Axel hat geschrieben: ↑30. Mai 2022, 15:42Die Frage ist halt,
wie man das umsetzen kann, ohne dass es moralisch hoch verwerflich wird. Der von echtschlecht verlinkte Podcast diskutiert diese Fragenstellung sehr interessant.
Alternate History schafft definitiv eine Distanz und die Fikationalisierung erlaubt einem diesbezüglich wohl eine größere kreativere Freiheit, sich dem Thema auch angemessen zu nähern. Aber auf die Frage bezogen: Die Beantwortung der Frage nach dem
wie scheitert meines Eindrucks nach wiederholt daran, dass Entwickler von Videospielen weiterhin nicht begreifen, dass (a) Videospiele kein passiv-lineares Medium wie Filme sind aber den Film weiterhin als Vorlage nutzen und (b) dass sie nicht begreifen, was Geschichte in seinem Wesen auszeichnet und von Vergangenheit unterscheidet.
Ich stelle mir nun vor, ich wäre ein Entwickler und irgendwer würde die Idee pitchen, in einem Videospiel den Holocaust aufzugreifen oder gar Passagen in einem Konzentrationslager abzubilden. Es gäbe nun verschiedene Ansätze, und allesamt davon wären für sich isoliert betrachtet problematisch.
(1) Man könne eine Stealth Passage durch ein KZ designen. Gemäß der Annahme, dass der Spieler die Passage für die Progression aber auch bestehen muss, könnten nun Kritiker anmerken, dass es unmoralisch sei ein KZ derart zu inszenieren, so als könne man ohne größere Probleme dadurch schleichen. Es waren tatsächlich streng bewachte Sicherheitsanlagen.
(2) Man könne als Spieler einen KZ-Häftling spielen, der im Laufe der Handlung dort auch elendig verstirbt. Kritiker könnten dies als pietätlosen "Katastrophentourismus" ablehnen, oder die fatalistische Reduktion der Hälftlinge auf nur ihr Opfer-Sein kritisieren. Tatsächlich gab es auch Widerstand innerhalb der KZs und auch erfolgreiche Fluchten.
(3) Man könne einen KZ-Hälftling spielen, der im Laufe der Handlung erfolgreich aus einem KZ flieht. Kritiker könnten nun vorwerfen, dass das Spiel den Anschein erzeuge, als hätte es nur ausreichend Geschick bedurft, um erfolgreich aus einem KZ zu fliehen - und insofern würde das Spiel in der Konklusion die in KZ verstorbene Opfer als unfähig zur Flucht charakterisieren.
(4) ...
Egal welche singuläre Geschichte man über den Holocaust erzählt, sie wäre niemals repräsentativ für die Vielfalt der Geschichten, welche Menschen erlebten. Aber diese Problematik liegt nicht in der Auswahl begründet, gemäß der Annahme: "Wir müssen nur eine pietätvolle, ausgewogene, differenzierte Einzelgeschichte erzählen und dann klappt's." Die Problematik liegt daran begründet, dass Geschichte
eben auf eine Geschichte reduziert wird. Es gibt aber nicht
die Geschichte des Holocausts, genauso wenig wie es
die Geschichte der Sklaverei gibt. Es gibt einen Pluralismus an Geschichten; einerseits derer, welche über die Vergangenheit erzählt werden, zum anderen auf der Ebene der Vergangenheit. Diese Multiperspektivität, gerade Geschichte nicht auf eine Perspektive zu verkürzen, ist sine qua non für eine reflektierte Geschichtsdarstellung. Und Videospiele tun dies wiederholt ggf. auch deshalb nicht, weil sie als großes Vorbild weiterhin den Film begreifen, der - aufgrund der Eigenheit seines Mediums - zumeist eine lineare Geschichte von Anfang bis Ende auserzählt. Videospiele könnten die Multiperspektivität aber insofern adäquat abbilden, indem man mehrere Charaktere spielt und somit mehrere Perspektiven auf einen Sachverhalt erhält; ohne dass dabei eine Perspektive als
richtiger oder
wahrer inszeniert wird.
Natürlich wäre weiterhin Fingerspitzengefühl benötigt. Aber das ist bei einem Spielfilm nicht anders, und Spielfilme wiederum trauen es sich, sich diesem Thema zu widmen. Die Interaktivität von Videospielen verleiht diesen natürlich eine eigene Qualität, insb. wenn es darum geht die Perspektive eines Täters auszuagieren. Aber selbst wenn man nur die Perspektiven von Opfern repräsentieren würde, so ließe sich über ein Game Design und Narrative Design, dass Geschichte als
multiperspektivische Konstruktion begreift - das ist u.a. bei Ubisoft offenbar weiterhin nicht angekommen - derart viel leisten, was ein Film unmöglich leisten könnte. Und man könne auch die Kritik umschiffen, die Opfer des Holocausts auf das eine oder andere zu reduzieren, eben indem man einen Pluralismus von Perspektiven eröffnet.
What remains of Edith Finch hat doch gezeigt, wie gekonnt Videospiele mit Perspektiven arbeiten können, wenn Entwickler ihr Sujet ernst nehmen. Es wird aber zumeist nicht ernst genommen, sondern der Holocaust wird samt NS-Ideologie aus'n Fenster geworfen und der Konflikt zwischen 1939-1945 wird auf ein militärische Auseinandersetzung reduziert, deren Motivlagen in Videospielen zumeist nicht ausbuchstabiert wird. André sagt dies ja zutreffend des Öfteren: jeder weiß, dass Nazis die Bösen sind, dies benötigt keinerlei Erklärung. Das ist auf der einen Seite natürlich wahr, umgekehrt führt es aber auch dazu, dass Nazis wiederholt als dekontextualisierte und quasi ahistorische Bösewicht-Aufsteller in WW2-Szenarien gepackt werden, wo man dem Spieler nicht mehr sagen muss als: "Du bist Allierter, da sind die Deutschen. Let's go."
Das konsequente Ausklammern des Holocuasts in WW2-Titeln wäre jedenfalls ein Aspekt, bei dem ich eher bei Entwicklern klingeln würde, als bei der Frage, warum Sklaverei in Anno 1800 nicht dargestellt wird. Ohne nun das eine gegen das andere aufwiegen zu wollen; aber die Holocaust-Thematik wurmt mich aufrichtig.