Langer Post auf dem Durchflug, darf man auch gerne überlesen!
Ich nehme den bisherigen Diskussionsverlauf zur Kenntnis, gehe aber einmal auf den letzten Themenpunkt des Podcasts ein. Weil ich diesen Teil der Folge verdammt spannend fand! Jochen und Dom sprachen dabei über folgende Aussage von Dr. Zimmerer bzgl. der Wirkung von Geschichtsdarstellungen auf das Geschichtsbild von Spielern. Im Artikel von Dom (2018) wird er wie folgt zitiert:
„Ich finde das hochproblematisch. Weil dadurch, dass Anno 1800 als historische Simulation daherkommt, erhebt es ja den Anspruch, die Geschichte abzubilden. Das heißt, gerade die Spieler, die nicht zufällig Geschichte studieren oder nicht Geschichtslehrer sind, die vermuten ja, so war das damals. Und wenn dann so ein entscheidender Faktor, der zum Wohlstand und zur Industrialisierung beigetragen hat, wie die transatlantische Sklaverei und die Sklavenwirtschaft fehlt, dann „lernen“ sie daraus, dass es das nicht gab. Und damit wird im Grunde, diese gesamte Aussage, worauf der Erfolg der europäischen Wirtschaft und Industrialisierung beruht, komplett verzehrt.“
Jochen gab an, dass es diese Aussage paternalistisch fände, weil sie allen Menschen, die weder Geschichte studiert haben oder es unterrichten, den gesunden Menschenverstand absprechen, und er diese Aussage mit Evidenz begründen oder ergebnisoffen als Annahme darstellen solle. Dom reagiert darauf mit dem Hinweis, dass anekdotische Evidenz im eigenen Umfeld - Anmerkung: ich vermute (!), dass dies Erwachsene mit ordentlichen Bildungsniveau sind - kein Gegenbeweis ist. Er führt weiter aus, dass man diese Annahme plausibel finden könne oder auch nicht, es hierzu aber keine Wirkungsforschung gäbe. So! An diesem Punkt wollte ich nun ansetzen, denn diese gibt es im gewissen Maße durchaus, nur ggf. nicht an der Stelle, wo man sie vermutet. Medienpädagogik ist da eine Adresse, es gibt allerdings eine weitere: nämlich die Geschichtsdidaktik.
Bildungsforschung - und die Didaktik eingeschlossen - war in Deutschland traditionell stark geisteswissenschaftlich orientiert, sodass evidenzbasierter Forschung eine vergleichsweise geringe zukam. Das hat sich u.a. seit dem PISA-Schock der 2000er mittlerweile erheblich geändert und auch in der Geschichtsforschung setzte sich die Erkenntnis durch, dass man Wände mit Büchern zur Geschichtsdidaktik, Geschichtsbewusstsein, Geschichtsvorstellungen, u.Ä. füllen kann, es allerdings vergleichsweise wenig evidenzbasierte Forschung zum Status Quo gibt. Der Befund, dass die Forschungslage dazu weiterhin dürftig ist, gilt immer noch. Aber im Bereich der Geschichtsdidaktik wird sich konzeptionell über den Begriff der "Geschichtskultur" seit vielen Jahren mit der (medialen) Darstellung von Geschichte in der Gesellschaft beschäftigt. Ebenso auch damit, welche Vorstellungen von Geschichte Menschen haben. Da dies vom Fachbereich her noch zumeist der Geschichtsdidaktik zugeordnet ist, sind die Probanten von Umfragen, u.Ä. zumeist Kinder und Jugendliche, keine Erwachsenen. Das bietet sich für die Diskussion zwischen Jochen und Dom allerdings auch insofern an, als das insb. Kinder und Jugendliche aufgrund ihres Entwicklungsprozesses im besonderen Maße für die Internalisierung von äußeren Einflüssen empfänglich sind. Positiver gesprochen: Sie sind formbar, einerseits zielgerichtet durch Erziehung und Bildung, ebenso auch nicht-zielgerichtet im Sinne der allgemeinen Sozialisierung. Das Alter ist relevant, und an dieser Stelle gehe ich nicht mit Jochens Argumentation mit, wenn er sinngemäß sagt: "Für wie blöd hält uns dieser Professor eigentlich?"
Die Frage ist, wer das "Wir" ist. Wenn wir mit "Wir" überdurchschnittlich gebildete Erwachsene meinen, die Teil von kulturellen Diskursen sind und somit eine Sensibilität diesen Themen gegenüber mitbringen, so sehe ich es ähnlich wie Jochen. Wir dürften ein solides Orientierungswissen über den Kolonialismus haben und die Darstellung in Anno 1800 eingermaßen kontextualisieren können. Anno 1800 hat allerdings eine Altersfreigabe von "Ab 6 Jahren." Anekdotische Evidenz: Ich habe Anno 1602 erstmalig im Alter von 10 Jahren gespielt und weiß noch, wie ich meinem Vater erzählte, dass ich da etwas über Geschichte lernen kann. Weil's ja ein "Geschichtsspiel" ist. Hier im Forum - auch in anderen Foren - haben viele User berichtet, wie sie mit Age of Empires und Co für den Geschichtsunterricht gelernt haben. Ich meine mich zu erinnern, dass auch einzelne Podcaster (?) sich in diese Richtung äußerten. Diese Spieler sind nicht fähig Geschichtsdarstellungen als
Darstellung zu dekonstruieren. Gleichzeitig prägen aber insb. audiovisuell vermittelte Darstellungen das Geschichtsbild von Heranwachsenden im hohen Maße, weil sie - anders als etwa Bücher - Geschichte sicht- und hörbar machen, und somit der Darstellung ein hohes Maß an Authentizität zukommen lassen. Selbst wenn man rational weiß, dass es nur eine Darstellung ist und einzelne Elemente nicht historisch sind, benötigt es ein entsprechendes Orientierungswissen um zu erkennen,
welche Elemente fiktiv sind. Anekdotische Evidenz: Ich unterrichte Geschichte und beginne den Unterricht als neues Fach i.d.R. damit, dass ich mir einen Überblick über die historischen Präkonzepte von Schüler*innen einhole, u.a.: "Was ist Geschichte?" oder "Was ist der Unterschied zwischen Geschichte und Vergangenheit?" Beim Einstieg in konkrete Themen mache ich das Vorwissen sichtbar. Und hier ist evident erkennbar, dass die Vorstellungen von Schüler*innen medial vermittelt sind. Heranwachsende kennen das, was in der Pop-Kultur angesagt ist: Steinzeit, Antike und Mittelalter. Insbesondere die Vorstellungen zum Mittelalter sind zumeist romantisch übermalt, teilweise vermengen sie Elemente aus Phantastik (Videospiele, Filme, u.Ä.) und Historie.
Nun könnte man sagen, dies träfe nur auf Kinder zu und der Geschichtsunterricht sei derart professionell, dass alle Jugendlichen nach der 9. oder 10. Klasse ein ausgeprägtes
Geschichtsbewusstsein besitzen. Dem ist nicht so. Anekdotische Evidenz: Ich ließ dieses Jahr in meinem Kurs der Oberstufe mal "Germanen" malen. Meine Intention war, dass ich anhand der Zeichnung sehen wollte, inwiefern diese popkulturelle Darstellungen reproduzieren. Die Aufgabenstellung war bewusst geschlechtsneutral formuliert, dennoch zeichneten fast alle nur bewaffnete Männer. Größtenteils blonde Haare. Viele trugen auch "Wikingerhelme", weil die Unterscheidung zwischen Germanen und Wikinger teils nicht gegeben war.
Um nicht nur anekdotische Evidenz zu nennen, u.a. Günther-Arndt und Thünemann. Beides renommierte Geschichtsdidaktiker. Hier stellt Günther-Arndt (2019) in "Geschichtsdidaktik. Praxisbuch" die Ergebnisse einer empirischen (!) Studie zur historischen Vorstellungen bei Jugendlichen vor:
Lernende entwickeln kaum oder nur rudimentäre Vorstellungen zur nature of history, also dazu, wie historisches Wissen 'ensteht'. Sie betrachten Quellen, bildliche und schriftliche, gleichermaßen "in der Regel als Abbild [...] der historischen Wirklichkeit", Quellen zeigen, "wie es früher gewesen ist." Dieses Abbildverständnis gilt auch für Darstellungen zur Geschichte, wobei schon die Unterscheidung von Quelle und Darstellung von Schülern kaum vorgenommen wird. MARTEN (2010) identifziert eine von Kl. 8 bis zum Leistungskurs in Kl. 12 vorhandene Basisorientierung von Jugendlichen: Geschichte hat sisch nur in einer einzigen Weise ereignet und deshalb lässt sie sich nur auf eine Weise als richtig und 'wahr' darstellen. Diese Basisorientierung hat dramatisch negative Auswirkungen, praktisch bis zum Abitur. [...]
Weiterhin:
Im Zentrum aller Erklärungen und Deutungen von Geschichte mit Alltagserfahrungen und lebensweltlichen Konzepten steht ein undifferenzierter Gegenwartsbezug. [...] Unterschiede werden damit erklärt, dass die Menschen früher nicht so viel wussten wie wir heute. Verstärkt wird dieses allmächtige Gegenwartsdenken durch ein Zusammenschrumpfen aller Vergangenheit zu einer, zu "früher." [...] Implizite Theorien reichen in der Regel (auch Erwachsenen) aus, um über Geschichte 'mitreden' zu können, aber sie ermöglichen kein historisches Verstehen.
Die Ergebnisse einer empirischen Studie zum Kenntnis- und Fähigkeitsstand von Abiturienten (!) mit u.a. Thünemann (2010) schließt sich dem ein. Basale Grundfähigkeiten wie die Unterscheidung von Quelle und Darstellung, sowie Geschichte und Vergangenheit sind bei Prüflingen kaum vorhanden. Für den Podcast relevant, wird dies anschließend weiter generalisiert:
Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der drei Autoren sind ernüchternd, wenn auch nicht unbedingt überraschend. So wird beispielsweise festgehalten, dass eine „grundlegende Differenz zwischen Quelle und Darstellung […] den Prüflingen insgesamt kaum bewusst“ (S.37) sei. [...] Die Problematik dürfte aber noch tief gehender sein. Schülerinnen und Schüler, die bereits Defizite darin zeigen, eine schriftliche Quelle von Sekundärliteratur zu unterscheiden, sind vermutlich mit medialen Darstellungen im Fernsehen oder im Internet ebenso überfordert. Die im Rahmen von Infotainment zunehmende Verwischung von Fiktion und Dokumentation stellt dabei umgekehrt zunehmende Anforderungen an einen sicheren Umgang mit vielfältigen Arten von Quellen und dies nicht nur für ausgesprochen bildungsorientierte Gymnasiast/innen.
Inwiefern "wir" - den Begriff müsste man bei einem FSK6-Titel durchaus näher operationalisieren - also fähig sind, einen Titel wie Anno 1800 zu spielen und überhaupt zu realisieren, dass dies (a) eine Darstellung von Geschichte ist, dass (b) diese fiktionale Elemente enthält bzw. historische Elemente nicht beinhaltet und diese (c) auch zu benennen, dies stellt sehr hohe Anforderungen an das historische Denken. Ziehe ich meine anekdotischen Erfahrungen als Lehrkraft sowie die Forschungsergebnisse der Geschichtsdidaktik heran, so kann man sagen: Schüler*innen besitzen diese Fähigkeit
im Durchschnitt nicht. Nicht kurz vor ihrem regulären Schulabschluss (Sekundarstufe 1) und auch nicht nach dem Abitur, auch weil der Unterricht diese Fähigkeiten bis in die jüngere Vergangenheit nie explizit geschult hat. Ich erachte es somit als sehr unwahrscheinlich, dass sich das historische Denken von Erwachsenen nach ihrer Schulzeit quasi von alleine derart entwickelt, dass sie zu einer differenzierten Auseinandersetzung fähig sind, zu welcher Schulabsolventen es nicht sind. Damit will ich Erwachsenen umgekehrt nicht die per se Fähigkeit absprechen, etwa bei Anno 1800 darüber zu stolpern, dass hier was fehlt. Das wäre in der Tat paternalistisch. Ich habe aber sehr große Zweifel daran. Das Forum, in dem - meines Eindrucks nach - ein eher hohes Bildungsniveau gilt und man sich auch vorsätzlich intellektuell mit Videospielen beschäftigt, ist nicht repräsentativ in der Breite. Auch Jochen, der - wie er sagt - sich in seinem Studium mit (Post-)Kolonialismus beschäftigt und in dem Thema firm ist, ist es nicht.
Was den Kenntnisstand zum Thema "Kolonialismus" eher entsprechen dürfte, wäre dies: Ich habe für das Thema "Kolonialismus/Imperialismus" in der 9. Klasse (G8) exakt drei Schulstunden gehabt. Industrielle Revolution ist namentlich gefallen, für mehr war keine Zeit. Das ist mies, aber leider nicht unüblich. Wenn man Geschichtslehrer zum Stand des Faches fragt, ist die Antwort uni sono zumeist: "Zu viel Stoff, keine Zeit. Es fällt viel unter den Tisch." Kolonialismus ist wie die Industrielle Revolution klassischerweise so'n Thema, wo alle Kollegen einem bestätigen, dass es wichtig sei, sie aber auch zugeben, dafür nicht mehr als so'n paar Einzelstunden zu haben. Wenn ein Schüler in der Woche mal krank war oder aus'n Fenster schaute, kann er auch leicht die Hochzeit des Kolonialismus (Imperialismus) im 19. Jhd. verschlafen haben und sich beim Spielen von Anno 1800 absolut gar nichts denken, auch weil ihm das notwendige Orientierungswissen fehlt, um überhaupt auf die Idee zu kommen, dass etwas fehlen könne. Das Thema "Industrielle Revolution" ist typischerweise eine Doppelstunde, in der eine Dokumentation geschaut wird. Je nach Alter des Kollegen und der Dokumentation wird dabei nicht von Sklaven gesprochen.
Das abschließend nur gesagt: Ich bin in der Konsequenz dennoch bei Jochen in der Hinsicht, dass ich derartige Romantisierungen im Sinne einer "Eisenbahnromantik" für legitim halte. Nicht nur, weil ich die Forderungen nach einer adäquaten Darstellunge der Geschichte nicht für praktikabel umsetzbar halte, sondern weil ich die Forderung nicht teile. Aber ich stimme nicht zu, dass die Aussage von Dr. Zimmerer paternalistisch sei. Ich würde ihm mit Blick auf meine eigene Lehrtätigkeit und den Stand der Geschichtsdidaktik zustimmen. Wenn im Internet, u.a. auch im Forum, die These vertreten wird, Videospiele seien ein gutes Mittel um Geschichte zu lernen - sprich: Erwerb von deklarativen (Fakten-)Wissen - dann lese ich das als Bestätigung für diese Annahme. Das Problem sehe ich allerdings nicht beim Videospiel, denn dies will Unterhaltungsprodukt und nicht Bildungsroman sein will. Ich denke, das kann das Boot aber ab.