Cthalin hat geschrieben: ↑2. Jul 2020, 11:47
Asphyx hat geschrieben: ↑2. Jul 2020, 10:50
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Das liest sich für mich als würdest du das Spiel höher bewerten wollen, weil die Mitbewerber auf dem selben Genre/Gebiet eben nicht so gut seien. Aber das ist doch der falsche Ansatz. Diese "Vergleichbarkeit" unter Spielen ist doch der Unsinn weshalb die Zahlen im Wertungskasten immer steigen mussten, anstatt dass man jedes Spiel als Produkt seiner Zeit nur für sich wertet.
Puh, da betreten wir jetzt schwieriges Territorium, das ich mal grob als "(angeblich) objektive Vergleichbarkeit vs. "grüne Wiese" vs. subjektive Willkür" umreißen würde. Und ich schicke gleich vorweg, dass ich da keineswegs den Anspruch erhebe, eine letztgültige Antwort parat zu haben. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich, wie so oft im Leben, irgendwo in der Mitte. Und ich entschuldige mich ebenso vorweg, falls das wieder eine längere Abhandlung wird.
Also mal generell: ich denke, dass eine völlig objektive Bewertung eines künstlerischen Werkes - gleich ob Buch, Film, Gemälde, Spiel oder sonstwas - schlichtweg nicht möglich ist. Egal, wieviel Mühe ich mir gebe, ein Werk anhand objektiv messbarer Kriterien einzustufen, Kunst zielt letztlich immer irgendwo darauf ab, beim Individuum einen subjektiven Eindruck, eine emotionale oder intellektuelle Reaktion hervorzurufen. Der Rezipient soll ein Gefühl empfinden, oder es soll ein Gedanke angestoßen werden, und naturgemäß wird das nicht bei jedem Rezipienten gleich gut und in derselben Weise funktionieren. Eine Restmenge an subjektivem Erleben wird also jeder Kritik notgedrungen innewohnen, das geht gar nicht anders.
Aus diesem Grund halte ich den Anspruch objektiver Vergleichbarkeit, wie ihn z.B. die Gamestar über lange Zeit vor sich hergetragen hat, erstmal für verfehlt, weil in Wahrheit illusorisch. Das führt in letzter Konsequenz nur zu den bekannten Problemen, dass man Teil 2 von Franchise XY mindestens eine 85 geben muss, weil Teil 1 damals eine 84 bekommen hat und der Nachfolger in einigen Punkten nachweislich besser funktioniert. Und am besten noch zu sinnlos kleinteiligen Diskussionen darüber, ob Spiel XY jetzt eine 82, eine 83 oder eine 84 bekommen muss, weil Spiel YZ eine 83 bekommen hat, und ob Spiel XY jetzt gleich gut, marginal besser oder minimal schlechter ist. Sowas ist in meinen Augen Humbug und geht am Sinn einer Kritik auch völlig vorbei.
Wenn ich aber jede Notwendigkeit zur Vergleichbarkeit im Sinne einer Einordnung unter andere Spiele ähnlicher Machart, ähnlicher Thematik oder des gleichen Genres von vornherein ausklammere, begebe ich mich in Gefahr, völlig willkürlich zu werten und rein subjektive Geschmacksurteile abzugeben, und auch das kann ja nicht der Weisheit letzter Schluss sein, denn dann brauche ich keine professionellen Kritiker mehr. Das Wesen des Kritikerberufes (in Ermangelung eines besseren Wortes) ist ja, dass man dem Kritiker eine gewisse Kompetenz beimisst, die aus seiner Kenntnis und seinen Erfahrungen in dem von ihm behandelten Feld erwächst. Es gibt ja einen guten Grund, warum z.B. ein Musikmagazin jemandem, der Mittelaltermusik auf den Tod nicht ausstehen kann, oder jemandem, der noch nie im Leben ein Death Metal Album gehört hat, nicht die neuen Platten von In Extremo oder Obituary zur Besprechung vorlegen wird. Oder warum bei The Pod die meisten Strategiespiele von Dom, die meisten Spiele mit Kartenmechanik von Sebastian oder die meisten Rollenspiele von Jochen besprochen werden bzw. wurden - eben weil diese Personen eine gewisse Expertise für die jeweilgen Genres mitbringen und anhand dessen einschätzen können, wo ein Spiel im Rahmen dieser Genres anzusiedeln ist.
Insofern habe ich absolut kein Problem damit, dass Sebastian zu TLOU2 unterm Strich meinte, er finde das Spiel in mancher Hinsicht durchaus beeindruckend und sei froh, dass es existiert, aber es sei nichts für ihn, weil es schlicht nicht die Art von Spielerfahrung bietet, die er schätzt. Ich habe auch kein Problem damit, dass Andre das Spiel "nur" gut aber halt nicht sensationell findet. Ihr individuelles Werturteil stelle ich nicht in Frage und kann ich problemlos akzeptieren. Dass ich das Spiel in Summe wesentlich besser beurteilt hätte, weil es mich nun mal aufgrund meines persönlichen Erlebens und meiner Präferenzen viel mehr erreicht hat, als das bei den beiden der Fall war, steht auf einem anderen Blatt, denn auch ich kann mich natürlich von meiner ganz individuellen Perspektive nicht freimachen. Ich behaupte keineswegs, TLOU2 sei in jeder Hinsicht perfekt, oder dass es bei allem, was es versucht, hundertprozentig den Nagel auf den Kopf trifft, aber ich war an vielen Stellen von seinem Mut und seiner inhaltlichen Konsequenz schwer beeindruckt und häufig emotional tief getroffen. Ich fand die Figuren glaubhaft und im Rahmen ihrer persönlichen Erfahrungen authentisch und nachvollziehbar und die Dialoge glaubwürdig und pointiert. Als der Abspann lief, hatte ich Tränen in den Augen, und ebenso, als ich tags darauf meiner Freundin die Handlung nacherzählte. Aber ich war halt nicht der Kritiker, und Kritik ist kein Wunschkonzert.
Bei mir kam bloß die Besprechung des Spiels (wiederum ganz subjektiv) in Summe zu negativ an, weil die Abwägung von Vorzügen und Nachteilen des Spiels für mich halt vollkommen anders ausfiel und ich beim Hören den Eindruck hatte, auf jedes Lob kämen zwei Einwände (als würde man bei einem Album sagen: "Das ist schon ne tolle Platte, aber bei Song 2 ist das Gitarrensolo zu lang, bei Song 4 ist der Schlagzeugsound nicht optimal, bei Song 8 finde ich den Text banal, bei Song 12 sind die Keyboards zu laut...").
Mein Problem liegt vorrangig in der Begründung diverser Kritikpunkte. Wenn z.B. ein Spiel erstmals in dieser Konsequenz das Thema Geschlechteridentität aufgreift und man dann sagt "das fand ich aber unoriginell", dann empfinde ich das nicht als fundierte Kritik, bzw. würde ich persönlich die Tatsache, dass ein Triple-A-Game es wagt, dieses Thema so prominent und empathisch zu behandeln, höher einstufen als die Tatsache, dass es dem Thema keine Aspekte abgewinnt, die ich als liberaler Mensch jenseits der 45 noch nie gehört hätte (denn ich bin vermutlich auch nicht der typische Rezipient dieses Spiels). (Und ja, Andre, ich weiß, du hast den Mut des Spiels gelobt. das stelle ich nicht in Abrede. Wie gesagt, mir geht es um meine subjektiv empfundene Gewichtung.
)
Und wenn ich sage: "Das finde ich aber schlecht geschrieben", dann fände ich es legitim, mich zu fragen, anhand welcher Skala ich das bemesse und was ich als besser geschriebenes Gegenbeispiel vorbringen könnte. Nochmal auf das Medium Musik übertragen: wenn mir jemand einen Song vorspielt und ich meine: "Nee, mit der Art von Musik kann ich nichts anfangen", dann ist das als subjektives Geschmacksurteil völlig legitim, es ist aber keine fundierte Kritik. Wenn ich dagegen als ausgewiesener Musikexperte sage: "Der Song ist schlecht geschrieben", dann fände ich es absolut angemessen, wenn man mich fragt, woran ich dieses Urteil festmache, ob ich es absolut oder im Kontext des Genres (also z.B. Schlager) fälle, und welchen anderen vergleichbaren Song ich besser finde, bzw. warum. Und wenn ich das nicht beantworten kann, dann wäre es für mich okay und nachvollziehbar, wenn man mir entgegnet: "Okay, ich respektiere deine Meinung, ich finde aber deine Argumentation etwas willkürlich".
Zum wiederholten Male: ich will auf dem Thema echt nicht ewig herumreiten. Jeder darf über das Spiel denken, was er will, es super oder mittelmäßig oder auch scheiße finden. Ich finde die Besprechungen bei The Pod in 99 von 100 Fällen ausgezeichnet, gut hergeleitet und integer, und ich will diesbezüglich überhaupt keine grundsätzliche Kritik formulieren. In diesem speziellen Fall empfand ich halt den Tenor der Kritik insgesamt (und subjektiv) als zu "nitpicky" und in der Gesamtgewichtung als zu verhalten, aber das ist schon okay so - Wasser unter der Brücke. Meinem persönlichen Erleben tut das keinen Abbruch, und ich wollte hier bestimmt keinen Glaubenskrieg pro/contra TLOU2 oder gar pro/contra The Pod lostreten. Alles gut.
Ich mag bloß nicht missverstanden oder fehlinterpretiert werden, daher meine ausführlichen Antworten.