So hallo, ich habe mich jetzt mal extra bei diesem Forum angemeldet um hier auch meinen Senf loszuwerden. Als Historiker beschäftigt mich das Thema Geschichtsdarstellungen in Computerspielen schon länger, allerdings eher nebenbei, nicht als Forschungsschwerpunkt. Ich habe mich deshalb sehr über diese Folge gefreut! Nachdem ich sie dann zu Ende gehört hatte, habe ich sie allerdings sehr mit einem lachenden und einem weinenden Auge gesehen und beides hatte mit Dingen zu tun, die Du, Jochen Gebauer, zum Besten gegeben hast, deshalb formuliere ich das hier mal als Antwort/Folgenfeedback an Dich. Ich fange mal mit dem lachenden Auge an. Ich finde es wirklich gut, dass Du den Stellenwert von komplexeren kulturellen Themen im Gamesjournalismus so kritisch angesprochen hast und mit dieser Folge einen Beitrag in die richtige Richtung geliefert hast. In der Tat muss man ja sagen, dass der Gamesjournalismus da einen langen Weg hinter sich hat und das muss man wirklich anerkennen. Umso seltsamer finde ich dann diese ziemlich defensive und auch leicht arrogante Reaktion im zweiten Teil, in der Du ernsthaft die Frage stellst, wie eigentlich die Datenlage zur Wirkung von Geschichtsbildern im Computerspiel sei und so lange es da keine Forschung gebe, sei es doch total vermessen, da irgendeine negative Wirkung zu unterstellen. Das, mit Verlaub, ist doch das technokratische Abwehrgeschütz der alten Schule. Wozu um alles in der Welt brauchst Du da eine Datenlage? Seit einigen Jahren stellt sich die Gamesindustrie in Deutschland hin und will nichts lieber als ein echtes Kulturgut sein. Der Branchenverband Bitcom wird nicht müde, immer wieder den einen Satz bei jeder Gelegenheit zu platzieren, dass Computerspiele ein "gesellschaftliches Kulturgut wie Bücher, Filme oder Kunst" sind. Ich will dem überhaupt nicht widersprechen, im Gegenteil, ich finde das richtig. Dann sollten wir aber endlich auch anfangen, Computerspiele als Kulturgüter zu
behandeln und das bedeutet eben auch, sie ebenjenem gesellschaftlichen Kulturdiskurs auszusetzen, dem Bücher, FIlme und Kunst ausgesetzt sind, seit es in Zeitungen Feuilletons gibt. Und das bedeutet: Natürlich darf man, soll man an Kulturpodukten rumnörgeln, kritische Fragen stellen, ihren gesellschaftlichen Wert anzweifeln und sie hemmungslos sezieren und dekonstruieren. Denn so funktioniert unsere Kultur, wir schauen uns etwas an, überlegen, was der oder die Autorin uns damit sagen will und geben unseren Senf dazu. Auf diese Weise entsteht ein gesellschaftlicher Diskurs darüber, wer wir eigentlich als Gesellschaft sind, wie wir uns sehen wollen und welche kulturellen Entgleisungen wir ablehnen oder sogar begrüßen. Und da stellt niemand die Frage, wie denn eigentlich die quantitative Datenlage zur Rezeption des Zauberbergs von Thomas Mann ist oder ob man über Film XY irgendwas sagen kann ohne das an Zuschauerquoten oder gar der durchschnittlichen quantitativ erhobenen Interpretation des Werkes bei den Zuschauern festzumachen, das wäre doch totaler Blödsinn! Und in diesem kulturellen Kosmos findet eben auch die Diskussion und die Einordnung dargestellter Geschichtsbilder statt - völlig ohne, dass sich jemand dafür interessiert, wer wie welches Geschichtsbild bereits kennt und wer wie wo welche Bildung genossen hat, denn darum geht es nicht! Kultur ist nicht gleichzusetzen mit Didaktik! Als der Film Braveheart völlig zu Recht von Historikern auseinandergenommen und als erzrevisionistisches nationalistisches Schottenmärchen entlarvt wurde, hat niemand die Frage gestellt, wie man wem mit welcher Grundbildung diesen Film jetzt zutrauen kann oder nicht. Tatsächlich war die historische Einordnung des Filmes aber sinnvoll - es ist ja schon eine relevante Information (auch für journalistische Texte), ob man mit diesem Film jetzt eine Perle der cinematographischen Historiographie hat (hat man nicht), oder ob es sich um ein ziemlich wild umeinandergewürfeltes Trallala der Schottenrockromantik handelt. Nun kann man natürlich sagen, Historiker, geht nach Hause, niemand interessiert sich für Geschichte - aber das stimmt ja nicht. Tatsächlich hat ja etwa die Assassins Creed Reihe jahrelang damit Umsatz gemacht, dass sie Leute mit Kitteln und Stiften im Mund gezeigt und dazu gerufen haben "seht her! echte Historiker haben detailgetreu mittelalterliche und antike Städte nachgebaut" Und da sag ich halt als Historiker, wenn schon, denn schon! Geschichte ist unser Turf und wer da rumgurkt, muss sich mit uns anlegen, so einfach! Und genau das kann man ja wohl auch bei Produkten wie Anno machen. Grafisch schönes Spiel mit Spaßfaktor, das als historische Wi-Sim daherkommt, dabei aber zugunsten eines gewissen Feelgood-Feelings offensichtlich mit Absicht die Chance verpasst, die Zusammenhänge zwischen Industrialisierung, Kolonialismus und "schwierigen" Themen wie etwa Sklaverei, Rassismus und Nationalismus herzustellen. Wo ist denn das Problem mit dieser Aussage? Übrigens, bei Anno bin ich bereits bei irgendeinem Vorgänger ernsthaft ausgestiegen, als ich mit einem Schiff einem Typen mit Turban auf einer Insel begegnet bin, einem stereotypen Abziehbild eines muslimischen Sultans (fehlte nur noch der Sarotti-Mohr im Hintergrund), der mit rollendem R entgegenschmetterte "Willkommen im Ooorrient"
omg, das war mir einfach zu doof, ich hatte danach echt keinen Bock mehr auf das Spiel, zumal es ja auch diesbzgl. nicht besser wurde. Deshalb habe ich auch das Industrie-Anno nicht mal angeschaut, weil ich von diesem Studio nichts gutes mehr erhoffe. Und ich glaube, angesichts des Anspruchs einer auch älter werdenden Gamergemeinde, die sich über Spiele wie Crusader Kings III freut, darf man ja durchaus auch mal sagen, wenn ein Spiel für gewisse Ansprüche einfach zu platt ist. Wieso denn nicht mal ein regelmäßiges Geschichtsfeature zu historischen Spielen? Das muss doch nicht mit dem Zeigefinger daherkommen und nach Schule riechen - wie wäre es mit einer Rubrik "Bullshit-Scanner", die historische Games auseinandernimmt und neben den Stand der Forschung stellt? Mit O-Tönen von Experten und dem Cultural Advisor der Spieleschmiede, um bestimmte, möglicherweise nicht mal unberechtigte Designentscheidungen transparent zu machen, die man dann aber auch diskutieren kann? Wer Kultur sein will, sollte jedenfalls endlich bereit sein, sich aus dem von innen verbarrikadierten Nerdkeller zu verabschieden.