Andre Peschke hat geschrieben: ↑8. Okt 2019, 13:59
Die Frage wäre ja dennoch: Warum wäre von einem Anno 1800 zu fordern, dass ausgerechnet dieses Spiel hier eine Nachsorge liefern soll? Also, mal angenommen es gäbe da ein erhebliches Informationsdefizit in der Bevölkerung. Weiter angenommen, dass würde auch zu unliebsamen Folgen führen wie Beschrieben ("Was geht uns Afrika an?" - auch wenn man meinen sollte, dass da Empathie ausreichen sollte, um die Frage zu beantworten). Diese Probleme hat ein Anno 1800 ja nicht verursacht. Bessert es die Situation? Sicher nicht. Aber verschlimmert es sie wirklich in erheblichem Maße?
Also a) Denken wir wirklich, dass Menschen ein Anno 1800 konsumieren und daraus den Schluss ziehen / in einer wie auch immer gearteten Unwissenheit bestärkt werden, dass es keinen Kolonialismus in Afrika gab? Trauen wir uns wieder nur zu, dass wir die nötige Kompetenz/Bildung besitzen, das Spiel nur als Spiel wahrzunehmen, aber "ja, die anderen..."?
b) Selbst wenn wir eine Verschlimmerung der angenommmenen Lage konstatieren, ist dann der Einfluss wirklich stark genug, dass es nötig wird hier eine "soll" / "muss" - Forderung an Anno 1800 zu formulieren? Glauben wir also, dass die Spieler die Desinformation eines Anno 1800 auch noch so ernst nehmen, dass es zu einer erheblichen Verhärtung problematischen Geschichtsverständnisses beiträgt?
Ich kann verstehen, wenn jemand sagt: "Ich glaube, da gibt es ein mangelndes Bewusstsein und es hätte mich ehrlich gefreut, wenn an dieser Stelle dazu beigetragen worden wäre, dieses Bewusstsein zu schärfen".
Aber wenn die Forderung dringender /drängender wird, dann bin ich doch arg im Zweifel ob hier nicht zum einen der Effekt überschätzt und der Mitmensch unterschätzt wird und andererseits nicht ohnehin an einem Symptom operiert werden soll.
Andre
Hallo Andre,
Ich versuche, an deinen Fragen entlang das ganze mal aus meiner Sicht aufzudröseln, zumal ich zu Anno 1800 immer noch einen Entwurf für einen eigenen Blog-Artikel zu genau dieser Thematik herumliegen habe, mit dem ich immer noch nicht zufrieden bin.
Warum gerade Anno 1800? Nun, es ist ein recht auflagenstarkes Spiel mit dem Setting der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Davon gibt es grundsätzlich kaum Spiele und meines Wissens nach keines, dass mit einer ähnlichen Verbreitung auf einer relativ abstrakten strategiespielerischen Ebene funktioniert. Man korrigiere mich gerne, falls ich da irgendein Spiel vergessen haben sollte.
Zur Frage, ob es ein Informationsdefizit in der Bevölkerung gäbe: es geht mir (der Artikel hat da leider einen anderen Eindruck erweckt) hier nicht primär um Information, oder um Wissen, sondern um unterbewusste Vorstellungen zu historischen Zeiten/Kontexten. Gibt es ein Geschichtsbild in der Bevölkerung, dass Kolonialismus romantisch verklärt? Das trifft es eher, es ist aber äußerst schwierig, dies mit empirischen Methoden zu messen. Was man hingegen leicht feststellen kann, ist, ob sich ein solches Geschichtsbild in Medien wie Videospielen oder in der Presse oder z.B. in der Regierungsarbeit andeutet. Und da muss ich in allen drei Fällen feststellen: ja!
In Anno 1800 gibt sich das Spiel ja durchaus Mühe, das Konfliktpotential, das mit der Industrialisierung in Europa einhergeht, anzudeuten. Arbeiter gehen bei schlechten Arbeitsbedingungen auf die Straße, die Zeitung darf durch die Spieler-Entität "lektoriert" und damit zensiert werden und die allgemeine Industrieverschmutzung führt zu einer langfristigen spielerischen Herausforderung.
Wird in der "Alten Welt" ein grundlegendes Konfliktpotential also angedeutet, ist dies in der "Neuen Welt" eben nicht der Fall: die dortigen "Arbeiter" und "Tagelöhner" verrichten quietschfidel und fröhlich ihre Arbeit, damit unsere Europäer auf der Hauptinsel den neuen Reichtum auch in neue Güter investieren können. Da wäre wirklich viel mehr drin gewesen, im Übrigen muss man dafür nicht mal die Sklaverei konkret darstellen. Die große Stärke von Anno (wie Jochen ja auch herausgestellt hat) ist ja das Aufgreifen historischer Strukturen, ohne das konkrete Leid direkt zeigen zu müssen. Da ist der Begriff "Doppelmoral" also durchaus angebracht!
Dann erschien gerade vor wenigen Tagen ein Aufmacher des Spiegels (Ausgabe 41 vom 05.10.2019) mit dem Titel: "Der Untergang der Atzteken. Vor 500 Jahren: wie ein spanischer Abenteurer die geheimnisvolle Großmacht vernichtete". Da haben wir wieder Kolonialismus interpretiert als Abenteuer, bei dem irgendwie(?) und leider so ganz nebenbei eine "Großmacht" (im europäischen Sinne?) vernichtet wurde, also Menschen starben und zwar nicht wenige. In der gleichen Ausgabe gab es dazu noch eine Werbeanzeige in der "Spiegel Leserreise" in der unter anderem Sätze fallen wie: "So manches scheint uns in Namibia vertraut: "Guten Tag" als Begrüßung oder Cafés, in denen Schwarzwälder Kirschtorte serviert wird.[...]Und doch ist Namibia spannend und fremd." Also schön wie zuhause fühlen, während man sich über die koloniale Vergangenheit ausschweigt. Klar, das ist Werbesprache, aber an dieser Stelle einfach nur schrecklich unpassend, gerade im Kontext des sowieso schon fragwürdigen Aufmachers, der die Zeit des Kolonialismus offenbar als unbeschwertes Abenteuer interpretiert.
Unsere Bundesregierung ist von dieser kolonialen Amnesie auch immer wieder angesteckt. Seit Jahrzehnten tut man sich u.a. mit der Aufarbeitung des Völkermords an Herero und Nama schwer. Zwar steht aktuell im Koalitonsvertrag der Bundesregierung auch etwas zur "Aufarbeitung des Kolonialismus", passiert ist aber kaum etwas. Im Gegenteil, bisher gab es noch nicht mal eine Entschuldigung der Bundesregierung für die damaligen Vorkommnisse, die inzwischen auch geschichtswissenschaftlich wesentlich umfassender aufgearbeitet wurden.
Vor diesem Hintergrund positioniert sich Anno in diesem Diskurs mit einem klaren "weiter wie bisher". Verschlimmert das die Situation? Auf Dauer schon, wie ich finde. Umso länger wir die historische Herkunft von Problemen, die uns heute mehr denn je beschäftigen, ignorieren oder sogar romantisieren, umso schlimmer und schmerzhafter wird die Auseinandersetzung damit nun mal. Das gilt für den Klimawandel, Flüchtlingskrise, Schere zwischen Arm und Reich usw. all das sind ja in der Tat Symptome von langfristigen Entwicklungen und nicht deren Ursachen!
Zu deiner Frage danach, welche Schlüsse ziehen Anno-Spieler daraus? Die Frage ist doch, ob sie das überhaupt bewusst tun? Einem hochgebildetem Jochen mit seiner kleinen Privatbibliothek ist doch gleich klar, dass dort die Sklaverei eigentlich dazugehört. Und beim Rest? Ist jeder quasi "ein Jochen" (meine das nicht abwertend) oder gibt es eine Anzahl an Spielern, die das eben nicht kritisch hinterfragen, weil sie nur kurz ein bisschen schönbauen wollen in Anno 1800 und ihnen (möglicherweise) der Bildungshintergrund dazu fehlt?
Wir wissen es einfach nicht! Und wir können da auch nicht einfach mal eben empirisch zu forschen und dann haben wir (wie in den Naturwissenschaften) messbare und eindeutige Befunde. Gerade unbewusste Vorstellungen prägen uns ein Leben lang, ich denke, das ist jedem verständlich. Welchen Einfluss gerade das Spiel Anno 1800 darauf hat, kann man bisher nicht sagen und methodisch kaum sauber erfassen. Es steht aber eine nicht unberechtigte Vermutung im Raum, dass es, genau wie bestimmte Berichterstattungen im Journalismus oder Filme wie "Jenseits von Afrika" uvm. einen gewissen Einfluss auf diese unbewussten Vorstellungen gibt.
Daher ist für mich dann die Kritik an Anno 1800 mit dem Vorwurf der "Doppelmoral" auch gerechtfertigt, wobei ich es gerne sehen würde, diese Ausprägung des Geschichtsbilds zum Kolonialismus als romantisches Abenteuer auch mit Querverweisen in einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs einzubetten. Das nimmt den Druck von Anno als Spiel (und den Entwicklern) und auch die Schärfe der Forderung zu einem gewissen Grad heraus, zumal sich Spieler von Anno 1800 dann nicht unterschätzt fühlen müssen und man den Effekt des Spiels auch nicht überbetonen würde.
So, das reicht jetzt auch als Text-Wand, lieber Andre.
Tastenhauer