Runde #312: Tell me why

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Terranigma
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Re: Tell Me Why

Beitrag von Terranigma »

DickHorner hat geschrieben: 29. Mär 2021, 19:28Die Sexualität des Max wird dabei nur implizit thematisiert. Sie ist für die Prämisse nachrangig und steht an dieser Stelle nur stellvertretend für den logischen Sinnzusammenhang der Projektion der intrasubjektiven Gefühlswelt des Max Payne. Bei Mr. Burns wär's Bobo, bei Max Payne halt Ehefrau und Kind.
Vorweg: Wir sind da wohl einer Ansicht, ich habe mich da ggf. nur ungenau ausgedrückt. Max' Sexualität ist in dem Titel in der Form essentiell, dass die Handlung - so, wie sie für das Spiel geschrieben ist - eben maßgeblich darauf aufbaut, nämlich auf seiner (hetero-)sexuellen Beziehung zu seiner Frau, aus der auch ein Kind erwuchs. Dass die Handlung - "Person verliebt geliebte Menschen und nimmt Rache" - prinzipiell mit vielen anderen Konstellationen möglich wäre, da hast du Recht.


Ich würde allerdings widersprechen, dass seine Sexualität nur implizit thematisiert wird, immerhin ist seine Familie mit Mutter, Vater und Kind ja der Ausgangspunkt der Rachegeschichte. Ist wohl eine Frage der Definition, wie man hierbei nun "explizit" und "implizit" definiert. Stimmt natürlich, dass Max Payne sich nie Gedanken über seine Heterosexualität macht oder seine Heterosexualität an sich zum Thema der Handlung wird, so wie's z.B. beim Character Arc von Dorian in DA:I der Fall ist.

Aber wenn man dies als "implizite" Thematisierung bezeichnet, tut man sich glaube ich in der Analyse keinen Gefallen, weil Heterosexualität somit per se zur reinen Implikation reduziert wird, eben weil in einem heteronormativen Kontext die Heterosexualität an sich nie zur Disposition gestellt wird, sondern ausschließlich die Abweichung von derselbigen. Heterosexualität wäre gemäß dieser Definition somit nie "explizit" das Thema einer Handlung, weil mir keine einzige Geschichte bekannt ist, in der eine Figur mit ihrer Heterosexualität hadert. Unter "implizit" würde ich verstehen, dass etwas nur angedeutet wird. Aber in Max Payne betreten wir ja u.a. sein Haus, sehen das Ehebett und er spricht in Monologen mehrfach von seiner Ehefrau und seinem Kind. Dies würde ich als "explizit" bezeichnen. Ist aber wohl eine Frage der Definition. Verstehe jedenfalls deinen Punkt.


Als Randnotiz, weil mir dieser Gedanke seit'ner Weile durch den Kopf geht und es mich ehrlich gesagt ziemlich wurmt: Selbst die in Fantasy-Titeln entworfenen Gesellschaften, welche Autoren ja irgendwie schreiben könnten, sind in allen mir bekannten Fällen heteronormativ. Man traut es den Spielern zu sich in komplexe und verworrene Lores, in die Perspektive von Elfen, Zwergen und Gedönse einzudenken, aber Autoren fehlt es offenbar am Vorstellungsvermögen, sich eine fiktive Gesellschaft vorzustellen, in der Mann+Mann und Frau+Frau der Standard sind, weil ... ja, keine Ahnung. Dabei ließen sich da doch allerlei nette, schrullige oder auch faszinierende Geschichten erzählen. Das ist doch Storygold!
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Jochen Gebauer
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Re: Tell Me Why

Beitrag von Jochen Gebauer »

Heretic hat geschrieben: 29. Mär 2021, 12:00Das habe ich nicht so empfunden. Falls das so sein sollte, trifft das imo nur auf die erste Folge zu. Danach ist das Thema vom Tisch, weil es für die Handlungen der Mutter nicht von Belang war
Das stimmt nicht. Das emotionale Trauma dieser Nacht begleitet Tyler bis zum Finale. Das ist mithin der zentrale Charakterkonflikt der Figur Tyler, die abgesehen vom Transsein eigentlich keinen nennenswerten Charakter besitzt. Sekunde ...
Jochen Gebauer hat geschrieben: 28. Mär 2021, 22:07Die Transgender-Thematik dient als Aufhänger und soll den Spieler auf eine falsche Fährte locken. Das kann man machen, ohne Trans-Menschen gegenüber respektlos zu sein
Puh. Das kann man - im Sinne von theoretisch denkbar - natürlich schon machen, aber wenn man die Nöte und Probleme einer gesellschaftlich völlig unterrepräsentierten Gruppe auf eine so plakative und exploitative (im Sinne von: nur benutzt, für den Twist) Weise aufgreift, dann darf man sich über den Vorwurf der Respektlosigkeit nicht wundern. Zumal es einfach seltsam ist, wenn man einerseits einen Safe Space für Transsexuelle haben will (kein Deadnaming, kein Shaming usw.), aber gleichzeitig den denkbar traumatischsten Aufhänger nimmt, bloß um dann "April, April" zu rufen.
Im Gegenteil, es impliziert Normalität. Tyler ist einfach ein Teil der Geschichte, er ist nur ein normaler Mensch mit einem nicht ganz alltäglichen Hintergrund
So, zurück zur Sekunde von oben. Fände ich toll, wenn es stimmen würde. Stimmt aber nicht. Tyler ist eben kein "normaler" Mensch, sondern wird in nahezu jeder Hinsicht durch sein Transsein und seine Vergangenheit als Trans charakterisiert. Damit meine ich natürlich nicht, dass Transmenschen keine normalen Menschen wären, sondern dass Tyler abgesehen von seinem Transsein kein hervorstechendes Merkmal besitzt und die wenigen Merkmale, die er besitzt, allesamt in Zusammenhang mit seinem Transsein bzw. seiner Vergangenheit und dem zentralen Trans-Konflikt stehen. Man könnte sogar mit einiger Legitimation behaupten, dass ihn der vermeintliche Anti-Trans-Mordversuch der Mutter überhaupt erst zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist bzw. als der er heute dargestellt wird.

Wenn ich eine Figur so zentral, unmittelbar und untrennbar mit ihrer sexuellen Identität verknüpfe, dann kann ich danach nicht einfach bloß eine Mystery-Story erzählen. Also ... ich kann natürlich schon, aber dann sollte ich mich nicht wundern, wenn der Bait&Switch kritsiert wird.

Unterm Strich reicht es mir halt einfach nicht, dass Tyler eine positive Trans-Figur ist. Das meine ich im Podcast auch mit Onkel Tom, wenngleich der Begriff natürlich sehr zuspitzend ist. Aber ich will keine positiven Trans-Figuren, ich will glaubhafte, dreidimensionale, vielschichtige, menschliche Trans-Figuren, ob positiv, negativ, wie auch immer. Ich will Geschichten, die ihre Trans-Figuren ernst nehmen und nicht auf ihr Trans-Sein reduzieren, die sie als Menschen mit Stärken und Schwächen, mit Vorurteilen und Großartigkeiten zeigen. Tyler ist eine coole Kunstfigur, aber er hätte so viel besser sein können, wenn man ihm erlaubt hätte, etwas anderes als Trans zu sein. Nicht, weil Transsein falsch wäre. Sondern weil sexuelle Identität nie alles ist.
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Fouriety
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Re: Tell Me Why

Beitrag von Fouriety »

Vereinzelt hat die Spielepresse übrigens durchaus die Punkte kritisiert, die auch im Podcast zur Sprache kamen. Hier zum Beispiel (hinter der Paywall) könnte man (ohne das Erscheinungsdatum) fast meinen, da wurde der Podcast gehört und zusammengefasst. :D

War aber eine sehr gute Sonntagsfolge, auch wenn ich jetzt in der lustigen Situation bin, das Spiel gerne gespielt zu haben und die Kritik aus dem Podcast trotzdem so unterschreiben zu können. :D Aber hey, ich liebe auch das erste LiS, obwohl ich einige Stellen für etwas problematisch halte.
Mastertronic
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Re: Tell Me Why

Beitrag von Mastertronic »

ElFabio hat geschrieben: 29. Mär 2021, 19:42 Sehr guter Podcast.
Bei mir hat Tell me why überhaupt nicht gezündet. Nach dem Spielen hatte ich das Gefühl meine Zeit verschwendet zu haben.
Ich konnte aber nicht sagen, woran das lag.
Nach dem hören weiß ich es jetzt: Die ganze Geschichte hat einfach keinen Sinn ergeben.
Mastertronic hat geschrieben: 29. Mär 2021, 11:02Es ist zwar schon sehr lange her, dass ich Max Payne gespielt habe , aber meines Erachtens wurde die Sexualität da gar nicht thematisiert
Es werden Frau & Kind ermordet, nicht sein Ehemann + Adoptivkind. - Zitat André

+1 :ugly: :lol:
Hey- ich hab doch schon zugegeben, dass ich da Bullshit geschrieben habe - aber immer schön Salz in die Wunde... :D
oathlizard
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Re: Tell Me Why

Beitrag von oathlizard »

Also ich bin noch nicht ganz mit der ersten Episode fertig, hab aber den Podcast schon mal bis zur Stelle mit dem "dümmsten Rätsel der Spielegeschichte" gehört :D

Ich wollt grad mal sagen, ich fand das Tür-Rätsel gar nicht so schlecht hergeleitet. :oops:
Ich weiß natürlich nicht, was noch kommt. Aber an der Stelle dachte ich mir eher:

"Hey, das war einfach eine liebevolle Aktion von der Mutter, die ihren Kindern eine Freude machen wollte."

Ich hatte nämlich schon das Gefühl, dass bisher Tyler und seine Schwester als ziemlich "unzuverlässige Erzähler" wirkten, ins Besondere bei allem, was mit ihrer Mutter zusammenhängt. Kann ja sein, dass das hinterher alles total falsch ist. Aber an der Stelle, dachte ich mir wie gesagt einfach: "Schöne Aktion von der Mutter" - "Von den Kindern komplett falsch interpretiert im Nachhinein, damit es in ihr Narrativ passt"
ElFabio
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Re: Tell Me Why

Beitrag von ElFabio »

Mastertronic hat geschrieben: 30. Mär 2021, 01:14 Hey- ich hab doch schon zugegeben, dass ich da Bullshit geschrieben habe - aber immer schön Salz in die Wunde... :D
Sorry wollte ich nicht. Hab nur die Posts gelesen und fands einfach amüsant.
Aber kann Salz nicht auch eine Wunde desinfizieren? Siehste - ich habs nur gut gemeint :D
rammmses
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Re: Tell Me Why

Beitrag von rammmses »

Fährmann hat geschrieben: 29. Mär 2021, 17:00
rammmses hat geschrieben: 29. Mär 2021, 15:54 Andre hat es am besten auf den Punkt gemacht mit seinem "no stakes", genau das war auch mein Problem. Nach dem spannenden Einstieg ging es irgendwie um nichts, alle Konflikte lösen sich viel zu schnell auf. Bin bis zum Schluss dran geblieben, weil ich irgendwie noch ein Action-Finale, eine schockierende Wendung oder IRGENDWAS erwartet habe, aber da kommt nichts. Was war das denn? Die Erklärung mit dem Feel-Good-Spiel für die eigene Filterblase finde ich ganz unterhaltsam, vielleicht ist da was dran.
Ich glaube, bei meinem Versuch herauszufinden, warum anderen Leuten diese Spiele nicht gefallen, hilft mir dieser Post sehr. Denn auch hier blicke ich verwirrt drauf und kann mir auf ner ehrlichen Art und Weise die Argumentation dahinter nicht begreifbar machen.

In diesem Spiel werden die folgenden Themen behandelt und entwickelt:
SpoilerShow
- Zwei Geschwister versuchen nach zehnjähriger Trennung wieder zusammenzufinden, nachdem sie unfreiwillig und hart auseinander gerissen wurden
- Sie versuchen Frieden mit ihrer Mutter zu finden, von der sie annehmen, dass sie den Bruder umbringen wollte
- Tyler kommt an den Ort zurück, der ihn noch als "Mädchen" kennt und muss sich mit der Geschichte der Mutter und ihrer möglichen Transphobie ihm gegenüber auseinandersetzen
- Sie erfahren die Geschichte der Mutter, die als Kind aus ihrem eigenen Elternhaus geflohen ist und zwischenzeitlich ein Kind verloren hat, von dem sie nie etwas erzählt hat
- Sie erfahren außerdem, dass die Mutter depressiv war und sich am Schluss möglicherweise versucht hat umzubringen.
- Im Kontext dessen spielt eine Rolle, dass ihre beste Freundin zuvor das Jugendamt informiert hat und die Gefahr bestand, dass der Mutter die Kinder weggenommen werden. Das spiegelt für sie den Verlust ihres ersten Kindes wieder, was ihre Depression erst dramatisch verschlimmert hat
- Alison findet im Laufe des Spiels heraus, dass sie die Depression ihrer Mutter geerbt hat und je nach Spielerentscheidungen arbeitet sie das auf mehr oder weniger konstruktive Arten und Weisen auf
Ich kann mir nicht erklären, wie man hier argumentieren kann, dass keine Stakes vorhanden sind. Das hier ist ein Level an Dramatik und emotionaler Intensität, die weit über das hinausgeht, was Menschen normalerweise in ihrem Leben durchmachen müssen. Ein einziger Plotpoint meiner Liste im Spoiler-Tag reicht, um Stakes zu schaffen, die ein komplettes Spiel tragen könnten. Und genauso ist mein Spielerlebnis verlaufen:
SpoilerShow
Als mir das Spiel am Anfang erklärt hat, dass es um Geschwister handelt, sie sich voneinander unfreiwillig entfremdet haben, wurden die Stakes aufgebaut, dass sie vielleicht nicht mehr zusammen finden werden und feststellen müssen, dass sie sich auseinander gelebt haben. Recht früh gibt es die Szene, in der Alison Tyler einen Ring geben will, den sie von ihrem Ziehvater bekommen hat, der damals aber dafür gesorgt hat, dass Tyler die Heimatstadt verlassen musste. Ich habe zehn Minuten überlegt, was ich mit diesem Ring machen soll. Nimmt Tyler ihn an, verdrängt er seine unaufgearbeitete emotionale Frustration gegenüber dem Ziehvater. Nimmt er ihn nicht an, stößt er Alison vor den Kopf, für die ihr Ziehvater ein liebevoller Teil ihrer neuen Familie ist, die Tyler nicht mehr unmittelbar miterlebt hat. Diese Szene ist großartig, weil sie deutlich macht, dass sich beide in diesen 10 Jahren in eine neue Richtung entwickelt haben, die nicht mehr direkt kompatibel für die andere Person ist.

Dass die Stakes, die Geschwister könnten nicht mehr zusammenfinden, sehr groß sind, merkt man auch daran, dass dieses Szenario eines der möglichen Enden ist. Und das Ende, in dem sie sich am Ende entfremdet haben und ein sehr unangenehmes Telefongespräch miteinander führen, ist in meinen Augen wirklich sehr deprimierend.
In diesem Kontext finde ich es auch super befremdlich, dass man Tell Me Why ein "Feel-Good-Spiel" nennt. Es ist eines der Spiele der letzten Jahre, das die emotional intensivsten Themen behandelt. Es ist an einigen Stellen auf die bestmögliche Art und Weise anstrengend und furchtbar deprimierend. Und das liegt auch daran, dass es sich Zeit nimmt, die Charaktere intensiv auszuarbeiten.
Ich weiß ja nicht, die Entfremdung der Geschwister steht ja nicht wirklich im Mittelpunkt, jedenfalls ging es in meiner Erinnerung mehr um die Aufarbeitung des Todes der Mutter und die Konflikte mit diversen anderen Figuren, die sich aber alle immer sofort in Luft auflösen. Man könnte den Seelenfrieden der beiden sicher als "Stakes" definieren, aber auch dann ist nichts "at stake", jedenfalls kann ich mich keine depressiven Gespräche, große Streits oder gar Selbstmordgedanken und Ähnliches erinnern, die Premisse ist vielleicht da, aber das Spiel unternimmt doch keinerlei Versuch, die emotionale Tragweite des Schicksals der beiden Figuren auch nur ansatzweise zu beleuchten. Die sind immer gut drauf und alle sind nett zueinander. Eben ein "Feel-Good-Spiel". ;)
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Gonas
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Re: Tell Me Why

Beitrag von Gonas »

rammmses hat geschrieben: 31. Mär 2021, 18:57 Die sind immer gut drauf und alle sind nett zueinander. Eben ein "Feel-Good-Spiel". ;)
Also nett zueinander meist schon, auch wenn es mal zum Streit zwischen den Geschwistern kommt, aber gut drauf? Das habe ich überhaupt nicht so wahrgenommen. Beide haben da so ihre Krisen.
Man mag dies halt ausblenden oder vergessen weil diese Probleme schnell wieder durch andere Erlebnisse und Gefühle überschattet werden. Für mich was aber auch immer präsent, dass beide, heiterer Momente zum Trotz, auch durch verschiedene Sachen mindestens niedergeschlagen, wenn nicht erschüttert, sind.
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Fährmann
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Re: Runde #312: Tell me why

Beitrag von Fährmann »

Die beiden sind natürlich nett zueinander, weil sie sich wünschen, ein besseres Verhältnis zueinander zu haben. Und sie geben sich Mühe, das zu erreichen. Abgesehen davon, dass es viele Gründe gibt, weswegen du nett zu einem Menschen sein solltest, mit dem du die kommenden Tage verbringen musst.

Als "gut drauf" empfinde ich die beiden aber nur in den seltensten Fällen. Sie wirken sehr von den alten und neuen Problemen getrieben, die sie in diese neue Situation mitreingebracht haben. Nur die wenigsten ihrer Handlungen sind unbeschwert und fast jeder Dialog ist mit Untertönen aufgeladen. Hinzu kommt, dass bei Alison zwischenzeitlich Depression festgestellt und thematisiert wird, was Attribute wie "alle sind gut drauf" eigentlich von vorneherein ausschließen sollte.
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Andre Peschke
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Re: Tell Me Why

Beitrag von Andre Peschke »

rammmses hat geschrieben: 31. Mär 2021, 18:57 Man könnte den Seelenfrieden der beiden sicher als "Stakes" definieren, aber auch dann ist nichts "at stake", jedenfalls kann ich mich keine depressiven Gespräche, große Streits oder gar Selbstmordgedanken und Ähnliches erinnern, die Premisse ist vielleicht da, aber das Spiel unternimmt doch keinerlei Versuch, die emotionale Tragweite des Schicksals der beiden Figuren auch nur ansatzweise zu beleuchten. Die sind immer gut drauf und alle sind nett zueinander. Eben ein "Feel-Good-Spiel". ;)
Tatsächlich kann man glaube ich als Spieler die Beziehung der Geschwister durch seine Entscheidungen noch am ehesten zerrütten, indem man sie beschließen lässt, auf ihre "Voice" zu verzichten und vorher auch immer eher Entscheidungen so trifft, dass sie keine gemeinsame Linie finden.

Der Weg dahin fühlt sich für mich aber unorganisch an, so wie die Charaktere gezeichnet wurden. Dazu hätte ich viele Entscheidungen treffen müssen, die für mich keinen Sinn ergeben (bzw. an einige Stellen reagieren die beiden auch einfach mal idiotisch, wie zB wenn Tyler es als Affront auffasst, wenn ich als Ally den Termin mit einem möglichen Käufer zusage, weil er ja noch "mehr Zeit" braucht. Als ob da mit dem Besichtigungstermin alles schon gelaufen wäre, so ein Prozess nicht eh lange dauert, man nicht mit dem Käufer entsprechend Zeit aushandeln könnte und bisher nicht alle Gespräche zwischen den Geschwistern im Konsens auf "Verkaufen, wir brauchen das Geld" hinausgelaufen wären).

Für mich entstehen daher in dieser Hinsicht keine "Stakes", weil es nur eine Option ist die Geschwister eher mutwillig gegeneinander auszuspielen (wortwörtlich). Das macht keinen Sinn und läuft der ganzen Tonalität zuwider. Im Gegenteil hätte es eine Herausforderung für mich als Spieler sein sollen (müssen?), die beiden heile durch diese schwierige Zeit zu manövrieren. Das wäre interessant gewesen und dann wäre die Herausforderung auch auf Linie mit meinen Interessen als Spieler (man sieht an der Art wie die Story konstruiert wurde und auch an den %-Zahlen der Entscheidungen, dass die Geschichte darauf angelegt ist, diese beiden nach all ihren Entbehrungen zu einer glückliche(re)n Zukunft zu steuern).

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Re: Tell Me Why

Beitrag von Fährmann »

Andre Peschke hat geschrieben: 1. Apr 2021, 09:58 Für mich entstehen daher in dieser Hinsicht keine "Stakes", weil es nur eine Option ist die Geschwister eher mutwillig gegeneinander auszuspielen (wortwörtlich). Das macht keinen Sinn und läuft der ganzen Tonalität zuwider. Im Gegenteil hätte es eine Herausforderung für mich als Spieler sein sollen (müssen?), die beiden heile durch diese schwierige Zeit zu manövrieren. Das wäre interessant gewesen und dann wäre die Herausforderung auch auf Linie mit meinen Interessen als Spieler (man sieht an der Art wie die Story konstruiert wurde und auch an den %-Zahlen der Entscheidungen, dass die Geschichte darauf angelegt ist, diese beiden nach all ihren Entbehrungen zu einer glückliche(re)n Zukunft zu steuern).
Angenommen Tell Me Why wäre eine Serie, dann würde die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Geschwister als Stakes funktionieren. Zumindest behaupte ich das jetzt, weil es etliche Serien und Filme gibt, bei denen der Verlust einer guten Beziehung die Stakes ausmachen.

Deine Argumentation ist, dass das in diesem Fall nicht gilt, weil es für die Spieler*in zu einfach ist, dieses schlechte Ende zu vermeiden. Man muss einfach nur die Dialogoptionen anklicken, die in die entsprechende Richtung gehen. Dadurch ergibt sich nie die Gefahr das etwas schiefgeht.

Aber mit dieser Argumentation habe ich mehrere Probleme:

- Erstens denkt sie das Spiel sehr vom Ende aus. Man weiß während dem Spielen ja nicht, worauf es hinausläuft und was die möglichen Enden sind.

- Zweitens missversteht sie in meinen Augen den Kerngameplayloop dieser Spiele. Das Kerngameplay baut darauf auf, Dialoge zu führen und Situationen (+ die dazugehörigen Orte) zu erkunden. Eigentlich geht es aber darum, sich in Konflikte einzufühlen und sie so zu lösen, wie man es für richtig erachtet, oder wie man es gerne rollenspielen würde. Wenn ich mich in einen Konflikt reingefühlt und ihn von allen Seiten betrachtet habe, kann ich zur Meinung gelangen, dass eine möglichst positive Auflösung für mich realistisch wäre. Wenn mir das Spiel diese Auflösung dann aber verweigert, weil es sie an einen Skillcheck knüpft, den man versemmeln kann, konterkariert das meine vorherigen Bemühungen, mich in diesen Konflikt einzuarbeiten. Es baut mir eine arbiträre videospielige Hürde auf, die dem Spiel win- und failstates gibt, die es auf diese Art und Weise nicht haben sollte.
Als Vergleich kann man hier die David Cage Spiele betrachten. Die erzählen auch eine Handlung, benutzen parallel aber typische Videospiel-Skillchecks, wie Quicktime-Events, Zeitlimits oder Kombinationspuzzles. All diese Dinge entfremden mich von der Handlung. Denn sie bestrafen mich für das Einarbeiten in Konflikte, weil sie es mir erschweren, nach meinem eigenen Verständnis mit diesen Problemen umzugehen.

- Drittens impliziert diese Argumentation, dass es in Tell Me Why wie in Mass Effect immer eine gute und schlechte Dialogoption gibt, was ich nicht so sehe. Häufig bilden sie ein Dilemma ab, für das es schlichtweg keine gute Lösung gibt.

- Viertens will ich zurück zum Serienvergleich gehen: Eine Serie baut überhaupt keine Skillchecks für eine Rezipient*in auf, was aber nichts an den Stakes einer Handlung ändert. Die unmittelbare Schwierigkeit für die Spieler*in muss also nicht zwangsläufig etwas über die Intensität der Handlung aussagen.
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Re: Tell Me Why

Beitrag von Andre Peschke »

Fährmann hat geschrieben: 1. Apr 2021, 10:40 Angenommen Tell Me Why wäre eine Serie, dann würde die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Geschwister als Stakes funktionieren. Zumindest behaupte ich das jetzt, weil es etliche Serien und Filme gibt, bei denen der Verlust einer guten Beziehung die Stakes ausmachen.

Deine Argumentation ist, dass das in diesem Fall nicht gilt, weil es für die Spieler*in zu einfach ist, dieses schlechte Ende zu vermeiden.
Nein, das ist nicht mein Argument. Mein Argument ist: Nur einer der beiden möglichen Handlungsverläufe ist gut genug geschrieben, dass er akzeptabel ist. Der Ausgang "die Beziehung der Geschwister zerbricht" wird nur herbeikonstruiert und ist IMO ein von den Autoren eher pflichtschuldig bereitgestellter, als wirklich ausdefinierter Handlungsstrang.

Von den Entwicklern ist auch IIRC erklärtermaßen nicht gewünscht, dass er zumindest für Tyler irgendeine Dramatik entwickeln kann (Wenn ich das nicht falsch erinnere, wurde in Interviews gesagt, dass sie für Tyler als Trans-Mann in jeder Konfiguration einen Ausgang wollten, bei dem er "happy" ist. Darüber könnte man auch schon wieder lange diskutieren, inwiefern das nicht alle möglichen Konsequenzen zu Ally shiftet und damit Tyler wiederum eher dramaturgisch marginalisiert).

Wenn ich von vornherein für eine meiner Hauptfiguren aber alles außer einem milden Happy-End ausschließe, habe ich mir schonmal eine Hand auf den Rücken gebunden, als Autor. Dann sollte ich vielleicht wenigstens darauf verzichten, hier dem Spieler noch Handlungsoptionen überhaupt anzubieten. Erzähl diese Geschichte doch dann nicht-interaktiv, so dass sich Spannungen zwischen den Geschwistern gezielt und sauber hergeleitet aufbauen und wieder entspannen lassen. Mit dem interaktiven Erzählen lassen sie zusätzliche Hände ans Steuer, während sie ohnehin schon einen extrem eng gesteckten Korridor durchqueren. Da wundert es mich nicht, dass sie in die Leitplanken rasseln. Und da muss ich eben das Spiel auch nicht vom Ende her denken. Es ist bei den für die Beziehung von Tyler und Ally kritischen Handlungsentscheidungen stets offensichtlich, dass diese vom Spiel entweder überbewertet werden oder die für ihre Beziehung negative Entscheidung im Kontext der vorangegangenen Erzählung (die beiden lieben sich und wollen wieder zueinanderfinden, was ihnen auch schnell gelingt - inklusive ihrer magischen Verbindung) keinen Sinn ergeben. Keinen Sinn ergeben meine ich als: Entweder, Tyler/Ally wie bis zu diesem Punkt skizziert würde nicht so handeln (in der Entscheidung selbst oder in der gewählten Tonalität), oder der Beziehung der beiden wird plötzlich eine Fragilität zugeschrieben, die im Widerspruch zur vorausgehenden Erzählung steht.

Es wäre übrigens auch vermutlich extrem schwer, dieses Thema gut umzusetzen, selbst wenn sich DontNod hier fokussiert hätte und sich alle Freiheiten eingeräumt hätte. Eine gut herbeigeführte Entfremdung der beiden hätte ja nach und nach alle Interaktionen zwischen den Figuten in Mimik, Ausdruck und auch Themensetzung einfärben müssen. Ein Beziehungsdrama ist ja alles andere als simpel - sowohl für die Autoren, aber auch insbesondere wenn man es in dieser Art Spiel und auf diesem Produktionsniveau realisieren will. Deswegen zielt das Spiel IMO auch viel eher auf die Murder-Mystery.

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Re: Tell Me Why

Beitrag von Fährmann »

Andre Peschke hat geschrieben: 1. Apr 2021, 11:03 Nein, das ist nicht mein Argument. Mein Argument ist: Nur einer der beiden möglichen Handlungsverläufe ist gut genug geschrieben, dass er akzeptabel ist. Der Ausgang "die Beziehung der Geschwister zerbricht" wird nur herbeikonstruiert und ist IMO ein von den Autoren eher pflichtschuldig bereitgestellter, als wirklich ausdefinierter Handlungsstrang.
Ich sehe dieses Argument nicht. Ich hab das Spiel über weite Strecken sehr grauzonig gespielt und mir später die größeren Alternativen nochmal über Savestates oder Youtube angesehen. An keiner Stelle hatte ich das Gefühl, dass da irgendetwas nicht gut ausgearbeitet wäre. Im Gegenteil haben sie ja am Ende zwei völlig verschiedene Epiloge gebastelt, an denen man ne halbe Stunde spielt, die nochmal in Nuancen variieren, um kleinere Entscheidungen im Laufe des Spiels aufzufangen. Deswegen habe ich das Spiel genau gegenteilig wahrgenommen, als eines, dass erstmals alternative Enden wirklich glaubwürdig in der Handlung verankert. Das ist ein weiter Weg, den die Serie hinter sich gebracht hat, verglichen mit dem ersten Teil, der noch ein sehr offensichtliches Kanon-Ende hatte.

Was Tyler angeht, würde ich gern das Originalzitat lesen. Das wirkt aus meiner Entfernung betrachtet schief. Wenn Tyler am Ende den Bezug zu seiner Schwester verliert und der Überzeugung ist, seine Mutter wollte ihn wegen seiner Umwandlung umbringen, ist das ja sehr offensichtlich kein Happy End.
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Re: Tell Me Why

Beitrag von Andre Peschke »

Fährmann hat geschrieben: 1. Apr 2021, 13:46Ich sehe dieses Argument nicht. Ich hab das Spiel über weite Strecken sehr grauzonig gespielt und mir später die größeren Alternativen nochmal über Savestates oder Youtube angesehen. An keiner Stelle hatte ich das Gefühl, dass da irgendetwas nicht gut ausgearbeitet wäre. Im Gegenteil haben sie ja am Ende zwei völlig verschiedene Epiloge gebastelt, an denen man ne halbe Stunde spielt, die nochmal in Nuancen variieren, um kleinere Entscheidungen im Laufe des Spiels aufzufangen. Deswegen habe ich das Spiel genau gegenteilig wahrgenommen, als eines, dass erstmals alternative Enden wirklich glaubwürdig in der Handlung verankert. Das ist ein weiter Weg, den die Serie hinter sich gebracht hat, verglichen mit dem ersten Teil, der noch ein sehr offensichtliches Kanon-Ende hatte.
Ahja, agree to disagree. Das müssten wir jetzt anhand der konkreten Passagen aufdröseln und das krieg ich zeitlich nicht gebacken. :D
Fährmann hat geschrieben: 1. Apr 2021, 13:46Was Tyler angeht, würde ich gern das Originalzitat lesen. Das wirkt aus meiner Entfernung betrachtet schief. Wenn Tyler am Ende den Bezug zu seiner Schwester verliert und der Überzeugung ist, seine Mutter wollte ihn wegen seiner Umwandlung umbringen, ist das ja sehr offensichtlich kein Happy End.
Ich hab's zwar nicht dort gelesen, aber es wird vermutlich eine Variation dessen gewesen sein, was sie auch im FAQ schreiben: "Each of Tell Me Why’s endings will include an optimistic future for Tyler. What may change based on a player’s choices is Tyler’s relationship with his twin sister Alyson, where his journeys take him after the events of the game, and much more. Because so many mainstream narratives about trans people are rooted in pain or trauma, it was important to our team to tell a different, more multi-dimensional story with Tyler."

Andre
ClintSchiesstGut
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Re: Runde #312: Tell me why

Beitrag von ClintSchiesstGut »

Ich finde die gesamte Thematik sehr interessant, eine Differenzierung zwischen Spiel und verschiedenen Sichtweisen von uns Menschen.

Es folgt Fiktion:
Ich persönlich würde mir sehr wünschen, dass EA / Bioware SEHR MUTIG bei einem neuen Mass Effect wäre und "Liara" dem gemeinsamen Kind mit Shepard (durch mentale Fortpflanzung egal ob weiblich / männlicher Shepard) ihre Verbindung nahe bringt - in der HQ.

Denn die 'Asari' Fortpflanzung würde ich als Version 2.0 von der menschlichen Thematik - hier- sehen.

Kinder der Asari / Alien Partner suchen ihren Platz im Universum und gehen auf ihre eigene Reise.

> Ein traumhaftes Spiel <, welches sich einer noch größeren Diskussionen stellen müsste. Nicht was uns Menschen ausmacht, sondern was macht die Kinder von Mensch / Alien Eltern aus..?

Wird es so vielleicht nie geben, aber ich würde ein Drehbuch schreiben. :)
:whistle:
JonIrenicus90
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Re: Runde #312: Tell me why

Beitrag von JonIrenicus90 »

Ich bin jetzt zu zwei Dritteln durch mit der Folge und ich muss Andres Beobachtungen zustimmen. Darueber hinaus ist mir auch aufgefallen, dass es aber anscheinend eher normal ist in der Trans Szene sich nicht in Medien mit Traumata auseinandersetzen zu wollen oder gar mir der schmerzhaften Vergangenheit. Ich hoere beispielsweise seit Jahren den Podcast von Jim Sterling, Podquisition, und die Mitpodcasterin Laura Kate Dale, welche Transfrau ist, wird fuchsteufelswild wenn sie mitbekommt, dass ein Entwickler Konfrontationen/Traumata von Transmenschen thematisiert (bis hin zum Boykottaufruf).
Und sie stellt es auch so dar als sei das hoechste Gut, nach der Transformation, sich nur noch mit positiven Gefuehlen gegenueber der Transcommunity zu umgeben. So wie Andre es auf das Spiel bezogen gesagt hat: Sich in Watte einzuwickeln. Und ja, im Podcast hat sie auch den Anflug der minimal negativen Inputs, gegenueber Tyler noch kritisiert, die beispielsweise von Sam ausgingen.
Es scheint also gar kein Beduerfnis zu bestehen sich auf den "Struggle" zu berufen durch den man musste um dahin zu gelangen wo man sich nach der Transformation befindet und stolz drauf zu sein.
Das verwundert mich etwas.
Es ist doch eher wuenschenswert dass auch eine Oeffentlichkeit versteht womit man als Transmensch zu kaempfen hat und wie sich das punktuell darstellt fuer ein Individuum. Aber mir ging es mit Elliot Page genauso, wie Jochen anfangs. Ich habe nicht verstanden von wem die Rede war als ich den Namen ghoert habe und warum der urspruengliche Name auf einmal komplett tabu ist auch nur anzudeuten. Schliesslich ist das doch ein Teil der eigenen Vergangenheit, ob schmerzhaft oder nicht. Ich respektiere das und benutze keine Dead Names, aber nachvollziehen kann ich es nicht.
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Fährmann
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Re: Runde #312: Tell me why

Beitrag von Fährmann »

Hier sind von GLAAD (Gay and lesbians alliance against defamation) zusammengestellte Kriterien, wie man transsexuelle Menschen in Geschichten repräsentieren sollte:

https://www.glaad.org/reference/coverin ... -community

Jeder einzelne Punkt wird dabei verständlich erklärt und begründet. Wobei ich ergänzen muss, dass der Guide auf englisch ist. Leider habe ich nichts vergleichbares auf deutsch gefunden.
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Heretic
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Re: Runde #312: Tell me why

Beitrag von Heretic »

Fährmann hat geschrieben: 8. Apr 2021, 10:39 Hier sind von GLAAD (Gay and lesbians alliance against defamation) zusammengestellte Kriterien, wie man transsexuelle Menschen in Geschichten repräsentieren sollte:

https://www.glaad.org/reference/coverin ... -community
In dem Text findet man unter "Integrating transgender people into non-trans stories", worauf ich hier im Thread hinauswollte. Man kann natürlich geteilter Meinung sein, ob "Tell Me Why" eine Non-Trans-Story erzählt, da die Thematik in der ersten Episode stark präsent ist. Doch im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass andere Gründe ausschlaggebend für die damaligen Ereignisse waren. Und damit wären wir bei diesem Punkt: "When being transgender is just one of the many traits that make someone unique, we will move closer to full acceptance.". Das ist die Intuition, die ich seitens Dontnod hinter "Tell Me Why" vermute. So habe ich das Spiel gelesen.
Rigolax
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Re: Runde #312: Tell me why

Beitrag von Rigolax »

Der Text bei GLAAD benutzt "Story" doch offenbar im Kontext von 'News Story', also Nachrichtenbeiträge/Artikel (siehe etwa der Abschnitt "Illustrating your story and headlines"). Soll nicht heißen, dass das nicht thematisch übertragbar ist, finde die sprachliche Ambiguität aber recht lustig.

Ich las zum Awareness-Day von Betroffenen übrigens letztens, dass die Formulierung "Transperson" (Mann/Frau) nicht erwünscht sei, besser sei "trans Person", also adjektivisch, da "Transperson" suggerieren könnte, dass es keine "richtigen" Männer/Frauen sind, sondern eben nur Bindestrich-Männer/Frauen, und man schreibe ja auch "blonde Frau" und nicht "Blondfrau". Weiß nicht, wie verbreitet diese Idee ist, leuchtet mir jedenfalls ein, wobei "trans" adjektivisch vielleicht sprachlich gewöhnungsbedürftig wirkt. Das nur als Info, da sich ja auch im Podcast bemüht werden wollte, inklusiv zu schreiben (edit: besser gesagt: sprechen); will hier auch nicht für trans Personen sprechen, nur als Anregung.

Bei der allgemeinen Thematisierung von Traumata könnte ich mir vorstellen, dass als problematisch erachtet wird, Traumata stark mit der Transgender-Thematik zu verknüpfen. Im FAQ von Dontnod heißt es auch dogmatisch: "The idea that being transgender is caused by trauma is a stereotype that has no basis in fact, and it plays no role in Tyler’s story." Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Evidenz, dass Kindheitstraumata in manchen, seltenen (!) Fällen Einfluss auf eine dann erfolgte Transgender-Identität haben könnte, etwas das man bei GLAAD wohl nicht gerne sieht (https://jessesingal.substack.com/p/glaa ... -disproven), wie wohl auch das Thema Detransition (eine Betroffene dazu etwa hier https://www.youtube.com/watch?v=U4dDMQSc4SU) bzw. Desistance. Davon ab gibt es natürlich (leider) auch Traumaerfahrungen nach und gerade wegen einer (öffentlichen) Transition bzw. erlebte Gewalt, die eine Transeinstellung nicht verstärkt. Vermutlich möchte man sich teilweise auch nicht auf solche Erlebnisse scheinbar reduzieren lassen, was wohl eine eigene Form der Marginalisierung wäre.

Na ja, ich kann verstehen, wenn eine Interessensorganisation wie GLAAD sensibel ist, allerdings halte ich den Debattenzustand für etwas absurd, im Lichte unterstellter Transphobie manches oftmals nur schwer zu thematisieren. Dontnod trägt dazu tendenziell noch ihren Anteil bei, befürchte ich. Siehe auch das Thema Deadnaming, sie wählen da den einfachsten, reibungslosesten Weg. Eine wirklich progressive Darstellungen würde sich solchen Themen meines Erachtens stellen und sie nicht umschiffen. Das ist Teil der Realität, die Vergangenheit existiert ja weiterhin und es wird noch sehr lange, wenn nicht immer, eklige, unmenschliche Personen geben, die auf so etwas zurückgreifen. Wenn Deadnaming im Spiel richtig kontextualisiert wird, dürfte doch auch nicht der Eindruck entstehen, dass es okay ist, das zu machen, ganz im Gegenteil könnte man es ja kritisieren. Das muss ja auch nicht auf Exploitation hinaus laufen, das kann respektvoll geschehen. Das Ausblenden bestimmter Dinge wird in anderen, geschichtlichen Kontexten ja auch gerne mal kritisiert, warum hier anscheinend nicht. -- Nun ist mir klar, dass es auch darum geht, dass der Deadname am besten gar nicht erst bekannt ist, damit es gar nicht erst "weaponized" werden kann, in manchen Fällen ist der Name aber halt bekannt.

Ich fand das Spiel davon ab aber okay. Das Erzähltempo war mir vor allem zu langsam.
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Fährmann
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Re: Runde #312: Tell me why

Beitrag von Fährmann »

Rigolax hat geschrieben: 8. Apr 2021, 15:25 Bei der allgemeinen Thematisierung von Traumata könnte ich mir vorstellen, dass als problematisch erachtet wird, Traumata stark mit der Transgender-Thematik zu verknüpfen. Im FAQ von Dontnod heißt es auch dogmatisch: "The idea that being transgender is caused by trauma is a stereotype that has no basis in fact, and it plays no role in Tyler’s story." Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Evidenz, dass Kindheitstraumata in manchen, seltenen (!) Fällen Einfluss auf eine dann erfolgte Transgender-Identität haben könnte, etwas das man bei GLAAD wohl nicht gerne sieht (https://jessesingal.substack.com/p/glaa ... -disproven) (...)

Na ja, ich kann verstehen, wenn eine Interessensorganisation wie GLAAD sensibel ist, allerdings halte ich den Debattenzustand für etwas absurd, im Lichte unterstellter Transphobie manches oftmals nur schwer zu thematisieren. Dontnod trägt dazu tendenziell noch ihren Anteil bei, befürchte ich. Siehe auch das Thema Deadnaming, sie wählen da den einfachsten, reibungslosesten Weg. Eine wirklich progressive Darstellungen würde sich solchen Themen meines Erachtens stellen und sie nicht umschiffen. Das ist Teil der Realität, die Vergangenheit existiert ja weiterhin und es wird noch sehr lange, wenn nicht immer, eklige, unmenschliche Personen geben, die auf so etwas zurückgreifen. Wenn Deadnaming im Spiel richtig kontextualisiert wird, dürfte doch auch nicht der Eindruck entstehen, dass es okay ist, das zu machen, ganz im Gegenteil könnte man es ja kritisieren. Das muss ja auch nicht auf Exploitation hinaus laufen, das kann respektvoll geschehen.
Der Satz "tatsächlich gibt es wissenschaftliche Evidenz, dass Kindheitstrauma in machen, seltenen (!) Fällen Einfluss auf eine dann erfolgte Transgender-Identität haben könnte (...)" enthält eine Menge Konjunktiv. Ich persönlich habe noch kein wissenschaftliches Ergebnis gelesen, dass so eine These imo wirklich unterstützen könnte. Der zitierte Singal selbst ist ja auch nur Journalist und hat keine eigenen Studien geleitet. Er ist in die Kritik gekommen, weil er für seine Reportagen über transsexuelle Frauen und Männer bevorzugt Psychologen zitiert, die keine mehrheitsfähigen Positionen beziehen. Sein Argument für "Trauma kann zu Transgender führen" geht zum Beispiel auf die Psychologin Ehrensaft zurück, die von einem Fall schreibt, in dem ein dreijähriger Junge den Tod seiner Mutter damit kompensieren wollte, selbst zur Frau zur werden.

Ich finde es außerdem merkwürdig, das Glaad hier in die Rolle einer dogmatischen Lobbyvereinigung gestellt wird. In dem Artikel wird ja erstmal geäußert, wie sich transsexuelle Männer und Frauen wünschen, in Medien repräsentiert zu werden. Dass dazu gehört, dass Deadnaming ausgesprochen problematisch gesehen wird, ist keine Überraschung. Der Geburtsname wurde einem selbst übergestülpt und repräsentiert eine Identität, die man in einem zeit- und kraftaufwändigen Prozess ablegen möchte.

Wenn dann Cis-Menschen kommen und sagen: "Ne, ich wünsche mir mehr Deadnaming, man kann das ja alles gut kontextualisieren", lässt mich das irritiert zurück. Für mich ist das auf demselben Niveau von: "Ich möchte gerne wieder Zigeunersoße sagen, ich mein das ja nicht böse." Klar macht das einen moralischen Unterschied, ob man Deadnaming in einem journalistischen oder fiktionalen Text betreibt. Aber auch in zweiterem Fall kann ich den Wunsch nach mehr Deadnaming nicht verstehen, weil es genug Filme und Spiele gibt, die das machen. Im selben Jahr, in dem Tell Me Why rauskam, kam auch Deadly Premonition 2 raus. Dieses Spiel kann ich allen Leute empfehlen, die sich mehr Deadnaming bei der Darstellung von transsexuellen Menschen wünschen.

Alle anderen können sich ja mit mir darüber freuen, dass sich mit Tell Me Why zum ersten Mal ein Videospiel mit einem größeren Budget die Mühe gemacht hat, einen transsexuellen Mann auf eine respektvolle Art und Weise zu repräsentieren.
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