overTIMe hat geschrieben: ↑28. Jun 2020, 22:16
(1) JuristInnen: Als jemand, der gen Ende seines Jurastudiums geht und beinahe ein halbes Jahr in sog. „Großkanzleien“ gearbeitet hat, habe ich beobachtet, dass es bestimmte Unternehmen (Kanzleien) gibt, die bewusst die absolute Elite raussucht, oft auch nicht formal absurde Wochenstunden fordern, aber sich eine Unternehmenskultur aus der MitarbeiterInnenschicht heraus bildet, die dazu führt, dass es vollkommen normal ist, aufwärts der 60 bis teilw. 70 Wochenstunden zu arbeiten (im Durchschnitt). Jeder, der sich dazu entscheidet, sich dort zu bewerben, weiß exakt, was ihn/sie erwartet. Ja, sie werden auch fürstlich bezahlt. Ich tippe aber, dass die Naughtydog-MitarbeiterInnen ebenfalls nicht am Hungertod nagen. Sie sind ebenfalls die absolute Elite ihrer Branche der EntwicklerInnen. Jede/r von ihnen, könnte sich jederzeit anderswo einen ruhigeren Job suchen (Stichwort: auf dem Lebenslauf haben, wie im Podcast besprochen wurde). Und jede/r von ihnen wird sich dessen bewusst sein, sowohl dass sie der absoluten Elite zustoßen, an die die dementsprechenden Erwartungen gestellt werden, als auch dass sie mit ihren Fähigkeiten nicht auf die Stelle angenommen worden wären und mithin auch überall sonst mit Handkuss aufgenommen werden würden.
Okay, nicht ganz on Topic, aber hier kommen ein wenig meine väterlichen (großbrüderlichen?) Gefühle hoch.
Als jemand, der ein paar Jahre Vollzeit in einem solchen Laden war: Wenn Du Großbutzen brauchst, um ein Arbeitsmodell zu rechtfertigen, bist Du auf einem gaaanz schlechten Weg. Die dortige Arbeitsweise, Arbeitskultur und die wirkenden Mechanismen sind nicht gesund, nicht repräsentativ und auch in der juristischen Welt mehr als umstritten. Und schon gar nicht "normal". Im Gegenteil, ich finde sie deutlich toxischer und in dem Aufbau deutlich perfider als das klassische "Meister brüllt" oder "Middle Management dreht am Rad":
Weil es ja gerade KEIN Druck im Sinne von Facetime und "Associate Arsch, warum waren Sie gestern um 21:00 schon weg? Halbe Stelle oder wie?" gab (jedenfalls bei uns, woanders auch anders), wirkt das System noch viel dramatischer: Man hat keinen "Buhmann", und fängt an, sich einzureden es wäre ja schon irgendwie intrinsisch cool, man die 0,1% die es halt können. Bei allen anderen gehts ja auch. Und Dein Partner ist ja eher sowas wie der große Bruder, im gleichen Boot, alle eine happy family (die nicht etwa so krass von Deinen Billables profitiert).
Das macht das Eingeständnis/die Realisierung, dass es eben doch nix anderes als ein gut bezahltes, aber nichtsdestotrotz krass ausbeuterisches System ist, was Dich in den besten Jahren auswringt, aber dann zurücklässt, deutlich unangenehmer - man glaubt eben, es läge an einem selbst, nicht an den absurden Rahmenbedingungen.
(Muss ich Dir sicher nicht sagen, aber die Chancen auf ne Partnerernennung sind grade in den hoch geleveragten Butzen wie den Frischen oder dem örtlichen CMS-Franchise ganz kurz vor Lotto.)
Ferner als Anekdote am Rande: Bei einer Veranstaltung letzten Herbst, also deutlich vor Corona, hat mein alter Partner mir sein Leid geklagt, dass kanzleiweit nur noch 30% bis 50% der Bewerbungen reinkommen wie in den Jahren vorher. Das Prädikats-Gewichse kann man sich nur noch mit Hängen und Würgen leisten, es dient ohnehin fast nur der Außendarstellung. Also auch hier beginnt es an den Rändern, ein wenig auszufransen.
Und sooo fürstlich wird man - auf die Stunden runtergebrochen - auch nicht bezahlt. Klar, jetzt als Syndikus gibts weniger Kohle, aber dafür 37,5h und Rausgehen bei Tageslicht, Lehrauftrag nebenbei passt auch easy rein.
Will sagen: Selbst wenn man sich bei Naughty Dog für das Freshhengeler Watlaters & Clearywell der Softwareschmieden hält macht es das nicht besser. Ganz im Gegenteil - bei den örtlichen FAANGs bekämen gleich qualifizierte Coder und UI-/UX-Guys sicher deutlich mehr Kohle.