rammmses hat geschrieben: ↑29. Mär 2021, 15:54
Andre hat es am besten auf den Punkt gemacht mit seinem "no stakes", genau das war auch mein Problem. Nach dem spannenden Einstieg ging es irgendwie um nichts, alle Konflikte lösen sich viel zu schnell auf. Bin bis zum Schluss dran geblieben, weil ich irgendwie noch ein Action-Finale, eine schockierende Wendung oder IRGENDWAS erwartet habe, aber da kommt nichts. Was war das denn? Die Erklärung mit dem Feel-Good-Spiel für die eigene Filterblase finde ich ganz unterhaltsam, vielleicht ist da was dran.
Ich glaube, bei meinem Versuch herauszufinden, warum anderen Leuten diese Spiele nicht gefallen, hilft mir dieser Post sehr. Denn auch hier blicke ich verwirrt drauf und kann mir auf ner ehrlichen Art und Weise die Argumentation dahinter nicht begreifbar machen.
In diesem Spiel werden die folgenden Themen behandelt und entwickelt:
- Zwei Geschwister versuchen nach zehnjähriger Trennung wieder zusammenzufinden, nachdem sie unfreiwillig und hart auseinander gerissen wurden
- Sie versuchen Frieden mit ihrer Mutter zu finden, von der sie annehmen, dass sie den Bruder umbringen wollte
- Tyler kommt an den Ort zurück, der ihn noch als "Mädchen" kennt und muss sich mit der Geschichte der Mutter und ihrer möglichen Transphobie ihm gegenüber auseinandersetzen
- Sie erfahren die Geschichte der Mutter, die als Kind aus ihrem eigenen Elternhaus geflohen ist und zwischenzeitlich ein Kind verloren hat, von dem sie nie etwas erzählt hat
- Sie erfahren außerdem, dass die Mutter depressiv war und sich am Schluss möglicherweise versucht hat umzubringen.
- Im Kontext dessen spielt eine Rolle, dass ihre beste Freundin zuvor das Jugendamt informiert hat und die Gefahr bestand, dass der Mutter die Kinder weggenommen werden. Das spiegelt für sie den Verlust ihres ersten Kindes wieder, was ihre Depression erst dramatisch verschlimmert hat
- Alison findet im Laufe des Spiels heraus, dass sie die Depression ihrer Mutter geerbt hat und je nach Spielerentscheidungen arbeitet sie das auf mehr oder weniger konstruktive Arten und Weisen auf
Ich kann mir nicht erklären, wie man hier argumentieren kann, dass keine Stakes vorhanden sind. Das hier ist ein Level an Dramatik und emotionaler Intensität, die weit über das hinausgeht, was Menschen normalerweise in ihrem Leben durchmachen müssen. Ein einziger Plotpoint meiner Liste im Spoiler-Tag reicht, um Stakes zu schaffen, die ein komplettes Spiel tragen könnten. Und genauso ist mein Spielerlebnis verlaufen:
Als mir das Spiel am Anfang erklärt hat, dass es um Geschwister handelt, sie sich voneinander unfreiwillig entfremdet haben, wurden die Stakes aufgebaut, dass sie vielleicht nicht mehr zusammen finden werden und feststellen müssen, dass sie sich auseinander gelebt haben. Recht früh gibt es die Szene, in der Alison Tyler einen Ring geben will, den sie von ihrem Ziehvater bekommen hat, der damals aber dafür gesorgt hat, dass Tyler die Heimatstadt verlassen musste. Ich habe zehn Minuten überlegt, was ich mit diesem Ring machen soll. Nimmt Tyler ihn an, verdrängt er seine unaufgearbeitete emotionale Frustration gegenüber dem Ziehvater. Nimmt er ihn nicht an, stößt er Alison vor den Kopf, für die ihr Ziehvater ein liebevoller Teil ihrer neuen Familie ist, die Tyler nicht mehr unmittelbar miterlebt hat. Diese Szene ist großartig, weil sie deutlich macht, dass sich beide in diesen 10 Jahren in eine neue Richtung entwickelt haben, die nicht mehr direkt kompatibel für die andere Person ist.
Dass die Stakes, die Geschwister könnten nicht mehr zusammenfinden, sehr groß sind, merkt man auch daran, dass dieses Szenario eines der möglichen Enden ist. Und das Ende, in dem sie sich am Ende entfremdet haben und ein sehr unangenehmes Telefongespräch miteinander führen, ist in meinen Augen wirklich sehr deprimierend.
In diesem Kontext finde ich es auch super befremdlich, dass man Tell Me Why ein "Feel-Good-Spiel" nennt. Es ist eines der Spiele der letzten Jahre, das die emotional intensivsten Themen behandelt. Es ist an einigen Stellen auf die bestmögliche Art und Weise anstrengend und furchtbar deprimierend. Und das liegt auch daran, dass es sich Zeit nimmt, die Charaktere intensiv auszuarbeiten.
Was erwartet ihr denn als Finale für so ein Spiel? Eine Motorradverfolgungsjagd? Eine überraschende Zombieapokalypse am Ende? Das letzte Spiel mit dieser emotionalen Intensität war in meinen Augen "What Remains Of Edith Finch". Aber auch dieses Spiel hat sehr bewusst das Stilmittel der Übertreibung genutzt, um emotionale Konflikte auf eine eher metaphorische Art und Weise darzustellen. Tell Me Why hat weniger Metapher, aber in meinen Augen deutlich mehr Konflikt (siehe ersten Spoilertag). Aber anscheinend hat der Verlust der Metapher dafür gesorgt, dass Spieler*innen auf z.B. die super komplizierte Beziehung der Geschwister blicken und sich trotzdem denken: "Die haben ja gar keine Probleme! Warum hat man denn hier so ein Feel-Good-Spiel gebaut?"