Runde #235: Eine Verteidigung des Eskapismus

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Stuttgarter
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Runde #235: Eine Verteidigung des Eskapismus

Beitrag von Stuttgarter »

Wieder eine sehr spannende Folge, danke! (Und willkommen zurück, André. :) )

Zu der Anno-Debatte: Die Befürchtung ist wohl nicht, dass dieses eine Spiel alle Spieler, "die nicht Geschichtslehrer sind oder Geschichte studieren", dumm macht. Der springende Punkt könnte aber sein, dass "Anno 1800" eine bestimmte Sichtweise weitertransportiert - jene, dass der wirtschaftliche Erfolg in der Industrialisierung ohne negative Aspekte wie vor allem Kolonialisierung stattgefunden habe. Und das ist vor allem derzeit hinterfragenswert, wo viele Menschen ernsthaft die Frage stellen, warum "wir" (Europäer) für Menschen aus Afrika eine Verantwortung haben sollten. "Kolonialismus" ist da eine gute Antwort drauf - dessen negative Seiten verschweigt "Anno" aber konsequent.

Hier im Forum wurde irgendwann mal schonmal gründlich drüber diskutiert, dass die Darstellung von historischen Szenarien in den Medien das Weltbild des Konsumenten prägen. Damals war das Beispiel "D-Day/Normandie" - den sich heute praktisch jeder so vorstellt, wie ihn zuerst Spielberg, danach MoH:AA, CoD etc gezeigt haben. Eine Darstellung, die aber wohl nur bedingt was mit der Realität zu tun hat. Insofern wundert mich ein bisschen, warum Jochen sich so vehement gegen den "Lerneffekt von Medien" sträubt. :)

Und grade Du, Jochen (keine Ahnung, ob Du hier derzeit mitliest?), legst doch immer wieder Wert drauf, dass Spiele so oder so politisch sind, egal, ob sie das sein wollen oder nicht. "Anno 1800" ist ein wunderbares Beispiel eben dafür, dass auch eine "harmlose Wohlfühlaufbausimulation" eben sehr wohl politische Aspekte hat. Und das unterscheidet "Anno" halt auch von den "Siedlern", "Cultures" etc: "Anno" gibt sich zumindest den Anstrich, eine historische Epoche abzubilden. Es gibt das lateinische "Semper aliquid haeret" ("Etwas bleibt immer hängen") - in dem Fall das Bild des "braven" Europas, das die Industrialisierung gestemmt hat, ohne dabei anderen Menschen/Kontinenten zu schaden.

Insofern würde ich schon sagen, dass man ein Spiel wie "Anno" dafür zurecht kritisieren kann. Was ja bei anderen Medien auch entsprechend passiert. Ich hab mir neulich mal die "Meuterei auf der Bounty" aus den 60ern mit Marlon Brando angeguckt - würde dieser Film heute so gedreht werden, würde er aber ne Menge Kritik abbekommen wegen seinem glorifizierenden imperialistischen Weltbild. :) So schlimm ist "Anno" natürlich nicht - aber es entstand ja auch fast 50 Jahre später.

Edit: Ich hab mit "Anno 1800" übrigens sehr viel Spaß, so ist es nicht. :)
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Andre Peschke
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Andre Peschke »

Stuttgarter hat geschrieben: 6. Okt 2019, 11:12 Der springende Punkt könnte aber sein, dass "Anno 1800" eine bestimmte Sichtweise weitertransportiert - jene, dass der wirtschaftliche Erfolg in der Industrialisierung ohne negative Aspekte wie vor allem Kolonialisierung stattgefunden habe. Und das ist vor allem derzeit hinterfragenswert, wo viele Menschen ernsthaft die Frage stellen, warum "wir" (Europäer) für Menschen aus Afrika eine Verantwortung haben sollten.
In meiner Erinnerung habe ich diese Perspektive im Podcast genannt. Wir haben da lediglich die Position vertreten, dass es dabei nicht auf das einzelne Spiel ankommt. Man sollte daher eher auf größere "Missinformation" in Medien insgesamt abstellen (daher mein spätes Beispiel von der Landung in der Normandie) und selbst in diesem Kontext ist die Kritik bei einer eskapstischen Heile-Welt-Fantasie wie Anno 1800 mit doch (scheinbar? Ich habs nicht gespielt) hohem Abstraktonsgrad vielleicht nicht ideal anzubringen.
Stuttgarter hat geschrieben: 6. Okt 2019, 11:12 Und grade Du, Jochen (keine Ahnung, ob Du hier derzeit mitliest?), legst doch immer wieder Wert drauf, dass Spiele so oder so politisch sind, egal, ob sie das sein wollen oder nicht. "Anno 1800" ist ein wunderbares Beispiel eben dafür, dass auch eine "harmlose Wohlfühlaufbausimulation" eben sehr wohl politische Aspekte hat.
Jochen ist nach wie vor selten bis nicht im Forum. Aber diesem Punkt hat er ja ebenfalls absichtlich im Podcast vorgegriffen und gesagt, dass natürlich auch ein Anno nicht unpolitisch ist. Er fand nur die geäußerte Kritik an exakt dieser Stelle deplatziert.

Andre
Maestro84
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Maestro84 »

Ich sehe dies anders. Anno (1800) ist die Eisenbahnplatte unter der Computerspielen. Da geht es nicht um Politik, sondern ums Wohlfühlen, was auch völlig ok ist, denn es müssen doch nicht alle Spiele mit einem realen oder historischen Setting direkt die Moralkeule schwingen. Bei einem Need for Speed geht es ja auch um den arcadigen Fahrspaß, da würde ich auch keine Kritik am Individualverkehr samt dessen CO2-Ausstoß erwarten. Wenn wir alle Medien politisch aufladen, denke ich nicht, dass wir uns damit einen Gefallen tun. Am Ende des Tages müssen Hobbys auch einfach mal Spaß machen.
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Stuttgarter »

Andre Peschke hat geschrieben: 6. Okt 2019, 11:43
Stuttgarter hat geschrieben: 6. Okt 2019, 11:12 Der springende Punkt könnte aber sein, dass "Anno 1800" eine bestimmte Sichtweise weitertransportiert - jene, dass der wirtschaftliche Erfolg in der Industrialisierung ohne negative Aspekte wie vor allem Kolonialisierung stattgefunden habe. Und das ist vor allem derzeit hinterfragenswert, wo viele Menschen ernsthaft die Frage stellen, warum "wir" (Europäer) für Menschen aus Afrika eine Verantwortung haben sollten.
In meiner Erinnerung habe ich diese Perspektive im Podcast genannt. Wir haben da lediglich die Position vertreten, dass es dabei nicht auf das einzelne Spiel ankommt. Man sollte daher eher auf größere "Missinformation" in Medien insgesamt abstellen (daher mein spätes Beispiel von der Landung in der Normandie) und selbst in diesem Kontext ist die Kritik bei einer eskapstischen Heile-Welt-Fantasie wie Anno 1800 mit doch (scheinbar? Ich habs nicht gespielt) hohem Abstraktonsgrad vielleicht nicht ideal anzubringen.

Andre
Ja, hast Du - ich habs nur der Vollständigkeit halber in meine Argumentation auch eingebaut.

Dem anderen Punkt würde ich zwei Dinge entgegnen - erstens, dass es derzeit zumindest unsensibel ist, so ein Spiel rauszubringen, da es eben diese Diskussion "Warum sollten wir Afrika irgendwas schulden???" sehr vehement gibt seit 2015. Zweitens - ich mag mich irren, aber so wirklich viele (vor allem aktuelle) Spiele mit der Thematik "Industrialisierung im europäischen 19. Jahrhundert" gibt es nicht, oder? Ich wüsste außer "Anno" jetzt aus dem Stand kein einziges. Insofern könnte man argumentieren, dass man die Kritik halt nur an dem Spiel festmachen kann.

Über den "hohen Abstraktionsgrad" kann man vermutlich streiten - ich würd sagen, dass die Anno-Reihe durchaus den Eindruck erweckt, ein jeweils zeitgemäßes historisches Europa abzubilden, anders als eben "Siedler" oder "Cultures". Klar, in den "Siedlern" gabs auch Römer und Co - aber da würde ich wesentlich eher diese Abstraktion gelten lassen. "Anno" bedient sich dagegen seit spätestens "1404" mit Kreuzzügen und Co. doch recht realweltlicher Ereignisse. Und in "1800" ist auch recht klar ersichtlich, welche realen Nationen Pate stehen, auch wenns nicht explizit genannt wird. Insofern würd ich annehmen, dass das Spiel zumindest bei Menschen, die die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts samt allen negativen Begleiterscheinungen nicht eh schon im Kopf haben, schon ein falsches Bild untermauern kann. Die Aussage "bei allen, die nicht Geschichte studieren/studiert haben" ist natürlich Unsinn - aber vermutlich doch bei einigen, bei denen entweder die Bildung oder das Interesse an diesem Aspekt der Geschichte nicht so groß sind.

Und ganz ernsthaft - warum wird einem "Division" von Euch vorgehalten, dass es natürlich nicht unpolitisch sein kann, wenn es bestimmte Themen abarbeitet, einem "Anno" wollt Ihr es aber durchgehen lassen? :) Ist das nicht letztlich auch "Lasst die Politik aus meinen Spielen raus!"? :)

Ich habs im Edit ja extra betont - ich liebe das neue Anno. So, wie ich rein filmtechnisch auch die "Bounty" verdammt großartig fand. Aber, und da paraphrasiere ich jetzt bewusst Eure eignen Aussagen der letzten Jahre: Man kann ein Werk ja großartig finden, und trotzdem einzelne Aspekte für falsch halten. :)
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Stuttgarter »

BlackSun84 hat geschrieben: 6. Okt 2019, 12:01 Ich sehe dies anders. Anno (1800) ist die Eisenbahnplatte unter der Computerspielen. Da geht es nicht um Politik, sondern ums Wohlfühlen, was auch völlig ok ist, denn es müssen doch nicht alle Spiele mit einem realen oder historischen Setting direkt die Moralkeule schwingen. Bei einem Need for Speed geht es ja auch um den arcadigen Fahrspaß, da würde ich auch keine Kritik am Individualverkehr samt dessen CO2-Ausstoß erwarten. Wenn wir alle Medien politisch aufladen, denke ich nicht, dass wir uns damit einen Gefallen tun. Am Ende des Tages müssen Hobbys auch einfach mal Spaß machen.
Ernstgemeinte Frage - warum soll ein Spiel, das mit dem Thema "Kolonialisierung" sensibler umgeht, automatisch keinen Spaß machen? Es verlangt doch niemand, dass daraus ein historisches Sozialdrama wird. Aber diesen ganzen Aspekt einfach komplett rauszulassen - das ist Glorifizierung einer an und für sich ambivalenten Epoche.

Außerdem könnte jedes Spiel das Problem ganz einfach umschiffen (wie passend bei "Anno") - indem es eben gar nicht erst eine historische Welt aufgreift. Wie oben aber schon an André geschrieben - das tut "Anno" ja grade nicht. Sondern es arbeitet sehr bewusst mit den jeweiligen historischen Klischees/Gegebenheiten. Es pickt sich quasi die Rosinen raus - lässt aber das negative unter den Tisch fallen.

Und letztlich geht es nur darum, dass die Kritik an "Anno" legitim ist. "Anno" darf so sein - nur muss es (und die Fans) dann auch Kritik daran aushalten.
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Nachtfischer
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Nachtfischer »

BlackSun84 hat geschrieben: 6. Okt 2019, 12:01 Bei einem Need for Speed geht es ja auch um den arcadigen Fahrspaß, da würde ich auch keine Kritik am Individualverkehr samt dessen CO2-Ausstoß erwarten.
Würde ich auch nicht, aber das ändert nichts daran, dass auch das bewusste Auslassen dieser Aspekte eine (politische) Aussage in sich trägt.
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Stuttgarter »

Nachtfischer hat geschrieben: 6. Okt 2019, 12:51
BlackSun84 hat geschrieben: 6. Okt 2019, 12:01 Bei einem Need for Speed geht es ja auch um den arcadigen Fahrspaß, da würde ich auch keine Kritik am Individualverkehr samt dessen CO2-Ausstoß erwarten.
Würde ich auch nicht, aber das ändert nichts daran, dass auch das bewusste Auslassen dieser Aspekte eine (politische) Aussage in sich trägt.
Danke, das ist der Punkt. Den die Podcaster im übrigen schon oft genug selbst betont haben. :)
Stuttgarter
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Stuttgarter »

Andre Peschke hat geschrieben: 6. Okt 2019, 11:43
Stuttgarter hat geschrieben: 6. Okt 2019, 11:12 Und grade Du, Jochen (keine Ahnung, ob Du hier derzeit mitliest?), legst doch immer wieder Wert drauf, dass Spiele so oder so politisch sind, egal, ob sie das sein wollen oder nicht. "Anno 1800" ist ein wunderbares Beispiel eben dafür, dass auch eine "harmlose Wohlfühlaufbausimulation" eben sehr wohl politische Aspekte hat.
Jochen ist nach wie vor selten bis nicht im Forum. Aber diesem Punkt hat er ja ebenfalls absichtlich im Podcast vorgegriffen und gesagt, dass natürlich auch ein Anno nicht unpolitisch ist. Er fand nur die geäußerte Kritik an exakt dieser Stelle deplatziert.

Andre
Dein Edit grad erst gesehen, sorry.. Danke für den Zusatz. Jetzt würd mich aber umso mehr interessieren, warum er die Kritik deplatziert findet, wenn er sogar selber einräumt, dass auch Anno natürlich eine politische Dimension hat. :o
Butchnass
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Butchnass »

Ich habe selten so ein extremes Beispiel von arrogantem elitärem Denken gesehen, wie die Aussage des Professors der sich mit Kolonismusforschung beschäftigt.
Wir alle, die keine Professoren sind, haben natürlich außer Anno keinerlei andere Bildung erfahren, um so etwas wie Sklaverei einzuordnen.
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Axel
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Axel »

Ihr habt meiner Ansicht nach einen wichtigen Grund vergessen, warum Eskapismus so kritisiert wird. Auch wenn ich wie eine gesprungene Platte klinge: Es ist der Kapitalismus, wieder einmal. Seit dem späteren 19. Jahrhundert, also der Industrialisierung dem Aufkommen des Kapitalismus, wird Zeit einem Geldwert zugeordnet. Ich würde mal ins Blaue behaupten, dass in der Romantik oder noch etwas früher, in Zeiten des Sturm und Drangs, es weit weniger Kritik an Eskapismus gab.

Und warum wird die Kritik in den letzten Jahren wieder lauter? Es geht IMO Hand in Hand mit dem Selbstoptimierungswahnsinn. Faul sein gilt als verpönt. Egal wie wichtig es ist auch mal faul zu sein, die Füße hochzulegen und Zeit für sich zu nehmen. Alles wird vermessen, alles wird getrackt. Gesundheitskassen geben einem sogar Prämien dafür. Die Leute stürmen nach der Arbeit ins Gym und zu anderen Aktivitäten. Denn wenn es den Hamsterrad schon gibt, dann soll er wenigstens so gut wie irgend möglich erträglich sein, während man ja was leistet.

Eskapismus ist da die radikalste Gegenthese: Sie besagt, dass Du Dich einfach mal aus dem Hamsterrad hinaus begeben sollst. Eskapismus handelt von Fantasie, davon die Realität hinter sich zu lassen. Sie steht also konträr zum kapitalistischen Konzept des Systems, dass Zeit einen Geldwert hat. Eskapismus greift im höchstem Maße das Leistungsprinzip an. Denn in dieser Zeit leistest Du ganz bewusst nichts. Deswegen wird ein „weggehen, sich auf andere Gedanken bringen“ auch höher bewertet als sich drei Tage in einer digitalen Open World zu verlieren. Im ersteren Fall bist Du wenigstens noch körperlich aktiv.

Ich denke also, dass die Kritik am Eskapismus systeminhärent ist. Und umso mehr gilt loszulassen!
Wie es auch diese Hymne des Eskapismus sehr eindrucksvoll einfordert: https://www.youtube.com/watch?v=oV38y2EPhlE (unbedingt auf den Text hören und nicht gleich wieder wegklicken!) :mrgreen:
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Nachtfischer
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Nachtfischer »

Axel hat geschrieben: 6. Okt 2019, 13:27Ich denke also, dass die Kritik am Eskapismus systeminhärent ist.
Und ich würde umgekehrt sagen, dass der Eskapismus dem System oft sehr gelegen kommt. Diese Einstellung nach dem Motto: "Nach 8-10 Stunden harter, frustrierender Arbeit einfach mal dem Alltag entfliehen." Auch endlich mal von Bedeutung sein und wahrgenommen werden. An sich schön und gut und für viele Menschen im bestehenden System wohl bitter nötig. Allerdings bestärkt es eben auch den Status quo. Normalerweise würden solch frustrierende Zustände die Leute auf Dauer motivieren, etwas ändern zu wollen. Doch Eskapismus sei Dank lassen sich auf vielfältigste Art und Weise die Augen vor der Realität verschließen und schon wirkt alles gar nicht mehr so schlimm...
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Lurtz
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Lurtz »

Butchnass hat geschrieben: 6. Okt 2019, 13:06 Ich habe selten so ein extremes Beispiel von arrogantem elitärem Denken gesehen, wie die Aussage des Professors der sich mit Kolonismusforschung beschäftigt.
Wir alle, die keine Professoren sind, haben natürlich außer Anno keinerlei andere Bildung erfahren, um so etwas wie Sklaverei einzuordnen.
Kann gut sein dass sie so gemeint war. Kann aber auch sein, dass sie im Gesprächskontext womöglich ganz anders wirkt. Der Golem-Artikel ist ja schon recht knapp in eine Richtung geschrieben.

Ich fand den Anfang der Folge ziemlich cool, ab Anno habt ihr mich aber etwas verloren. Ich verstehe das mit dem Abstraktionsgrad etc. schon und sehe das grundsätzlich ähnlich, aber die Linie wirkt an der Stelle dann doch eher willkürlich. Man kann da ja Trennlinien an so vielen Stellen ziehen, je nach Befinden einer "Eskampisus-Zielgruppe", bis man am Ende dann wieder beim althergebrachten "es sind ja nur Spiele, die sollen nur unterhalten" ist. Und dann tritt das ganze Medium doch sehr auf der Stelle. Ich sag ja nicht mal dass Anno diesen Wohlfühleskapismus nicht bieten darf, aber ich finde den Artikel jetzt auch nicht so sehr kritikwürdig. Zumal Anno 1800 ja zB auch die Zeitungszensur-Mechanik hat, was dann irgendwie auch nicht komplett unschuldig ist.

Vielleicht bin ich da auch zu pessimistisch, aber als Hobby-Geschichtsinteressierter vermisse ich gerade im Bereich Geschichte schon sowohl einen Gesamtüberblick über gewisse Zusammenhänge (der bei uns im Westen naturgemäß allein in der Schule eh schon sehr aus dem westlichen Blickwinkel vermittelt wird), von speziellerem Wissen ganz zu schweigen.
Ich wäre schon überrascht wenn auf der Straße Angesprochene den groben Ablauf der letzten gut 100 Jahre deutscher Geschichte von Gründung des Kaiserreichs bis zur BRD wiedergeben könnte. Ich kenne deutlich mehr Leute, die das nicht können, als solche, die es können, unabhängig vom formalen Bildungsgrad.
Ja, dass es mal sowas wie Sklaverei gab (bzw. bis heute noch gibt!) und dass das vielleicht nicht die menschenfreundlichste Idee ever war, wird wohl jeder Europäer abgespeichert haben, aber die Spezifika und irgendwelche möglichen Brückenschläge zum heutigen Zustand Afrikas, da wird es dann wohl schon wieder dünn werden.

Und es gibt sicher unzählige Themen, wo ich genauso ignorant bin weil ich mich zufällig nicht dafür interessieren. Insofern glaube ich schon dass populäre Medien da schon deutlich mehr prägen, als man glauben könnte. Der Glaube ans dunkle Mittelalter, wo die Dummerchen an eine flache Erde glaubten, ist ja auch ein gängiger Trope, wenn auch eigentlich längst widerlegt.
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Soulaire
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Soulaire »

ihr habt dem Eskapismus Eigenschaften zugeschrieben, für die er von Kritikern für das Fehlen jener Eigenschaften ja eigentlich kritisiert wird. Es ist eben nicht so, dass man sich im Eskapismus bewaffnet und so ausbrechen kann. Es sind 2 getrennte Welten und der Status Quo von beiden wird aufrecht erhalten. Man kann Eskapismus sowieso nur erfahren, wenn man jene "Fantasie-Welt" als wahrhaftig und perfekt ansieht, da man nicht ständig herausgerissen werden will. Aber genau hier liegt das Problem. Die mangelnde Kritik-Fähigkeit zu der erschaffenen künstlichen Welt überträgt sich auf die Realität.
Außerdem sehe ich den Eskapismus nicht als Notwendigkeit um Abzuschalten oder zum Entspannen. Man kann auch eine Distanz zu den Alltags-Problemen entwickeln und trotzdem seine Kritik-Fähigkeit aufrecht erhalten. Das ist für mich überhaupt kein Widerspruch.
Vielen Menschen ist ja gar nicht bewusst wie oder warum sie eingesperrt sind. Und genau für eine derartige Reflektion ist ja sowas wie Kunst da.
zackzackab
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von zackzackab »

Aus meiner Sicht hat sich Jochen in der Folge in seinen Aussagen über den von Dom zitierten Experten im Ton vergriffen. Ein Historiker ist eben kein "Gamingwissenschaftler" oder Wirkungsforscher. Er wurde als Experte für Geschichte angefragt, die historische Schlüssigkeit der Entwicklerargumentation zu bewerten und hat damit wahrscheinlich Doms Arbeitshypothese, Anno werde von Gamern als historisches Lehrstück angesehen oder wirke auf manche so, nicht hinterfragt. Da die Aussage materiell nicht Teil der Expertise war, wäre es nach meinem Journalismusverständnis richtig gewesen, sie nicht als vermeintliche Expertise in den Artikel zu übernehmen. Dass Dom die Aussage trotzdem mitzitiert hat, kommt mir wie ein Bestätigungsfehler vor. Dem empörten Vorwurf an einen Wissenschaftler, er habe sich außerhalb seines Feldes zu einer unwissenschaftlichen Aussage hinreißen lassen, kann ich wenig abgewinnen. Auch Wissenschaftler sind in vielen Bereichen nur Laien.
Zuletzt geändert von zackzackab am 6. Okt 2019, 16:08, insgesamt 1-mal geändert.
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Axel
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Axel »

Nachtfischer hat geschrieben: 6. Okt 2019, 14:13
Axel hat geschrieben: 6. Okt 2019, 13:27Ich denke also, dass die Kritik am Eskapismus systeminhärent ist.
Und ich würde umgekehrt sagen, dass der Eskapismus dem System oft sehr gelegen kommt. Diese Einstellung nach dem Motto: "Nach 8-10 Stunden harter, frustrierender Arbeit einfach mal dem Alltag entfliehen." Auch endlich mal von Bedeutung sein und wahrgenommen werden. An sich schön und gut und für viele Menschen im bestehenden System wohl bitter nötig. Allerdings bestärkt es eben auch den Status quo. Normalerweise würden solch frustrierende Zustände die Leute auf Dauer motivieren, etwas ändern zu wollen. Doch Eskapismus sei Dank lassen sich auf vielfältigste Art und Weise die Augen vor der Realität verschließen und schon wirkt alles gar nicht mehr so schlimm...
Jedoch musste sich die Freizeit neben der Arbeit brutal und blutig erkämpft werden, das darf man nicht vergessen! Und es gibt ja seit Jahren bestreben das erkämpfte Arbeitsschutzgesetz wieder aufzuweichen. Wie etwa in Österreich, Stichwort 12-Stunden-Tag. Auch hier in Deutschland gibt es unlängst wieder solche Forderungen.

Eskapismus kann aber nicht nur den status quo bestärken, sondern auch das Gegenteil. Stichwort Martin Luthers „I have a dream“. Ich denke, dass sehr viele Revolutionen und soziale Errungenschaften nicht nur vom reinen Verstand her kommen. Sondern eben auch von der Vorstellungskraft wie es wohl wäre in einer anderen und besseren Welt zu leben. Nehmen wir mal das alte Star Trek zu The Next Generation Zeiten, nicht den neuen Quatsch.

Damals wurde in Star Trek eine sehr imponierende Gesellschaftsform formuliert: Es gibt kein Geld mehr. Sondern Menschen „arbeiten“ um sich selbst weiter zu entwickeln, um zu forschen, für Wissensgewinn. Eigentlich eine schöne, eskapistische Idee. ABER: So weit davon entfernt sind die Forderungen nach einer Gesellschaft mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen und frei vom Zwang zur Erwerbsarbeit auch nicht. Ganz im Gegenteil: Die Idee eines BGE und dessen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen sind dem Eskapismus von Star Trek sogar sehr ähnlich. Ich würde daher sagen, dass es auch positive Folgen haben kann sich in eine positiven Eskapismusfantasie hinein zu träumen. Weil dann irgendwann und unweigerlich die Frage kommt: Wieso soll das eigentlich nur ein Traum sein?
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Soulaire
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Soulaire »

Axel hat geschrieben: 6. Okt 2019, 16:04

Stichwort Martin Luthers „I have a dream“.
Würde ich nicht als Eskapismus bezeichnen...
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derblaueClaus
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von derblaueClaus »

Dass Kolonialismus/Imperialismus und Kapitalismus zusammenhängen ist nun auch ein dediziert linke Ansicht, die ich so nicht teile. Kapitalismus fußt auf einem fairen Austausch von Waren, Dienstleistungen und Geld auf Augenhöhe. Das ist Kolonialismus und Imperialismus mit Sicherheit nicht.

Trotzdem stimmt es natürlich, dass Spiele wie Anno die negativen Seiten ihres historischen Rahmens ignorieren bzw. weglassen. Aber ist das wirklich schlimm ? Ich nehme als Consimmer mal ein krasses Beispiel: Hearts of Iron IV. Wenn man den zweiten Weltkrieg genau simulieren wollte, müsste man als Deutsches Reich auch KZ errichten und Sondereinsatzgruppen in Russland befehligen. Möchte ich das spielen, bzw. sollte es solche Spiele im kommerziellen Bereich überhaupt geben ? Mit Sicherheit nicht.

Entschuldigt das solche Spiele? Kommt drauf an was es sein will. Eine "Simulation" wie HoI IV aus meiner Sicht nicht, die will bis zu einem gewissen Grade möglichst genau simulieren was damals passiert ist. Und da gehörten nun mal solche Dinge eigentlich dazu.

Bei Anno sehe ich das anders. Anno möchte kein genaues Abbild der Industriellen Revolution sein. Die Industrielle Revolution ist "nur" der Anstrich, die Rechtfertigung für ein neues Spiel und ein paar Mechaniken. Da habe ich dann kein Problem, wenn gewisse Dinge nicht dargestellt werden. Denn Informationen über Geschichte hole ich mir woanders.
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Nachtfischer »

Axel hat geschrieben: 6. Okt 2019, 16:04Wieso soll das eigentlich nur ein Traum sein?
Genau dann ist es eben kein Eskapismus mehr.
Soulaire hat geschrieben: 6. Okt 2019, 16:12
Axel hat geschrieben: Stichwort Martin Luthers „I have a dream“.
Würde ich nicht als Eskapismus bezeichnen...
Genau.
Stuttgarter
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Stuttgarter »

derblaueClaus hat geschrieben: 6. Okt 2019, 16:19Denn Informationen über Geschichte hole ich mir woanders.
Und das ist halt der Knackpunkt. Prima, wenn Du das tust. Ich würde aber drauf wetten, dass eine signifikante Zahl Spieler das nicht tut. Und bei denen bleibt dann eben hängen, was sie in Spielen dazu sehen. So wie für die meisten Filmschauer auch das zu Pearl Harbour hängen bleiben wird, was Michael Bay ihnen gezeigt hat (was nun wirklich eine verstörende Vorstellung ist). Und so wie Michael Bay für seine Darstellung auf den Sack bekommen hat, werden halt auch Spiele für einseitige/ausschnitthafte Darstellung kritisiert.

Sind wir wieder an dem Punkt, wo Spiele doch keine Kunst und nicht erwachsen sein sollen, weil damit halt auch unangenehme Verpflichtungen einher gehen? ;)
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derblaueClaus
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von derblaueClaus »

Aber ist das wirklich die Verantwortung des Spiels oder nicht vielmehr der Spieler selber? Es ist mehr eine Frage des Menschenbildes als der (unsinnigen) Frage, ob Spiele Kunst sind. Siehst du den Menschen als grundsätzlich selbstbestimmt und vernünftig oder als stumpf manipulierbar und dumm. Ich tendiere eher zum Ersteren.
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