Ich wollte mich ja eigentlich raushalten, aber ach, ... ich habe in den letzten Tagen mehrmals ganze Posts geschrieben und wieder gelöscht weil ich mir dachte: "Das bringt's nicht." Aber dann eben doch mal wieder. Ich find's Thema halt doch zu spannend!
(1) Dr. Zimmerer hat nicht behauptet, dass man durch Anno 1800 lernen würde, dass es Sklaverei nicht gab. Er sagte:
Und wenn dann so ein entscheidender Faktor, der zum Wohlstand und zur Industrialisierung beigetragen hat, wie die transatlantische Sklaverei und die Sklavenwirtschaft fehlt, dann „lernen“ sie daraus, dass es das nicht gab.
Das Prononomen 'das' kann sich nicht auf das Nomen 'Skalverei' beziehen, weil es sonst 'sie' heißen müsste. Diese Passage ist dem Interview entnommen, in welchem er zuvor über die Sklaverei als Faktor für die Industrialisierung sprach. Die Problematik besteht darin, dass Anno 1800 ein Narrativ bedient, welches es in der Gesellschaft gibt, und welches u.a. auch durch den schulischen Geschichtsunterricht durchaus befördert wird. Das Narrativ lautet, dass die Industrialisierung maßgeblich auf dem schöpferischen Genie einzelner Personen sowie ökonomischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen in Englands aufbaut. Diese Faktoren sind zutreffend. Wie @nachtgiger allerdings zutreffend sagt, basiert der wirtschaftliche Durchbruch der Ersten Industriellen Revolution auf dem großen Angebot preiswerter Baumwolle, weil die Erste Industrielle Revolution - vereinfacht gesagt - mit der Textilindustrie zusammenfällt. Und der Rohstoff, welcher in den Manufakturen verarbeitet wurden, war Baumwolle. Diese Baumwolle stammte zu einem erheblichen Anteil aus den Vereinigten Staaten und wurde bis in die Mitte des 19. Jhds. von Sklaven geerntet.
Dr. Zimmerer spricht über diesen Zusammenhang, und dass Anno 1800 den Eindruck erhärten könnte, dass es diesen Zusammenhang nicht gab. Dies ist insofern plausibel, weil dieser Zusammenhang - je nach Schulbuch - auch in der Schule überhaupt nicht hergestellt wird, und die Industrielle Revolution, welche typischerweise in der 7. oder 8. Kl. behandelt wird, nur mit groben Pinselstrichen umrissen und selten über das Niveau von "tolle Männer entwickeln tolle Maschinen" hinausgeht. Wer weiß, dass es Sklaverei gab, der wird dies durch das Spielen von Anno 1800 nicht verlernen. Das behauptet auch Dr. Zimmerer nicht. Wer allerdings den Zusammenhang zwischen Sklaverei (Rohstoff) und Industrialisierung (Verarbeitung) nicht auf dem Schirm hat - und das dürften sehr viele sein, weil dieses Thema im schulischen Unterricht typischerweise unter'n Tisch fällt - den bestätigt Anno 1800 in diesem Geschichtsbild.
(2) Der Begriff "historische Realität" ergibt keinen Sinn, weil Historie (Geschichte) per Definition eine Konstruktion ist, d.h. eine Darstellung von Vergangenheit. Diese Darstellung ist per se real, weil es sie gibt. Die Frage ist, wie diese Darstellung die Vergangenheit abbildet. Wenn man von einer "historischen Realität" spricht, so legt man nahe, dass diese für uns greifbar ist. Das ist sie nicht. Vergangenheit ist nicht greifbar, sondern nur (re-)konstruierbar. Das ist das epistemologische Fundament der Geschichte als Wissenschaft, diese kategorische Unterscheidung von 'Vergangenheit' und 'Geschichte'. Auch Historiker bilden keine 'historische Realität' in dem Sinne ab, dass sie die Vergangenheit als solche sichtbar machen könnten. Das können sie nicht. Sie (re-)konstruieren Vergangenheit anhand von historischen Quellen. Diese Darstellungen sind mehr oder minder fundiert, aber sie sie nicht identisch zu dem, was war. Auch Anno 1800 ist eine Interpretation von Vergangenheit.
Darstellungen
Bei Materialien, die zu einem späteren Zeitpunkt hergestellt worden sind und die zu untersuchende Zeit daher nur darstellen können, handelt es sich nicht um Quellen, sondern um so genannte Geschichtsdarstellungen. Diese sind das Ergebnis der historischen Forschung und geben wieder, was früher passiert ist. Darstellungen sind Erzählungen, bei denen aus Quellen die Vergangenheit rekonstruiert wird. Es gibt Darstellungen, die vergangene Ereignisse möglichst realitätsnahe wiedergeben (z.B. Dokumentationen) und solche, die diese frei interpretieren (z.B. PC-Spiele).
Wikiversity
(3) Anno 1800 ist eine historische Darstellung, d.h. bildet Geschichte ab. Eine historische Darstellung ist nicht darüber definiert, ob sie (a) den Anspruch erhebt eine zu sein. Der Herr der Ringe erhebt keinen expliziten Anspruch ein Fantasy-Roman zu sein, aber er ist aufgrund seiner literarischen Merkmale eben jenes. Eine historische Darstellung ist (b) ebenfalls nicht darüber definiert, ob sie historische Eigennamen von Personen, Orte, Ereignissen, o.Ä. verwendet. Anno 1800 datiert sich bereits über seinen Namen in der Geschichte, die Inszenierung - Warenketten, Technologiestand, Architektur, u.Ä. - zielt auf die Schaffung einer historischen Atmosphäre ab. Es ist kein Fantasy- oder SciFi-Titel. Ebenso ist eine historische Darstellung (c) nicht darüber definiert, dass sie einen wissenschaftlichen oder edukativen Anspruch erhebt. Mittelaltermärkte, Fernsehserien und Kinofilme mit historischen Thematiken sind historische Darstellungen in der Gestalt, dass sie Vergangenheit interpretieren und (re-)konstruiert abbilden. Dass Anno 1800, wie die Anno-Reihe insgesamt, eine historische Darstellung ist, erkennt man doch ganz banal an folgender Probe: Wenn ich Anno 1404 mit Anno 1800 vergleiche, erkenne ich Unterschiede in der Darstellung der Spielwelt. Diese Unterschiede ergeben sich aus den unterschiedlichen Epochen, d.h. Anno 1404 ist anhand bestimmter Elemente - kulturelle Unterscheidung in (christlichen) Okzident und (islamischen) Orient, Kreuzzug, Sarazenen, u.Ä. - erkennbar im Mittelalter verortet und zeitlich von Anno 1800 getrennt.
Dass wir in der Anno-Reihe überhaupt historische Epochen wiedererkennen können - bei Warcraft oder Starcraft kann ich dies nicht - liegt darin begründet, dass wir die in den Spielen dargestellten Epochen als solche erkennen. Eben weil sie Geschichte abbilden. Dass dies keinen wissenschaftliche Ansprüchen genügt und dies auch nicht tun möchte - auch ein Mittelaltermarkt will kein "Mittelaltersimulator" sein, und ist dennoch eine Darstellung des Mittelalters - ist für den Umstand, dass es Geschichte abbildet, nicht relevant. Es sind freie Interpretationen von Vergangenheit, aber eben doch Interpretationen.
(4) Schlimm finde ich das dennoch nicht. Anno 1800 will naiver Eskapismus sein. Das finde ich okay. "JoJo Rabbit" will eine Komödie im Kontext der Hitlerjugend und des Holocausts sein. Finde ich auch okay. Kann man geschmacklos finden oder problematisch, tue ich persönlich aber nicht.