Ist wohl eine Frage dessen, wie man den Begriff versteht. "Identifikation" wird z.T. verstanden als "gleichsetzen", d.h. man quasi im Gegenüber aufgeht. So würde ich den Begriff persönlich nicht verstehen, aber dieses Verständnis mag die Reaktion erklären, dass meines Eindrucks nach nicht wenige auf die Frage "Identifizierst du dich mit X?" wie selbstverständlich verneinend reagieren. Den Begriff kann man natürlich so eng gefasst verstehen - ich mein: man kann Begriffe verstehen, wie man lustig ist! - aber ich glaube man kommt dem Phänomen näher, wenn man es tatsächlich auf einzelne Aspekte reduziert, d.h. Identifikation nicht so versteht, dass man sich selbst in einer fiktiven Figur sieht, sondern dass man Aspekte der eigenen Identität in diesen fiktiven Personen wiederfindet. Und über diese Gemeinsamkeit eine
partielle Identifikation stattfindet.
Beispiel: Ich habe keinen Hund, und tatsächlich mag ich Hunde nicht einmal. Große Hunde sind okay-ish, kleine Hunder wiederum gräßlich. Aber als in John Wick der Hund erschossen wird und er voller Zorn darauf reagiert, so kann ich mich mit diesem Aspekt - eben dem Zorn - identifizieren. Eben weil ich selbst Zorn empfinden würde, würde jemand meine Katze töten. Genauso identifiziere ich mich partiell mit meiner beruflichen Arbeit, weil diese ein wichtiger Teil von mir ist. Das heißt nicht, dass ich in meiner Arbeit aufgehe oder nur meine Arbeit bin, aber dass ich in dem, was ich tue, mich selbst wiederfinde. Und diese partielle Identifikation mit fiktiven Figuren halte ich für Gang und Gebe, d.h. die Aussage, man würde sich nicht mit fiktiven Figuren identifizieren (können), würde ich aus der Perspektive als unplausibel bezeichnen. Womöglich empfindet man es nicht so, aber ich denke doch, das man es tut. Als These: Ich denke Fiktion ist ohne eine Identifikation mit den Figuren grundsätzlich nicht rezipierbar, d.h. würde man zwischen sich und den Figuren keinerlei Beziehung herstellen können, d.h. sich nicht in sie einfühlen und/oder eindenken können, so würde Fiktion unverständlich.
Finde hier das Konzept der
Conditio Humana nützlich, d.h. die Summe all dessen, was man als Grundsätze menschlicher Existenz bezeichnet. Fiktion greift diese immerzu auf, z.B. die Erfahrung von Freude und Leid, die Gewissheit des eigenen Todes, Verlangen und Hoffen, etc. pp. In diesen Belangen sind sich alle Menschen gleich, weshalb es ja überhaupt erst möglich ist, dass wir z.B. Erzählungen, die tausende Jahre alt sind, oder die aus völlig anderen Kulturkreisen stammen, überhaupt verstehen können. Eben weil all diese Erzählungen menschliche Erzählungen sind, und wir uns dazu in Beziehung setzen können. Ich mein: Wenn man mal drüber nachdenkt und es nicht a priori als selbstverständlich voraussetzt, ist's schon irgendwie bemerkenswert, dass man die gut 3.000 Jahre alten (!) Homerischen Epen (in Übersetzung) einfach aufschlagen, lesen und (!) verstehen kann. Ohne Vorwissen natürlich nicht jede Anspielung, Konvention, Handlungsstrang, etc. aber den Kern der Erzählungen - Hoffnung, Verrat, Liebe, Trauer, Ambition, etc. - eben doch.
I digress ...