Du tatsächlich kennst. Mal Filmkritiken von Harry Rowohlt gelesen? Theaterkritiken über - nach Ansicht des Kritikers - schlechte Vorstellungen? Musikkritiken im Rolling Stone? Kritiken sind
immer hochgradig subjektiv.
Mal paar (willkürlich gewählte, weil im Kopf ohne große Recherche präsente) Schmankerl aus anderen Disziplinen:
"Die gute Nachricht gleich vorweg: W. Houston hat ihr bislang bestes Alkbum aufgenommen. Die schlechte: Es taugt nicht viel." (Rolling Stone)
"Nehmen wir mal an, Bon Jovi ist Ihre Lieblingsband. [Ganze Spalte, weshalb das neue Album trotzdem nicht gekauft werden sollte.] Ach, Bon Jovi ist gar nicht Ihre Lieblingsband? Dann hat sich die Sache ja eh erledigt." (Rolling Stone)
".. die als Faust und Mephisto verkleideten O. W. Fischer und Will Quadflieg.." (legendärer Verriss über eine Tourneeaufführung von Goethes Faust)
Und mein Liebling: Ein Kritiker bespricht eine "Minna von Barnhelm", schreibt mehrere Abteilung über die verschiedenen Aufführungsbestandteile, also Bühnenbild, Licht und so weiter, am Ende jeden Absatzes schreibt er nur immer "Nur ein eiserner Ofen vorn am Bühnenrand hat gestört", "Aber der eiserne Ofen war im Weg" und so weiter. Der letzte Satz der Kritik lautet "Der eiserne Ofen war Werner Hinz".
Kritik muss eben nicht fair sein. Das unterscheidet sie fundamental vom Produkttest. Und deshalb gibt es bislang auch praktisch keine (deutsche) Spielekritik - ThePod und die WASD sind die einzigen mir bekannten, die tatsächlich mal mehr, mal weniger in die Richtung gehen. Andrés legendäre "0 Euro"-Empfehlungen für große AAA-Titel kommen der Sache schon sehr nahe, auch Dominiks Kritik zu "Shadow of the Tomb Raider" ist tatsächliche Kritik. Da der Mann sich standhaft weigert, immer den Aspekt "..für ein Spiel" mitzudenken, sondern tatsächlich das Medium an und für sich mal in Frage stellt. Für diese Momente bekommt ThePod im Forum dann aber auch immer gehörig auf den Sack.
Kritik darf alles. Und der Konsument der Kritik darf dann entscheiden, ob er dem Kritiker in seiner Argumentation folgt oder es komplett anders sieht. Kritik ist aber - wie André irgendwo neulich auch gesagt hat - auch nicht in allererster Linie Kaufberatung. Sondern nichts anderes als die Meinung eines Menschen, der sich mit dem Medium an und für sich auskennt und erschienene Gattungsvertreter subjektiv bewertet.
Das, was 4players mit "PastCure" gemacht hat, war ein Verriss allererster Güte. Und in jeder anderen Kunstsparte wär das absolut okay gewesen - man hätte danach darüber diskutiert, man hätte einzelne Kritikpunkte hinterfragt, man hätte unter Umständen den Kritiker einen arroganten Volltrottel genannt. All das ist legitim, all das
wollen Kritiker vermutlich. Aber es wäre nie die Diskussion entstanden, ob eine Kritik
so sein darf. Darf sie.
Edit: Und das ist aus einem guten Grund legitim: Denn es gibt in den seltensten Fällen nur
einen Kritiker. Nur sind in allen anderen Kunstbereichen Kritiker eben viel unterschiedlicher in ihren Bewertungen als die Spielepresse. Ein Kritiker mag eine Theatervorstellung verreissen, ein anderer dieselbe Vorstellung über den grünen Klee loben. Und - lustigerweise - sogar aus denselben Gründen. Als Künstler ist es dann meine Aufgabe, aus den Kritiken das mitzunehmen, was mir plausibel erscheint.
Das bringt ein Medium voran. Nicht die Produkttesterei einer Gamestar, die letztlich einzelne Checkpunkte abhakt und dann jedem Spiel, das technisch up to date ist und nicht absolut menschenverachtend ist, ne 85 drunter schreibt. Solang Spiele so "kritisiert" werden, darf Spieler sich auch nicht beschweren, dass grad die großen Publisher seelenlosen Einheitsbrei auf den Markt werfen. Denn sie wissen genau -
damit bekommen sie die guten Wertungen.
Edit2: Und um auf Dein Beispiel einzugehen: Sollte ein Machwerk einen Kritiker so sehr verstören, dass er danach wirklich nicht schlafen kann, dann ist das selbstverständlich ein Punkt, der in einer Kritik auftauchen darf, sogar die Kernaussage der Kritik bestimmen darf.