Tiefe Charaktere in Videospielen

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Tal Rusha
Beiträge: 76
Registriert: 8. Jun 2020, 21:52

Re: Tiefe Charaktere in Videospielen

Beitrag von Tal Rusha »

Wie kann es sein, dass in diesem Zusammenhang noch nicht das grandiose Enderal genannt wurde? :think:

Da fallen mir so viele großartige Figuren ein, deren unterschiedliche Charakterzüge und Weltanschauungen sich schlüssig aus ihren Erlebnissen und Erfahrungen ableiten lassen, ohne dass es jemals plump oder aufgesetzt wirkt. Allen voran Jespar, Calia und Arantheal. Es gibt nicht viele Spiele, in denen zusätzliche Dialoge mit NPCs als Extrabelohnung für abgeschlossene Quests funktionieren. Bei Enderal ist das der Fall.

Um mal ein Gegenbeispiel zu nennen: das jüngst von mir gespielte Remnant (eine Art Soulslike mit Schusswaffen) zeigt hingegen auf, wie unfassbar langweilig, uninteressant, nervig oder einfach nur dumm Chraktere leider auch sein können. Remnant hat ein tolles Gameplay, aber sobald einer den Mund aufmacht, wandert die flache Hand in Richtung Stirn...
Andreas29

Re: Tiefe Charaktere in Videospielen

Beitrag von Andreas29 »

Mich überrascht, dass hier noch nicht The Last of Us genannt wurde. Gerade zum Release des zweiten Teils.

Und wo wir bei Naughty Dog sind... auch wenn man das unsägliche "für Computerspiele" sagen muss... Uncharted charakterisiert seine Figuren auch pointierter als viele andere Vertreter.

Zum Beispiel Mass Effect: Nicht jeder Nebencharakter mag der Knaller sein, aber zumindest nimmt sich der 2. Teil die Zeit wirklich jedem eine persönliche Mission zu geben.
Tal Rusha
Beiträge: 76
Registriert: 8. Jun 2020, 21:52

Re: Tiefe Charaktere in Videospielen

Beitrag von Tal Rusha »

Hm, bei The Last of Us (ich rede von Teil 1, Teil 2 hab ich noch nicht gespielt) bin ich mir nicht sicher, ob die Faszination für die Charaktere wirklich durch die "Tiefe" begründet ist, oder nicht vielmehr durch die technisch perfekte Umsetzung, die einem das Ablesen von Emotionen durch die Mimik extrem erleichtert. Um bei meinem Beispiel zu bleiben: diese Möglichkeiten wird einem in Enderal durch die skyrimschen, starren Gesichtsmasken verwehrt.

Gerade bei Joel "stört" mich (wenn auch auf hohem Niveau) die doch sehr offensichtliche Ausgangslage: seine Tochter stirbt, und deshalb entwickelt er seinen Beschützerinstinkt gegenüber Ellie. Klar, das ist jetzt stark vereinfacht und nicht seine einzige Charaktereigenschaft, aber etwas Tiefgründigkeit fehlt mir dann doch, um The Last of Us als leuchtendes Beispiel für außergewöhnliche Charakter zu bezeichnen.
Andreas29

Re: Tiefe Charaktere in Videospielen

Beitrag von Andreas29 »

Tal Rusha hat geschrieben: 24. Jun 2020, 14:01 Gerade bei Joel "stört" mich (wenn auch auf hohem Niveau) die doch sehr offensichtliche Ausgangslage: seine Tochter stirbt, und deshalb entwickelt er seinen Beschützerinstinkt gegenüber Ellie.
Nun hier geht es ja um den Kontext, wie ich schon angedeutet habe. Die Charakterentwicklung von Joel ist im Geschichtenerzählen insgesamt über alle Medien hinweg sicher kein Meilenstein. Aber hier geht es ja um Games und vergleichbar mit 90% der anderen Spiele bis dahin (und ich würde auch behaupten seither) ist das zum Vergleich auf dem Niveau von Citizen Kane.

Denk dran: Bei Computerspielen ist es noch gar nicht so lange her, dass man am Anfang eine Waffe in die Hand bekommt und dann das Spiel startet. Und das war es dann mit "Charakterentwicklung".
Und einige Genres schließen Chrakterentwicklung sogar aus.

Und bei The Last of Us geht es natürlich auch um die Umsetzung. Die Schauspieler sind grandios und die Dialoge bringen es einfach auf den Punkt. Es geht auch darum, wie pointiert das ist.
Tiefe eines Charakters zu erreichen muss nicht unbedingt heißen, dass man besonders viel Zeit mit ihm verbringt. Manche RPGs kriegen in 100 Stunden nicht hin, was TLoUs am Anfang in 15 Minuten mit Sarah macht.
Tal Rusha
Beiträge: 76
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Re: Tiefe Charaktere in Videospielen

Beitrag von Tal Rusha »

Ok, dann sind wir uns ja einig ;)
"Gute Charakterzeichnung für ein Spiel": Ja.
"Gute Charakterzeichnung": Naja. Passt schon.

Mir war vor allem der Punkt mit der schwierigen Vergleichbarkeit angesichts der unterschiedlichen technischen Umsetzung zwischen verschiedenen Spielen wichtig. Ich kann mich z.B. bei Witcher 3 an mehrere Dutzend NPCs erinnern, obwohl ich das Spiel seit Jahren nicht mehr gespielt habe. Das liegt aber ebenfalls hauptsächlich an den ausdrucksstarken, unterscheidbaren Gesichtern, der Mimik und der Vertonung. Doch bei Lichte betrachtet sind die meisten auch nur Abziehfiguren (komischer Ausdruck, wo kommt der eigentlich her? :think: ), wenn auch sehr sympathische. Zoltan ist der rauflustige Zwerg, Vesemir der weise Lehrmeister, Rittersporn der selbstverliebte Künstler usw.
Das hört sich jetzt irgendwie nörgeliger an als ich es meine. Auch solche etwas oberflächlichen, aber trotzdem sympathischen Figuren kann man ja ins Herz schließen. Das ist bei Spielen nicht anders als im Real Life :lol:
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Guthwulf
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Re: Tiefe Charaktere in Videospielen

Beitrag von Guthwulf »

Tal Rusha hat geschrieben: 24. Jun 2020, 15:23Ok, dann sind wir uns ja einig ;)
"Gute Charakterzeichnung für ein Spiel": Ja.
"Gute Charakterzeichnung": Naja. Passt schon.
Da bin ich dann aber doch anderer Meinung. Last Of Us hat auch medienunabhängig eine sehr gute Charakterzeichnung, insb. im Fall von Joel.

Ellie gefällt mir, weil sie es mit ihr schaffen, an Stereotypen vorbeizuschrammen und stattdessen ein sehr realistisches und natürliches Bild eines (manchmal bissel aufmüpfigen, neugierigen aber auch schon lebenserfahrenen) Teenagers in dieser postapokalyptischen Welt zu zeichnen. Gute Charakterzeichnung ist nicht gleichbedeutend mit "großen emotionalen Konflikten". Bei ihr sind es die vielen kleinen Nuancen, die sie zu einer "glaubwürdigen Person" statt einem eindimensionalen Abziehbild machen.

Joel hingegen ist offensichtlich ein sehr komplizierter und ambivalenter Charakter. Klar spielen der sich entwickelnde "Beschützerinstinkt" zu Ellie und sein Trauma aus dem Prolog maßgebliche Rollen bei seiner Charakterisierung, aber es gibt so viele Zwischentöne und Konflikte, wenn man genauer hinschaut. Er hat offensichtlich keine Probleme mit Verbrechen, scheut nicht vor Brutalität zurück, um seine Ziele zu erreichen und ist generell erschreckend kompromisslos (und empathielos gegenüber Leuten außerhalb seines unmittelbaren "Familienkreises").

Wie Tess sagte: "We're shitty people Joel"! Aber er ist eben auch nicht einfach nur "gut" oder "böse"

Auch seine Beziehung zu Ellie und die finale Entscheidung kann man unterschiedlich interpretieren... Achtung Spoiler:
SpoilerShow
Er sträubt sich lange Zeit gegen Ellie, aber wie er am Schluss selber sagt, er braucht einen Grund, um weiter zu kämpfen. Tess ist tot und er hat keinen wirklichen Platz in der Welt mehr. "Rettet" er Ellie (und verdammt damit die gesamte Menschheit) wirklich, weil sie ihm soviel bedeutet oder geht es eigentlich nur darum, seine eigene Leere zu füllen? Geht es ihm um Ellie oder doch nur um sich selbst? Wenn es "selbstlos" im Interesse von Ellie ist, warum dann die Lüge am Ende, die Ellie jeder eigenen "Agency" beraubt?
Wie gesagt... viele ambivalente Signale und Grautöne mit vieeeel Platz zum diskutieren und interpretieren.
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Cthalin
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Re: Tiefe Charaktere in Videospielen

Beitrag von Cthalin »

Bei Ellie geh ich mit dir. Ich fand es auch erfrischend mal nicht nur ein nerviges, ängstliches Kind am Hacken zu haben, sondern eine hadernde, aber fähige Person. Bei Joel hingegen hab ich das überraschend anders wahrgenommen (habe das Spiel gestern grad beendet). Du beschreibst ihn als "kompromisslos" und "scheut nicht vor Brutalität" um seine Ambivalenz darzustellen. Das sind aber halt die typischen Tropes von Videospielcharakteren, gerade die männlichen. Ist doch exakt das (Gameplay-)Verhalten von sovielen verschiedenen Spielen. Manche verbinden diese Seiten ganz gut mit den Sequenzen und der Story, bei anderen hingegen stößt dann eben die Diskrepanz zwischen Story und Gameplay sauer auf (ludonarrative Dissonanz war das Wort, stimmt :D).
Am schönsten fand ich noch die kurzen Szenen in denen er hilflos nach Ellies Wohlergehen fragte, aber mit ihrer abweisenden Art nichts anzufangen wusste weil er halt 'n emotionaler Klotz ist. :lol: Aber dass er halt seinen Beschützerinstinkt mit ihr auslebt, halte ich auch für eine recht flache Charakterisierung, wo uns das Spiel doch zu Beginn schön traurig einhämmert warum das so ist. Andere Szenen wie das Treffen mit seinem Bruder zeichnen einfach nur weiter das Bild eines recht aufbrausenden, ruppigen Mannes - nur eine große Charakterentwicklung fehlt mir über das Spiel halt.

Btw finde ich die Argumentation "Ja eigentlich ist's ne dumme Story, aber für ein Videospiel..!" echt bedenklich. Das ist halt so... ich weiß nicht, billig? Nur weil es nur wenig Fokus auf vernünftige Geschichten und glaubwürdige Charaktere im Medium gibt, muss man sich damit ja nicht zufrieden geben. Das führt dann halt nur zu so Stilblüten wie den Vergleich von TLOU2 mit Schindler's Liste. :roll: (Dazu ist Jim Sterling's Beitrag wieder grandios mMn https://www.youtube.com/watch?v=-Wt4Q6AnhLk)
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Ironic Maiden
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Re: Tiefe Charaktere in Videospielen

Beitrag von Ironic Maiden »

Cthalin hat geschrieben: 24. Jun 2020, 20:50
Btw finde ich die Argumentation "Ja eigentlich ist's ne dumme Story, aber für ein Videospiel..!" echt bedenklich. Das ist halt so... ich weiß nicht, billig? Nur weil es nur wenig Fokus auf vernünftige Geschichten und glaubwürdige Charaktere im Medium gibt, muss man sich damit ja nicht zufrieden geben. Das führt dann halt nur zu so Stilblüten wie den Vergleich von TLOU2 mit Schindler's Liste. :roll: (Dazu ist Jim Sterling's Beitrag wieder grandios mMn https://www.youtube.com/watch?v=-Wt4Q6AnhLk)
Meine Güte, bei solchen Kontroversen frage ich mich wirklich, warum es sich irgendjemand freiwillig antut, Spielekritiker zu werden. Als jemand, der Jeff Cannatas Slashfilmcast seit sicherlich sechs oder sieben Jahren wöchentlich hört, und die Filmbesprechungen dort für exzellent und den Podcast für ein Vorbild an Ausgewogenheit und Seriösität hält (plus nicht mehr auf Jeffs Kurzkritiken in Limerick-Form verzichten will), finde ich es wirklich erbärmlich, wie so ein - vielleicht nicht ganz so toll formulierter Tweet - so einen Sturm entfacht. Haben die Leute nichts anderes zu tun?!

Zum Thema: Ich finde, einer der besten und tiefsten Charaktere ist Arthur Morgan in "Red Dead Redemption 2" und zwar gerade, weil er sich nicht verändert. Arthurs "tragic flaw" ist seine Loyalität zu Dutch und der Gang. Obwohl er sieht, dass alles immer weiter den Bach runtergeht, kann er sich nicht von der Gang lossagen. Und das finde ich besonders in einem Spiel spannend, weil das Spiel ja impliziert, dass man sowas wie Entscheidungsfreiheit hat. Und die hat Arthur eigentlich nicht. Bei einem anderen Spiel fände ich das doof, ich hasse es, wenn so getan wird, als hätten die eigenen Entscheidungen riesige Auswirkungen, und dann ist das nur Fassade. Aber bei RDR2 funktioniert das. Ich sehe das Spiel eigentlich als Tragödie zum Spielen, die einen die Unausweichlichkeit der schlussendlichen Katastrophe am eigenen Leib erfahren lässt. (Ich bin froh, dass nicht jedes Spiel so ist, eigentlich funktioniert das nur einmal. Und es funktioniert auch, weil ich zwischendurch so viel Spaß beim Zelten und Angeln hatte...)
Dutch fand ich als Figur wesentlich unüberzeugender, da man ihn eigentlich nie auf der Höhe seiner Fähigkeiten erlebt, sondern erst sieht, als schon alles abwärts geht, und da fand ich ihn dann nicht sehr konsistent.
In Wirklichkeit bin ich Janna und podcaste hier ab und zu. Und in echt bin ich auch nicht so grün und flauschig wie auf dem Profilbild. Man kann mich auch auf Bluesky finden.
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olipool
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Re: Tiefe Charaktere in Videospielen

Beitrag von olipool »

Hm ich weiß nicht, ob Cloud Strife (FF7) da in dein Schema fällt? Der Charakter ist eher komplex und wird im Lauf des Spiel wie eine Zwiebel aufgepellt und die Backstory freigelegt. Eine große Entwicklung habe ich da nicht mehr im Hinterkopf.
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