Runde #317: Cancel Culture?

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Schreibkraft

Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von Schreibkraft »

@ Dr_Hasenbein
Dr_Hasenbein hat geschrieben: 3. Mai 2021, 08:51 Ist nicht genau das die eigentliche Verharmlosung, die wir schon bei Pegida, AfD und Querdenker erlebten und erleben? In der die Menschen dort als bürgerliche Mitte bezeichnet werden, aber in einer Weise agieren, die ganz und gar nicht reasonable ist sondern unerbittlich mit Worten aufeinander einschlagen?"
Das denke ich nicht. Eine Verharmlosung wäre es, die Wirkung der AfD & Co. zu relativieren. Vielmehr erachte ich es für wichtig, zu differenzieren, denn es ist ja wichtig zu schauen, woher AfD und Querdenker kommen. Erstere sind aus einer neoliberalen, bzw. neokonservativen Strömung entastanden und wurden dann von Nationalkonservativen, religiösen Fundamentalisten und Rechtsradikalen gekapert. Diese Flügel, die auch untereinander Machtkämpfe austragen, gibt es bis heute. Meuthen = Neokonservativ, von Storch = Feudalkatholizismus, Höcke = Rechtsradikalismus.

Das ist auch dewegen wichtig zu wissen, weil die Schnittmegen bis in die etablierten Parteien reichen. Umfragen besagen z.B. das 2/3 der FDP-Anhänger für eine politische Kooperation mit der AfD sind - in Thüringen hatte die ja bereits stattgefunden, als FPD, CDU und AfD sich bei der Wahl des Ministerpräsidenten abgesprochen hatten. Ebenso gibt es Schnittmengen zur CDU, wie die Werteunion und Politiker/innen wie Maaßen, Steinbach, Lengsfeld oder auch einige AfD-Mitglieder zeigen, die ehemals aus der CDU kamen.
Auch bei den Querdenkern hat eine Studie ergeben, dass deren Mitglieder zuvor Grüne (ich glaube 27%) und Linke gewählt haben und die AfD-Wähler erst auf Platz 3 kommen. Ebenso ist die Anzahl der Akademiker und Selbständigen überdurchschnittlich hoch. Diese Differenzierung tragen zum Verständnis bei und sind keine Verharmlosung. Eine Verharmlosung wäre es, zu sagen, dass deren Tolerierung von Rechtsradikalen oder rechtsradikalen Positionen unproblematisch ist. Sie machen sich mit Rechtsradikalen gemein, was deren Meinungen zugänglicher für die sogenannte bürgerliche Mitte macht.
Dr_Hasenbein hat geschrieben: 3. Mai 2021, 08:51 Ab wann hat sich ein Mensch weit genug radikalisiert, dass man ihn guten Gewissens den politischen Rändern zuordnen kann?"
Das ist eine wichtige Frage, aber bei meinem Kommentar nicht der Punkt. Es geht um notwendige Differenzierung, denn nicht alles was rechts oder links der selbsternannten Mitte ist, ist radikal. Die AfD als rundum rechtsradikal zu betrachten, ist problematisch, weil dies das Verstehen um deren Entstehen und deren Wählerschaft erheblich erschwert und somit die Mittel eingrenzt, deren politischen Einfluss einzudämmen. Auch macht es blind dafür, dass gerade die nicht-extremen Kräfte der Partei eine Schnittstelle zur sogenannten Mitte bilden, wie im Falle der AfD die Werteunion oder der neoliberale Flügel zur FDP. Zudem behaupte ich nirgendwo, dass die AfD nicht am rechten Rand steht, sie ist nur nicht durchweg rechtsradikal. Die nicht-rechtsradikalen Teile der Partei tolerieren jedoch rechtsradikale Positionen innerhalb der Partei, was viel gefährlicher ist. Die rechtsradikale Partei NPD ist erfolglos und nimmt kaum Einfluss auf die etablierte Politik. Über den neokonservativen Teil der AfD werden jedoch radikale rechte Positionen dieser Partei auch innerhalb der CDU und FDP salonfähig. Das zu verstehen und differenziert hervorzuheben, halte ich für enorm wichtig.
Dr_Hasenbein hat geschrieben: 3. Mai 2021, 08:51 Ich beobachte eher, dass gerade umgekehrt die Standpunkte von den Rändern kommen. Die Initiatoren sind oftmals politisch sehr extreme Persönlichkeiten."
Welche Standpunkte meinst du denn genau? Und ab wann ist etwas radikal? Wenn es herrschende Verhältnisse infrage stellt? Wenn es verfassungsfeindlich ist?
Die Identitätspolitik kommt ursprünglich aus den nun nicht allzu linken USA, ist in Deutschland von einem akademisch geprägten Umfeld aufgegriffen worden und umfasst u.a Antirassismus und Feminismus. Es sind Positionen der urbanen, weitgehend akademischen Linken, nicht jene der klassischen Linken im Sinne des Sozialismus und des alles andere als akademischen Proletariats. Daraus erwachsen innerhalb der Linken auch Konflikte, für die z.B. die Diskussionen um Wagenknecht exemplarisch aber aber halt nur der medial sichtbare Teil dieser Konflikte sind. Die Grünen vertreten identitätspolitische Positionen und in der SPD gab es gerade rund um Wolfgang Thierse einen innerparteiischen Konflikt zu diesem Thema. Das sind alles ebenso wenig Radikale, wie Vertreter der People Of Color, die Rassismus in diversen Medien anmahnen. Radikale nutzen dies hingegen vielfach als Vehikel für ihre Positionen.
Was rechte Positionen angeht: Siehe oben.
Dr_Hasenbein hat geschrieben: 3. Mai 2021, 08:51 Hier würde ich sogar entgegenkommen. Natürlich kommen sie aus der Mitte, aber die Verantwortung begründet das nicht zwangsläufig."
Darüber kann man natürlich trefflich streiten. Meine Formulierungen dazu enspringen zwei Umständen: Es gibt zahlreiche Beispiele, sowohl aus den Medien als auch aus sozialen Netzwerken und der gesamten Gesellschaft, die AfD(-Anhänger), Querdenker, Trump & Co. zum ungebildeten Pöbel erklären und deren Anhänger gleich mit. Die Verantwortung wird vom Bürgertum und Bildungsbürgern also mitunter an die bildungsferne Unterschicht abgeschoben. Das ist problematisch, sachlich alles andere als vollständig, nicht zielführend und auch fahrlässig, weil die Unterschicht damit der Neuen Rechten preisgegeben wird.
Dr_Hasenbein hat geschrieben: 3. Mai 2021, 08:51 IMHO hat die AfD möglich gemacht, dass es auf rechten Seite plötzlich sehr viel Luft zwischen Union und NPD gab. Wie es dazu kam, ist mir nicht ganz klar. Ob die Union selbstständig weiter nach links driftete oder ob sie von außen gezwungen wurde, damit habe ich mich nie beschäftigt. Und nein, damit will ich nicht sagen, dass die Union links ist um das gleichmal vorweg zu nehmen."
Nun ja, die Sache ist natürlich komplex und umfasst zahlreiche Aspekte und diese betreffen nicht nur die CDU, sondern mit der der SPD auch die zweite Volkspartei und zudem zahlreiche historische Entwicklungen. Ein interessantes Thema, über das ich durchaus gern diskutiere - allerdings an anderer Stelle, da ich ungern das eigentliche Thema (der Podcast) derailen möchte. Entsprechend mache ich hier mal einen Schnitt und steige aus dieser Diskussion aus, bzw. äußere mich künftig nur noch zum eigentlichen Thema.

Edit: Kommentarfunktion gefunden und benutzt.
Zuletzt geändert von Schreibkraft am 3. Mai 2021, 11:35, insgesamt 1-mal geändert.
nachteule
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von nachteule »

Um nochmal etwas Bezug zur Folge zu nehmen (auch wenn es hier wahrscheinlich leider untergehen wird):

@Dom: Wie du im Podcast erwähnt hast, hattest / hast du die Rolle eines Cultural Advisor in einem Spieleprojekt gehabt. Wie würdest du denn aus deiner Sicht diese Rolle angehen, wenn Ubisoft sagen würde, dass du beim nächsten Anno (z.B. 1710) Ihnen beratend zur Seite stehen solltest? An so einem konkreten Beispiel könnte man eine Planung durchspielen mit verschiedenen Maßgaben.

Maßgaben könnten sein:
- Wirtschaftskreislauf und leichtes geschichtliches Verständnis auch für ein jüngeres Publikum (Freigabe ab 6 Jahren, also wie gehabt).
- Verständnis der Geschichte für ab 16 / über 18-jähriges Publikum.
- B-Note: Spiel soll natürlich immer noch Spaß machen und nicht den Eindruck einer (langweiligen) didaktischen Schulsoftware hinterlassen, denn es muss gut genug verkaufen, dass auch ein Nachfolger finanziert werden kann.

Didaktisch macht das nämlich aus meiner Sicht einen großen Unterschied. Ein Age of Empires 2 / Age of Mythology hat beispielsweise bei mir das Interesse an den Epochen / Göttern verstärkt, dass mich das auch als Kind interessierte und durch diese Einfachheit das Themenfeld stärker öffnete als ein vollumfängliches geschichtliches Werk. Didaktisch existieren in jedem Fachgebiet Bücher / Artikel auf verschiedenen Leveln, um den Einstieg bzw. weitere Vertiefung zu ermöglichen.
Wenn dann ein Computerspiel das Interesse steigern kann, wäre es ein guter Punkt die Person von diesem Punkt aus weiterzubilden bzw. informieren.

Im Fall von Geschichte / Biologie sehe ich da auch den Punkt, dass wichtig ist, wann jemand zur Schule gegangen ist. In der Zwischenzeit gab es neuere Erkenntnisse / Entdeckungen und das erworbene Wissen kann veraltet sein. Wenn ich da an meine Geschichtsbücher aus der Schulzeit zurückdenke, die ich aus Eigeninteresse noch weiter gelesen hatte als der Unterricht hergab, gab es eklatante Lücken bzw. zu kurze Kapitel / Erklärungskästchen, um ein Thema wirklich gut zu umreißen.
Rince81
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von Rince81 »

Schreibkraft hat geschrieben: 3. Mai 2021, 11:31 Umfragen besagen z.B. das 2/3 der FDP-Anhänger für eine politische Kooperation mit der AfD sind - in Thüringen hatte die ja bereits stattgefunden, als FPD, CDU und AfD sich bei der Wahl des Ministerpräsidenten abgesprochen hatten.
Moment, abgesprochen wurde sich nicht. CDU und FDP sind in eine relativ plump gestellte Falle der AfD getappt und haben sich nach Strich und Faden vorführen lassen...
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von Schreibkraft »

Rince81 hat geschrieben: 3. Mai 2021, 11:35
Schreibkraft hat geschrieben: 3. Mai 2021, 11:31 Umfragen besagen z.B. das 2/3 der FDP-Anhänger für eine politische Kooperation mit der AfD sind - in Thüringen hatte die ja bereits stattgefunden, als FPD, CDU und AfD sich bei der Wahl des Ministerpräsidenten abgesprochen hatten.
Moment, abgesprochen wurde sich nicht. CDU und FDP sind in eine relativ plump gestellte Falle der AfD getappt und haben sich nach Strich und Faden vorführen lassen...
Nee, es gibt öffentlich gewordene Mailwechsel, die belegen, dass Höcke den beiden Parteien dies angeboten hat. Sowohl CDU als auch FDP konnte sich also ausmahlen, was passieren würde.

So, jetzt aber genug (für mich). Der Podcast und dessen Thema sind zu interessant, um es mit pateipolitischen Diskussionen zu zerschießen (sage ich mir kritisch selbst und nicht dir oder anderen).
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VikingBK1981
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von VikingBK1981 »

Mal wieder eine sehr gute Folge, genau für sowas folge ich euch.

Ich muss ja sagen, dass ich mich schon am Anfang an dem Satz von Dom gestoßen haben, dass man bei dem Thema als Journalist nicht neutral und in der Mitte bleiben muss. Genau das ist es, was ich von der Presse aber erwarte. Klar kann man seine eigene Meinung haben, die hat aber nichts in dem eigenen Erzeugnis zu suchen. Genau das ist ein Problem was Journalismus heute hat.

Das Thema Anno und Dom wird gefühlt auch immer verbissener. Ich wüsste auch gerne, warum Ubisoft sich mit Dom überhaupt beschäftigen sollte? Ohne Dom zu nah zu treten, aber er ist nicht gerade der Spiegel oder um in der Spielebranche zu bleiben ein Jason Schreier.

Ich kann gut damit leben, dass Spiele nicht die Realität nicht abbilden. Ist es eine Simulation dann sollte es schon recht genau sein. Greift das Spiel aber nur auf ein angelehntes Setting zurück ist es völlig ok, dass bestimmte Dinge weggelassen werden.

Wie würden sonst auch die Spiele aussehen? Sklaven hat es schon immer geben. Sie müssten in fast allen historisch anmutenden Spielen drin sein, aber wer will das?

Was Stereotypen angeht bin ich hin und hergerissen. Heute wird für meinen Geschmack zu viel darunter subsumiert.
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von Jockage »

VikingBK1981 hat geschrieben: 3. Mai 2021, 12:00 Ich muss ja sagen, dass ich mich schon am Anfang an dem Satz von Dom gestoßen haben, dass man bei dem Thema als Journalist nicht neutral und in der Mitte bleiben muss. Genau das ist es, was ich von der Presse aber erwarte. Klar kann man seine eigene Meinung haben, die hat aber nichts in dem eigenen Erzeugnis zu suchen. Genau das ist ein Problem was Journalismus heute hat.
Die Presse war zu keiner Zeit gänzlich neutral, deswegen sollte ein Leser sich ja immer mehrere Quellen zu einem Thema anschauen um sich selbst ein Bild zu machen. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Selbst Wissenschaft ist nicht Neutral. Aber vor allem bei so einem Thema finde ich es durchaus berechtigt, hartnäckig zu bleiben. Der Artikel soll ja bewusst nerven/aufrütteln. Ein Leser soll sich ja eben Gedanken über dieses Thema machen.
VikingBK1981 hat geschrieben: 3. Mai 2021, 12:00 Das Thema Anno und Dom wird gefühlt auch immer verbissener. Ich wüsste auch gerne, warum Ubisoft sich mit Dom überhaupt beschäftigen sollte? Ohne Dom zu nah zu treten, aber er ist nicht gerade der Spiegel oder um in der Spielebranche zu bleiben ein Jason Schreier.
Ich habe zwar auch das Gefühl das Dom die Anno Geschichte persönlich ziemlich beschäftigt dennoch stimme ich seinem Punkt zu, das sich der Entwickler dazu in irgendeiner weiße dazu äußern könnte/sollte und zwar explizit nicht nur gegenüber einer "Elitären-Presse" wie dem Spiegel. Wenn ich mit meinem Werk in Historischen Gewässern fische muss ich einfach mit solchen Nachfragen rechnen. Dabei ist es egal ob Film, Buch oder eben Videospiel.
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Gonas
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von Gonas »

Ich finde ganz lustig wie viel hier über Grundsatzfragen und Haltungen diskutiert wird. Ich will dem garnicht die Bedeutung absprechen, solche Diskussionen können interessant sein, aber meist führen sie nicht zu etwas konkretem.

Was eigentlich von Seiten der Entwickler in solchen Fällen konkret unternommen werden könnte (oder schon wird) wird wenn ich das richtig überblicke aber kaum thematisiert. Finde das komisch, denn so wird das 'Problem' das die Debatte auslöst auch nie gelöst werden. Müsste das nicht eigentlich der Hauptdiskussionspunkt sein? Konkrete Handlungsvorschläge die einen Großteil der Kunden und die öffentliche Debatte befriedigen?
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von skade »

VikingBK1981 hat geschrieben: 3. Mai 2021, 12:00 Das Thema Anno und Dom wird gefühlt auch immer verbissener. Ich wüsste auch gerne, warum Ubisoft sich mit Dom überhaupt beschäftigen sollte? Ohne Dom zu nah zu treten, aber er ist nicht gerade der Spiegel oder um in der Spielebranche zu bleiben ein Jason Schreier.
Das Gefühl habe ich nicht: das Thema kommt halt häufiger immer wieder auf und Doms Standpunkt is legitim - unabhängig ob er nun Spiegel oder Jason Schreier ist. Was glaube den Eindruck der "Verbissenheit" macht, ist dass er davon halt auch nicht abrückt - und das ist auch okay.
Dr_Hasenbein
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von Dr_Hasenbein »

Jockage hat geschrieben: 3. Mai 2021, 12:21 Aber vor allem bei so einem Thema finde ich es durchaus berechtigt, hartnäckig zu bleiben. Der Artikel soll ja bewusst nerven/aufrütteln. Ein Leser soll sich ja eben Gedanken über dieses Thema machen.
Dann braucht man sich aber auch nicht zu wundern, und dann besteht auch kein Anspruch darauf, dass man sich eben nicht zur Wehr setzt.

Zum Thema Neutralität kann man bis zu einem gewissen Grad zustimmen. Allerdings gibt es heutzutage deutlich mehr Haltungsjournalismus, der bereits vorab das Ergebnis ganz klar im Blick hat und dann lediglich so recherchiert und auch nur die Autoren einsetzt, dass das gewünschte Ergebnis erreicht wird. In einer Kolumne ist das völlig OK, in einer vermeintlichen Doku/Reportage ist das nicht nur gefährlich sondern auch unprofessionell IMHO.

Ein ganz besonderes Beispiel dafür ist sicherlich Love Mobil, wenngleich das noch nicht einmal das krasseste des ganzen ist.
Elb356
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Elb356 »

ZDF greift das Thema auch heute auf
https://www.youtube.com/watch?v=7QS4Fsrm5Sw
scheint sich tatsächlich auch in Deutschland immer weiter zuzuspitzen...
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nachtgiger
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von nachtgiger »

Ich möchte nur mal eben Dom zur Seite springen. Meiner Meinung nach unterliegt Jochen einem Trugschluss, wenn er von seiner persönlichen Biographie auf andere schließt. Es ist doch eine Binsenwahrheit und eigentlich überhaupt nicht mehr nötig zu verhandeln, dass mediale Darstellungen unser Geschichtsbild prägen.Wer hat heute, wenn der Name "Nero" fällt , nicht sofort das Bild eines verrückten Brandstifters vor Augen? Dieses Bild wurde mittlerweile schon seit Jahrhunderten (eine erste Oper stammt aus dem Jahr 1642!) transportiert, eben durch Opern, Theater, Film/Fernsehen (z.B. Peter Ustinov in "Quo Vadis?", 1952). Dass dieses Bild aber mittlerweile von der Wissenschaft angezweifelt wird, fällt im populärhistorischen "Diskurs" doch völlig unter den Tisch - das medial verbreitete Bild des Brandstifters hält sich hartnäckig. Dass dann also Leute (Kinder/Jugendliche!) Anno spielen und glauben: ja, so hat die Wirtschaft damals funktioniert, so ganz ohne Sklaven, halte ich das für ein sehr reeles Szenario.

Warum dann die Meinung eines Professors der Geschichtsdidaktik (--> ein Spezialist!), die Dom in seinem Essay teilt, nicht nur angezweifelt, sondern komplett disqualifiziert wird, erschließt sich mir nicht. Ich halte es für ein valides Argument. Klar, empirische Evidenz fehlt in diesem konkreten Fall (ich denke, über anekdotische "Evidenz" braucht man da gar nicht verhandeln) - aber die Annahme ist schlüssig.
Zuletzt geändert von nachtgiger am 3. Mai 2021, 15:44, insgesamt 2-mal geändert.
Dr_Hasenbein
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von Dr_Hasenbein »

nachtgiger hat geschrieben: 3. Mai 2021, 15:30 Warum dann die Meinung eines Professors der Geschichtsdidaktik (--> ein Spezialist!), die Dom in seinem Essay teilt, nicht nur angezweifelt, sondern komplett disqualifiziert wird, erschließt sich mir nicht. Ich halte es für ein valides Argument. Klar, empirische Evidenz fehlt in diesem konkreten Fall (ich denke, über anekdotische "Evidenz" braucht man da gar nicht verhandeln) - aber die Annahme ist schlüssig.
Die Annahme mag für dich schlüssig sein, das bedeutet aber nicht, dass sie richtig ist. Er stellt das aber so dar, dass das halt so ist, ein Fakt der unumstößlich wahr ist.
Dr_Hasenbein
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Dr_Hasenbein »

lovecraftFTW hat geschrieben: 3. Mai 2021, 15:25 ZDF greift das Thema auch heute auf
https://www.youtube.com/watch?v=7QS4Fsrm5Sw
scheint sich tatsächlich auch in Deutschland immer weiter zuzuspitzen...
Sehr interessanter Beitrag, danke für den Link
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Terranigma
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von Terranigma »

Dr_Hasenbein hat geschrieben: 3. Mai 2021, 15:34Die Annahme mag für dich schlüssig sein, das bedeutet aber nicht, dass sie richtig ist. Er stellt das aber so dar, dass das halt so ist, ein Fakt der unumstößlich wahr ist.
Ist dies aber nicht nur Semantik im Nebensatz? Von der Aussage her ist's kein Unterschied ob ich sage:

(a) "Viele Spieler vermuten, dass historische Darstellungen sachlich zutreffend sind."
(b) "Ich bin überzeugt, dass dass viele Spieler vermuten, dass historische Darstellungen sachlich zutreffend sind."
(c) "Ich halte es für möglich, dass viele Spieler vermuten, dass historische Darstellungen sachlich zutreffend sind."
(d) "Ich halte es für denkbar, dass viele Spieler vermuten, dass historische Darstellungen sachlich zutreffend sind."
(e) ...

Wenn die Diskussion sich nun über den (fehlenden) einleitenden Nebensatz entbrennt, dass der Professor seine Annahme nicht explizit mit "Ich nehme an, dass ..." eingeleitet hat, so ist's doch etwas verquer. Es erschiene mir sinnvoller über die Aussage zu diskutieren. Darüber lässt sich auch diskutiere, ohne direkt in die "Zeig mir empirische Evidenz oder ich beende das Gespräch"-Richtung einzuschlagen. Diese haben wir für allerlei Themen nicht. Die Wikungsforschung bzgl. des Zusammenhanges von Gewaltdarstellung in Medien und der tatsächlichen Ausübung von Gewalt existiert, aber diese lässt sich insgesamt wohl zusammenfassen mit: "Es ist kompliziert und so genau wissen wir's auch nicht." Dennoch ist das Gespräch ja möglich, und auch ergiebig. Ebenso auch, weil wir in allerlei Gesellschaftsbereichen Diskurse führen und Entscheidungen treffen, ohne dass uns ausreichende Evidenz auf dem Tisch liegt.

Umgekehrt gibt's mittlerweile empirische Forschung zu Geschichtsbildern, überwiegend allerdings bei Kindern und Jugendlichen. Und diese legen nahe, dass die Aussage von Dr. Zimmerer plausibel ist. Das ist kein endgültiger Beweis, aber den gibt's in derartigen Diskursen ohnehin nicht. Im Allgemeinen wird Plausibilität aber als valides Argument in Diskursen akzeptiert, sodass ich nicht sehe, weshalb man in diesem Fall davon abweichen sollte. Denn der Umkehrschluss, dass medial-vermittelte Geschichtsdarstellungen keinen Einfluss auf das Geschichtsbild von Menschen haben oder dass jeder Spieler fähig sei die Auslassung der Sklaverei in Anno 1800 überhaupt als solche zu erkennen, das erscheint mir im Gegenzug weitaus weniger plausibel.
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lolaldanee
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von lolaldanee »

Gute Folge, hat Spaß gemacht zu hören, für politische Betrachtungen auf Spiele bin ich immer zu haben.

Ich finde, das ist mal wieder eine ausgezeichnete Gelegenheit John Cleese (Monty Python) sprechen zu lassen, was generell fast immer eine gute Idee ist:
https://www.youtube.com/watch?v=QAK0KXEpF8U

"The idea that you have to be protected from any form of uncomfortable emotion is what I absolutely do not subscribe to"
nachtgiger hat geschrieben: 3. Mai 2021, 15:30 Dass dann also Leute (Kinder/Jugendliche!) Anno spielen und glauben: ja, so hat die Wirtschaft damals funktioniert, so ganz ohne Sklaven, halte ich das für ein sehr reeles Szenario.
Das ist wirklich der springende Punkt an der ganzen Sache. Nur: Niemand ist so dumm, NIEMAND, auch keine 8 jährigen Kinder. Nicht bei einem Anno, denn wer Anno für das wahre Leben hält, der glaubt auch die Lindenstraße war eine Reportage, und die Weihnachtsgeschenke bringt das Christkind. Und auf die 2% der Leute die wirklich so dumm wären, auf die muss ich keine Rücksicht nehmen, bei so einem Produkt, denn eine gewisse Kompetenz darf man einfach voraussetzen, sonst darf man generell gar nichts mehr. Ich plädiere dafür die Leute nicht alle für total bescheuert zu halten :lol:

Ich bin da bei Jochen, ich finde die Aussage dieses Profs derart arrogant und weltfremd, dass sich mir alle Haare aufstellen. Wohlgemerkt, bei diesem einen konkreten Fall. Bei einem Stronghold oder Total War z.B. wäre schon viel skeptischer, ob da nicht das eine oder andere geglaubt wird was nur dem Spiel dient, und nichts mit der Realität zu tun hat. Aber doch nicht bei einem Anno, Anno ist so real wie Disneyland

P.S. Wenn ihr mal Sklaverei in Spielen diskutieren wollt: Das Total War Rome 1 hatte keine, Total War Rome 2 hat sie als Feature eingebaut. Da ließen sich mal die Wirkung so eines Features gut vergleichen, weil die Spiele ja grundsätzlich fast gleich funktionieren.
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philoponus
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von philoponus »

Was ich bei Genshin Impact für eine mindestens ebenso wichtige Frage halte ist: Sollte man überhaupt Spiele spielen, die unter den Rahmenbedingungen einer Diktatur erstellt werden. Uiguren, Hongkong etc. wird streng zensiert. Persönlich habe ich da arge Bedenken, und ich denke das diese Fragestellung im Westen derzeit völlig unterdiskutiert ist, also wie wir mit (potenziell exzellenten) Unterhaltungsprodukten zukünftig umgehen sollen, in denen eine Diktatur die inhaltlichen Rahmenbedingungen setzt.
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von Dr_Hasenbein »

Terranigma hat geschrieben: 3. Mai 2021, 16:00
Dr_Hasenbein hat geschrieben: 3. Mai 2021, 15:34Die Annahme mag für dich schlüssig sein, das bedeutet aber nicht, dass sie richtig ist. Er stellt das aber so dar, dass das halt so ist, ein Fakt der unumstößlich wahr ist.
Ist dies aber nicht nur Semantik im Nebensatz? Von der Aussage her ist's kein Unterschied ob ich sage:

(a) "Viele Spieler vermuten, dass historische Darstellungen sachlich zutreffend sind."
(b) "Ich bin überzeugt, dass dass viele Spieler vermuten, dass historische Darstellungen sachlich zutreffend sind."
(c) "Ich halte es für möglich, dass viele Spieler vermuten, dass historische Darstellungen sachlich zutreffend sind."
(d) "Ich halte es für denkbar, dass viele Spieler vermuten, dass historische Darstellungen sachlich zutreffend sind."
(e) ...

Wenn die Diskussion sich nun über den (fehlenden) einleitenden Nebensatz entbrennt, dass der Professor seine Annahme nicht explizit mit "Ich nehme an, dass ..." eingeleitet hat, so ist's doch etwas verquer. Es erschiene mir sinnvoller über die Aussage zu diskutieren. Darüber lässt sich auch diskutiere, ohne direkt in die "Zeig mir empirische Evidenz oder ich beende das Gespräch"-Richtung einzuschlagen. Diese haben wir für allerlei Themen nicht. Die Wikungsforschung bzgl. des Zusammenhanges von Gewaltdarstellung in Medien und der tatsächlichen Ausübung von Gewalt existiert, aber diese lässt sich insgesamt wohl zusammenfassen mit: "Es ist kompliziert und so genau wissen wir's auch nicht." Dennoch ist das Gespräch ja möglich, und auch ergiebig. Ebenso auch, weil wir in allerlei Gesellschaftsbereichen Diskurse führen und Entscheidungen treffen, ohne dass uns ausreichende Evidenz auf dem Tisch liegt.

Umgekehrt gibt's mittlerweile empirische Forschung zu Geschichtsbildern, überwiegend allerdings bei Kindern und Jugendlichen. Und diese legen nahe, dass die Aussage von Dr. Zimmerer plausibel ist. Das ist kein endgültiger Beweis, aber den gibt's in derartigen Diskursen ohnehin nicht. Im Allgemeinen wird Plausibilität aber als valides Argument in Diskursen akzeptiert, sodass ich nicht sehe, weshalb man in diesem Fall davon abweichen sollte. Denn der Umkehrschluss, dass medial-vermittelte Geschichtsdarstellungen keinen Einfluss auf das Geschichtsbild von Menschen haben oder dass jeder Spieler fähig sei die Auslassung der Sklaverei in Anno 1800 überhaupt als solche zu erkennen, das erscheint mir im Gegenzug weitaus weniger plausibel.
Ich habe schon ein Problem damit, wenn man sagt "es ist doch nur Semantik".

Es ist auch nur Semantik ob man sagt "Ich mache mir sorgen um deine Gesundheit, Du achtest in letzter Zeit sehr wenig auf Dich, bedrückt dich irgendetwas?" oder ob ich sage "Du bist fett geworden. Du weißt schon, dass du früher stirbst? Ich kann dich ein bisschen Trainieren." Ja das Beispiel ist sehr drastisch aber hier wird sofort jedem klar, das eine ist völlig OK, das andere ist eine absolute Unverschämtheit.

Dass der Professor das nur annimmt und nicht fest davon überzeugt ist, dass das so ist und andere das glauben sollen, sind lediglich Unterstellungen zu seinen Gunsten. Dass die Spielerschaft gereizt reagiert, hat ja auch damit zu tun, dass genau diese Semantik von oben herab von Fachfremden Personen lange Tradition hat. Und er ist Fachfremd, was mindestens das Medium und den Umgang damit angeht. Ich glaube Dom hat im Podcast dann auch gemeint, dass man ja nicht die Spieler meint, wenn man im Spiel rassistische Darstellung anprangert. Das ist eine sehr bequeme akademische Haltung. Bei den einfachen Leuten kommt das ganz anders an, dort verfängt, Gamer sind Nazis und potenzielle Amokläufer und die lernen dort das Töten und den Umgang mit Waffen. Klar reagiert man da dann gereizt auf solch Semantik.

Ja, aber Plausibilität bedeutet noch immer nicht, dass dem auch wirklich so ist. Das ist im Kern sogar die Aussage von Plausibilität. Wahrscheinlich könnte man auch plausibel erklären, dass die Sphinx von Außerirdischen erbaut wurde. Aber wahr wird es dadurch noch lange nicht :D
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VikingBK1981
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von VikingBK1981 »

Man könnte genauso diskutieren, warum so abschätzig auf die Chinesische Regierung und Staatsform geschaut wird. Die Mehrheit der Chinesen scheinen damit völlig klarzukommen. Unsere westliche Demokratie ist für sie vielleicht nichts was sie wollen.

Auch Afghanistan hat es nicht geschafft und gewollte unser System zu übernehmen.

Warum also dann ein Produkt aus diesem Land boykottieren. Und wenn ja, würdest du das dann auch mit anderen Produkten machen?
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Terranigma
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von Terranigma »

Dr_Hasenbein hat geschrieben: 3. Mai 2021, 16:55Dass der Professor das nur annimmt und nicht fest davon überzeugt ist, dass das so ist und andere das glauben sollen, sind lediglich Unterstellungen zu seinen Gunsten.
Aber das ist doch nur Semantik. "Ich bin überzeugt" oder "Ich nehme an" sind beides Varianten davon, dass man etwas für zutreffend erachtet. Wenn die Diskussion sich nun in der Wortwahl erschöpft, anstatt an der eigentlichen Aussage - "Spieler können im Durchschnitt nicht sauber zwischen Historie und Fiktion unterscheiden" - ... ufz. Ja, mei. Das ist nun nichts, worüber ich diskutieren mag. :D
Dr_Hasenbein hat geschrieben: 3. Mai 2021, 16:55Ja, aber Plausibilität bedeutet noch immer nicht, dass dem auch wirklich so ist.
Diese Gewissheit wirst du in keiner Diskussion je erhalten. Jedwede Debatte ist eine über den größtmöglichen Grad an Plausibilität. Ich weiß nicht welche Art von Evidenz du erwartest, die 101%ig beweisen soll, dass etwas wirklich so ist. So funktioniert's ja nirgends in der Wissenschaft oder in öffentlichen Diskursen. Womöglich verstehen wir nicht dasselbe unter dem Begriff "Plausibilität." Ich meine damit den Schluss auf die beste Erklärung, d.h. man in der Abwägung zwischen verschiedenen Erklärungen jene wählt, die am besten geeignet ist das Phänomen zu erklären.

Wenn man die Aussage des Professors für falsch hält, so gilt im Umkehrschluss, dass man das Gegenteil seiner Aussage für wahr erachtet. Und die Annahme, dass Videospieler im Durchschnitt fähig sind zwischen Fiktion und Historie zu unterscheiden ist im Hinblick auf die vorhandene Evidenz zu Geschichtsbildern bei Kindern und Jugendlichen unzutreffend. Sie ist auch im Hinblick auf die 'Leistungsspitze' - Abiturienten - unzutreffend. Wenn ich nun annehme, dass sich das historische Denken nach Verlassen der Schule nicht naturwüchsig von alleine entwickelt, so ist es naheliegend, dass Erwachsene im Durchschnitt nicht kompetenter im Umgang mit historischen Darstellungen sind als Jugendliche. Und da diese gemäß vorhandener Empirie nicht allzu kompetent sind, gilt dieses Urteil ebenso für Erwachsene. Medien beinflussen Vorstellungen.
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kami
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Re: Runde #317: Cancel Culture?

Beitrag von kami »

Eine schöne Folge, die weit weniger kontrovers abgeht, als der Name vielleicht vermuten lässt. Der Begriff "Cancel Culture" findet vielleicht drei oder vier Mal Verwendung, insofern wäre ein anderer Episodentitel vielleicht passender gewesen. Zur Diskussion selbst: Genshin Impact scheint, den Beschreibungen von Jochen und einigen Videos zufolge, tatsächlich für diese spezielle Spezies auf Stereotypen zu setzen, die rassistisch interpretiert werden können. Die Frage ist, wie sollte man darauf reagieren? Ist es schon ein Boykott, wenn ich das Spiel einfach weiter gratis spiele? Helfe oder schade ich mit irgendeiner Art Boykott wirklich jemandem? Ich denke, das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Sehr viele Chinesen sind schwarzen Menschen unglaublich rassistisch gegenüber eingestellt. In populären Actionfilmen aus China wie Wolf Warrior 2 oder Operation Red Sea wird ein absolut oberflächliches, stereotypes und verzerrendes Bild von Afrika und seinen Bewohnern gezeichnet, die abwechselnd verächtlich oder paternalistisch behandelt werden. Da China sich inzwischen stark in Afrika engagiert, investiert und Abhängigkeiten schafft, hat dieses Menschenbild natürlich auch echte Konsequenzen, obwohl chinesische Medien gerne von gegenseitigem Respekt reden. Werbespots wie dieser hier zeigen jedoch ein anderes Bild: https://www.youtube.com/watch?v=Few8kJ0zfnY Anders als bei Firmen im Westen fehlt bei chinesischen Unternehmen vermutlich jedes Bewusstsein für Rassismus, solange er nicht Chinesen betrifft. Insofern sehe ich auch wenig Chancen, mit ohnmächtigen Boykottdrohungen irgendetwas zu bewegen.
Spannender war der zweite Teil des Podcasts, also die Diskussion um Anno 1800. Obwohl ich Dom sehr schätze, war ich dieses Mal doch fast durchweg auf Linie mit Jochen und kann wie dieser nicht ganz verstehen, mit welcher Berechtigung Dom hier seine Forderungen stellt. Ist Dom denn tatsächlich journalistisch eine derartige Autorität, dass er es im Prinzip erwarten kann, auf eine Informationsanfrage von einem Entwickler Antwort zu bekommen? Aber davon abgesehen, finde ich auch den Fokus auf Sklaverei etwas fragwürdig. Anno 1800 wurde von einem deutschen Studio entwickelt, in einem Land, für das Sklaverei nie eine wirkliche Rolle spielte. Zudem war die Sklaverei in der westlichen Welt im 19. Jahrhundert deutlich auf dem absteigenden Ast, in Europa war Sklaverei und Sklavenhandel weitestgehend verboten. Für die industrielle Revolution spielte Sklaverei bestenfalls indirekt über die Baumwolle eine Rolle, war aber gewissermaßen ein Zuliefererproblem. Angesichts des Umstands, dass ein Einbau von Sklaverei, vielleicht gar als Wirtschaftskomponente, wie von Jochen richtig bemerkt einen vermutlich ungleich größeren Aufschrei erzeugt hätte als ein Negieren, halte ich es für absolut nachvollziehbar und verantwortungsbewusst, dieses Element auszuklammern. Was ich mich aber frage, warum kommt man aus Gründen historisch korrekter Darstellung ausgerechnet auf die Sklaverei als "feigen und faulen" Mangel in Anno 1800. Die dominierende Kraft der industriellen Wertschöpfung im 19. Jahrhundert, neben dem technischen Fortschritt, war die absolut gnadenlose und vollumfängliche Ausbeutung der einheimischen Arbeiterklasse. Für diese "privilegierten Weißen" gab es in kaum einem europäischen Land echte politische Rechte, sie waren durch ökonomische, politische und technologische Veränderung ohne echte eigene Entscheidungsmöglichkeiten zur Landflucht gezwungen gewesen, ihr sozialer Status war unveränderlich, sie starben wie die Fliegen bei Arbeitsunfällen, an Staublungen oder anderem Elend in nach heutigem Maßstab jungen Jahren, Arbeitsschutz, irgendeine Art sozialer Sicherheit oder ähnliches gab es nicht, ihre Kinder schufteten ebenfalls in Fabriken, ohne Schutz, ohne Schule, und es gab keinerlei Aussicht, dieser Misere anders zu entkommen als durch den Tod. Ich habe Anno 1800 nicht gespielt, habe aber in keiner Besprechung oder Kritik zum Spiel Hinweise darauf vernommen, dass dieser für die gesamte Periode prägende Umstand im Spiel reflektiert wird. Falls doch, dann gut und mea culpa. Das wäre aber jedenfalls ein Thema, dem ich deutlich höhere Relevanz beimessen würde, insbesondere, da wir ja im Kern immer noch das gleiche Wirtschaftssystem besitzen, dessen sozialer Umbau vielleicht nicht bis in alle Ewigkeiten Bestand haben und eines Tages in Frage gestellt werden könnte. Prinzipiell erwarte ich aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht in solch einem Spiel, welches ja einen eher idealisierten und romantisierten Blick auf diese Epoche wirft. Da man Geschichte im Spiel ja gewissermaßen selbst gestaltet, dürfte auch klar sein, dass der historischen Korrektheit hier sowieso schon spielbedingt enge Grenzen gesetzt sind.
“Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.” Philip K. Dick
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