Runde #383: Über Kritik

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Rigolax
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Rigolax »

Felidae hat geschrieben: 8. Aug 2022, 18:41 Natürlich ist es eine Interpretation. Der Punkt ist ja nur: Eine, die sich an zig Stellen im Quelltext belegen (und meines Wissens nicht widerlegen) lässt. Und somit ist sie als Interpretation stichhaltig. Dafür ist auch völlig unerheblich, ob das eine Mehrheitsmeinung ist oder nicht - entscheidend ist wirklich nur, dass der Quelltext diese Interpretation voll und ganz stützt. So, wie auch "Der Herr der Ringe" als Allegorie auf den Kalten Krieg stichhaltig belegt werden kann (Bedrohung im Osten, gegen die sich die freien westlichen Länder zusammenschließen müssen).

Dass Interpretation niemals "richtig" oder gar "die Wahrheit" ist, darüber müssen wir nicht diskutieren. Sie ist aber ein geeignetes Mittel, um die Unwahrheit ("Ich hab keine Parabel aufs Dritte Reich geschrieben") als solche zu entlarven: "Mag sein, dass Du das nicht schreiben wolltest - geschrieben hast Du es aber."
Wenn JKR meint, sie habe keine solche Parabel geschrieben, ist das ja die eine Sache, das können wir von mir aus im Sinne des "Tod des Autors" ignorieren, aber wenn ein Dritter, ein Literaturkritiker, der Parabel-Interpretation widerspricht und sagt, dass er das Werk nicht so "liest", dann ist das genauso wahr bzw. unwahr wie die Parabel-Interpretation, weil das keinem endgültigen Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Es ist als Interpretation aber ggf. weniger plausibel (was subjektiv ist).

Also hat JKR eine solche Parabel sowohl geschrieben und auch nicht geschrieben. Sie hat eigentlich nur Buchstaben, Satzzeichen und Leerzeichen aneinandergereiht über deren endgültige Aussage man sich bis zum Wärmetod des Universums die Köpfe einschlagen kann.
Voigt
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Voigt »

Kenne jetzt auch nicht die genaue Diskussion und Aussagen von JKR, was ich mir aber eh vorstellen kann, ist dass die wirklich keine Parabel über das dritte Reich geschrieben hat, sondern einfach simpel über britischen Rassismus und Faschismus.
Das sind ja keine Themen die nur im dritten Reich aufkamen.
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Felidae
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Felidae »

Rigolax hat geschrieben: 8. Aug 2022, 19:01

Wenn JKR meint, sie habe keine solche Parabel geschrieben, ist das ja die eine Sache, das können wir von mir aus im Sinne des "Tod des Autors" ignorieren, aber wenn ein Dritter, ein Literaturkritiker, der Parabel-Interpretation widerspricht und sagt, dass er das Werk nicht so "liest", dann ist das genauso wahr bzw. unwahr wie die Parabel-Interpretation, weil das keinem endgültigen Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Es ist als Interpretation aber ggf. weniger plausibel (was subjektiv ist).

Also hat JKR eine solche Parabel sowohl geschrieben und auch nicht geschrieben. Sie hat eigentlich nur Buchstaben, Satzzeichen und Leerzeichen aneinandergereiht über deren endgültige Aussage man sich bis zum Wärmetod des Universums die Köpfe einschlagen kann.
Richtig. Der springende Punkt ist letztlich, sie hat keinerlei Deutungshoheit über ihr Werk.

Wobei es - wenn ich mich aus dem Deutschunterricht richtig erinnere - nicht reicht, zu sagen, "Nein, ich les das nicht so" um fundiert zu widersprechen. Sondern da müsste dann schon ein "weil" folgen. Und wie gesagt, mir wäre nicht bekannt, dass die Dritte Reich-Analogie widerlegbar wäre.
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Felidae
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Felidae »

Voigt hat geschrieben: 8. Aug 2022, 19:05 Kenne jetzt auch nicht die genaue Diskussion und Aussagen von JKR, was ich mir aber eh vorstellen kann, ist dass die wirklich keine Parabel über das dritte Reich geschrieben hat, sondern einfach simpel über britischen Rassismus und Faschismus.
Das sind ja keine Themen die nur im dritten Reich aufkamen.
Deshalb hab ich ja die speziellen nationalsozialistischen Eigenheiten/Parallelen weiter vorn aufgeführt. Das ist schon mehr als "irgendein xbeliebiges faschistisches Regime".
Clambone
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Clambone »

Felidae hat geschrieben: 8. Aug 2022, 18:58 Okay, jetzt versteh ich glaub besser, was Du meinst. Mein Einwand wäre nur, dass dafür doch völlig unerheblich ist, was Remarque oder Milestone Dir sagen wollten - das Buch/der Film selbst sagt Dir doch überdeutlich, was er ist.

Um mal den wunderbaren Torsten Sträter hier unterzubringen: "Schindlers Liste - schlechtester Motorradfilm aller Zeiten!". :)
Jaja das ist immer die Problematik mit dem schreiben vs. gesprochenes Wort. Sträter bringt die Absurdität wirklich gut auf den Punkt.
Ich würde prinzipiell bei meiner Aussage bleiben aber dann vielleicht sagen man soll versuchen dem Werk zu entnehmen was es sein will, anstelle von der Intention des Autors/ der Autorin zu sprechen
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Felidae
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Felidae »

Clambone hat geschrieben: 8. Aug 2022, 19:08
Ich würde prinzipiell bei meiner Aussage bleiben aber dann vielleicht sagen man soll versuchen dem Werk zu entnehmen was es sein will, anstelle von der Intention des Autors/ der Autorin zu sprechen
Und schon haben wir uns die ganze Diskussion erspart. :)

Nein, ernsthaft - ist ja cool, dass bei der Diskussion was rauskam. (Also nicht NUR eine Riesen-OT-HP-Schlacht. :D )
Clambone
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Clambone »

Jau, fantastisch :)
Das ganze ist übrigens meiner Meinung nach ein gutes Beispiel dafür warum Dom seine journalistische Beschäftigung mit den angrenzenden Themen nicht als Wissenschaftliche Auseinandersetzung verstanden haben will. Es gibt da einfach eine unglaubliche (notwendige) Wortklauberei derer man sich nicht beugen muss wenn man einfach nur versucht einen Punkt verständlich zu machen
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Klonky »

Was ist eigentlich mit dem Eskapismus? Menschen, die Spiele konsumieren, um der Realität zu entfliehen. Wir hatten es in der "Fühle ich mich repräsentiert" Podcast.
Wenn ich Anno spielen möchte, um einfach Abends ein paar Stunden entspannen möchte, möchte ich vielleicht nicht damit konfrontiert werden, wo die Sklaven sind.
Oder wenn ich Witcher 4 spielen möchte, möchte ich vorher nicht lesen, wie das Spiel mit dem Frauenbild umgeht.
Ich möchte wissen, ob das Spiel einem Jochen/André oder Dom gefallen hat, da ich Ihre Meinung sehr schätze. Wenn Dom sagt, es ist ein gutes Spiel, jedoch die Frauen werden seltsam behandelt, kann ich das abhaken.
Siehe: https://preview.redd.it/g41tbv0zk7n31.j ... fb551e1a30
QUIT HAVING FUN!
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Smutje187 »

Klonky hat geschrieben: 8. Aug 2022, 19:40 Siehe: https://preview.redd.it/g41tbv0zk7n31.j ... fb551e1a30
QUIT HAVING FUN!
Ist das ein Witz aus der Ecke „Joseph Anderson macht mir mein Elden Ring/Wolfgang M. Schmitt junior macht mir mein Herr der Ringe kaputt“? ;-)

Manchmal ist einfach innehalten, durchatmen, weitergehen angebracht - niemand will mir ja irgendwas aufzuzwingen.
Rigolax
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Rigolax »

Felidae hat geschrieben: 8. Aug 2022, 19:06
Rigolax hat geschrieben: 8. Aug 2022, 19:01
Richtig. Der springende Punkt ist letztlich, sie hat keinerlei Deutungshoheit über ihr Werk.

Wobei es - wenn ich mich aus dem Deutschunterricht richtig erinnere - nicht reicht, zu sagen, "Nein, ich les das nicht so" um fundiert zu widersprechen. Sondern da müsste dann schon ein "weil" folgen. Und wie gesagt, mir wäre nicht bekannt, dass die Dritte Reich-Analogie widerlegbar wäre.
Na ja, jede Interpretation eines künstlerischen Werkes ist nicht endgültig widerlegbar (falsifizierbar) oder endgültig beweisbar (verifizierbar). Wenn ich behaupten würde, dass es nur weiße Schwäne gibt, kannst du das ja widerlegen, indem du einen schwarzen Schwan findest (müssten wir aber klären, was "schwarz"/"weiß" (Stichwort "Qualia") und "Schwan" bedeutet, egal). Aber wenn ich jetzt behaupte, dass Winnie Pooh eine Abhandlung über den Merkantilismus der frühen Neuzeit ist und dazu irgendwelche quatschigen "Indizien" aus dem Werk zusammenkratze (was sicherlich gehen würde), dann könntest du dich (berechtigt) über mich lustig machen, aber du kannst es nicht widerlegen; und dann kann ich im selben Atemzug ja auch behaupten, dass es gar nicht um Freundschaft geht in Winnie Pooh, sondern eben um Proto-Kapitalismus (Winnie Pooh betreibt ja etwa eindeutig ein Honig-Import/Export-Geschäft bzw. akkumuliert Honig-Kapital). Analog würde man das mit Harry Potter wohl hinkriegen, müsste man gucken, wie man die NS-Parallelen dort pseudo-plausibel wegargumentieren kann, aber im Endeffekt kann man auch einfach immer behaupten "das ist nur zufällig" bzw. "korreliert nur" und solche Ausführungen kann man doch auch nicht widerlegen (aber für albern halten). (Jedenfalls ist das meine epistemologische Haltung dazu.)
Terranigma hat geschrieben: 8. Aug 2022, 18:54 Finde deine Gedankenexperimente in der Hinsicht durchaus spannend, denn persönlich würde ich definitiv sagen, dass mein Erleben des Blickens auf die Erde in VR - selbst gegeben, dass es 1:1 perfekt simuliert ist - ein gänzlich anderes wäre, als der tatsächliche Blick auf die Erde. Das visuelle Erlebnis mag identisch sein, aber dies ist ja nur ein Teil des Erlebnis. Etwa die Kenntnis, dass das, was man sieht, die eigene Heimat ist; die Kenntnis um all das, was auf diesem Planeten passierte, etc. pp. Der Blick auf eine perfekt simulierte Erde wäre eben der Blick auf eine perfekt simulierte Erde, nicht aber auf die Erde. ... So mein jetztiger Eindruck. Anekdote: Ich unterrichte dieses Schuljahr erstmalig Praktische Philosophie (fachfremd) und eines der Themenfelder ist "Realität und Virtualität (in Medien)" und ich werde deine Fragen wohl mal im Unterricht aufgreifen, und schauen was passiert.
Wenn man es weiter denkt, ist ja auch so, dass in dem Moment, in dem ich aus dem Weltraum heraus auf die Erde blicke, ich nur ein Abbild dieser wahrnehme: Licht, das durch meine Netzhaut geht und in Nervenimpulse umgewandelt wird und eine "andere" Erde simuliert, die ich eben dann "sehe". So könnte auch jemand, der eine Farbsehschwäche hat, auf die Erde herabblicken und ein "verzerrtes" Abbild davon wahrnehmen; mit VR könnte technisch versucht werden, die Farbsehschwäche auszugleichen und näher an ein Abbild der Erde zu kommen, wie sie (mutmaßlich) Menschen ohne visuelle Einschränkungen wahrnehmen.

Gefällt mir, die Fragen mal im Unterricht aufzuwerfen.
KLS
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von KLS »

Da wir jetzt lang und breit ausdiskutiert haben ob exegetische, intentionalistische, strukturalistische oder poststrukturalistische Methoden auf Spiele angewendet werden sollten frage ich: Jochen, wo hast du denn deine poststrukturalistischen Wunschmaschinen nach Deleuze versteckt?
Ich finde im Backlog keinen Podcast auf den die Beschreibung passt.
Du hast in der Folge erwähnt so eine wissenschaftliche Kritik schon mal gemacht zu haben und ich will sie mir ganz dringend zu Gemüte führen.

Wer wie ich keine Ahnung von dem ganzen gesellschaftswissenschaftlichen Bums hat kann hier unnötig tief aber auch noch allgemeinverständlich einsteigen: https://openlearnware.de/collection/phi ... nities-347
Hat mir zu mindest das Gefühl vermittelt ein bisschen was zu dem Zeug zu wissen.
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Stew_TM
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Stew_TM »

Klonky hat geschrieben: 8. Aug 2022, 19:40 Was ist eigentlich mit dem Eskapismus? Menschen, die Spiele konsumieren, um der Realität zu entfliehen. Wir hatten es in der "Fühle ich mich repräsentiert" Podcast.
Wenn ich Anno spielen möchte, um einfach Abends ein paar Stunden entspannen möchte, möchte ich vielleicht nicht damit konfrontiert werden, wo die Sklaven sind.
Oder wenn ich Witcher 4 spielen möchte, möchte ich vorher nicht lesen, wie das Spiel mit dem Frauenbild umgeht.
In dem Fall würde ich sagen, dass Witcher 4 und Anno 1800 einfach Pech haben bzw. sich mehr anstrengen müssten.
Der von diesen Spielen kreierte Eskapismus wäre in diesem Fall für dich nicht stark genug, um das Frauenbild bzw. die Ignoranz ggü. der Sklaverei aufzuwiegen. Also müssten diese Spiele entweder einen "besseren" Eskapismus oder aber ein "besseres" Frauenbild bieten, sodass es für dich wieder funktioniert. (Und natürlich definiert jede Person für sich selbst, ab wann dieser Punkt erreicht ist. Jede Person wird - abhängig vom Spiel, also Form des Eskapismus und der Form des "Problems" auch unterschiedliche Maßstäbe haben.)

In meiner jüngeren Historie gibt es dafür sogar ein Beispiel: Aufgrund der Bekanntwerdung des Crunchs in der Entwicklung von Cyberpunk 2077 habe ich The Witcher (also den ersten Teil) nach ca. 25 Stunden abgebrochen. Ich hatte auch ganz konkrete Kritikpunkte an dem Spiel (u.a. das Frauenbild, aber bspw. auch das Kampfsystem) und bereits zuvor überlegt, abzubrechen. Hab ich aber nicht gemacht - weil mich die Spielwelt und ihre Hintergrundgeschichte so fasziniert hat. Die "Rechnung" war also immer noch positiv und ich habe das Kampfsystem "ertragen", weil ich mehr von dieser Welt erfahren wollte. Um zusätzlich dazu den unsäglichen Umgang der CD Projekt-Chefetage mit dem Crunch wettzumachen, hat der Eskapismus des Spiels dann aber nicht mehr ausgereicht.

Anders gesagt: Der Wunsch nach Eskapismus ist verständlich, aber wenn man den Spielejournalismus dafür kritisiert, dass er "Probleme" eines Spiels anspricht, bellt man den falschen Baum an.
Denn wenn man das zu Ende denkt, dürfte nie wieder jemand irgendetwas Negatives über ein Spiel sagen. Das "Problem" kann ja auch auf der Gameplayebene liegen. Wenn mir Jochen in der Viertelstunde in dieser Woche ausführlich begründet, warum System XY in Xenoblade Chronicles 3 für ihn fundamental kaputt ist, dann möchte ich vielleicht auch nicht damit konfrontiert werden. Es könnte ja sein, dass mir diese Schwächen gar nicht selbst aufgefallen sind und ich bis dato viel Spaß daran hatte.
Zuletzt geändert von Stew_TM am 8. Aug 2022, 20:34, insgesamt 3-mal geändert.
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Felidae
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Felidae »

Rigolax hat geschrieben: 8. Aug 2022, 20:11
Na ja, jede Interpretation eines künstlerischen Werkes ist nicht endgültig widerlegbar (falsifizierbar) oder endgültig beweisbar (verifizierbar). Wenn ich behaupten würde, dass es nur weiße Schwäne gibt, kannst du das ja widerlegen, indem du einen schwarzen Schwan findest (müssten wir aber klären, was "schwarz"/"weiß" (Stichwort "Qualia") und "Schwan" bedeutet, egal). Aber wenn ich jetzt behaupte, dass Winnie Pooh eine Abhandlung über den Merkantilismus der frühen Neuzeit ist und dazu irgendwelche quatschigen "Indizien" aus dem Werk zusammenkratze (was sicherlich gehen würde), dann könntest du dich (berechtigt) über mich lustig machen, aber du kannst es nicht widerlegen; und dann kann ich im selben Atemzug ja auch behaupten, dass es gar nicht um Freundschaft geht in Winnie Pooh, sondern eben um Proto-Kapitalismus (Winnie Pooh betreibt ja etwa eindeutig ein Honig-Import/Export-Geschäft bzw. akkumuliert Honig-Kapital). Analog würde man das mit Harry Potter wohl hinkriegen, müsste man gucken, wie man die NS-Parallelen dort pseudo-plausibel wegargumentieren kann, aber im Endeffekt kann man auch einfach immer behaupten "das ist nur zufällig" bzw. "korreliert nur" und solche Ausführungen kann man doch auch nicht widerlegen (aber für albern halten). (Jedenfalls ist das meine epistemologische Haltung dazu.)
"Zufall" ist aber kein Gegenargument. Wenn "Zufall" ein Gegenargument wäre, wäre "Arsen und Spitzenhäubchen" auch keine Komödie - denn MEHR Zufall als "der Autor hatte was völlig anderes vor" gibt es wohl kaum. ;)

Und klar kann man grundsätzlich Interpretationen widerlegen - nämlich dann, wenn sie haltlos sind. "Game of thrones" fällt mir da grade als gutes Beispiel ein. Es gibt Interpretationen, die in GoT die perversen Fantasien eines alten Lüstlings sehen. Mit einzelnen Stellen kann man das wunderbar belegen - die Vergewaltigung Danys ganz am Anfang zum Beispiel. Diese Interpretation "geiler alter Bock schreibt Altmännerfantasien" kannst Du aber tatsächlich widerlegen - einerseits dadurch, wie sich Danys Charakter entwickelt und die Vergewaltigung für ihre Charakterentwicklung sehr wohl einen Sinn hat, andererseits dadurch, wie Frauencharaktere generell dargestellt werden. Dann wird sehr schnell klar, dass es nicht so einfach ist, nur eine Sexfantasie eines alten Mannes drin zu sehen - und zwar ebenfalls anhand des Quelltextes belegt. Nicht umsonst wird bei GoT schon jahrelang darüber gestritten, was es denn nun sei - frauenfeindlicher Schund oder DIE feministische Serie schlechthin.

Und ja, es dürfte unmöglich sein, die NS-Analogie bei Potter zu widerlegen. Weil der Text einfach zu viele Anhaltspunkte dafür liefert. Und kein schlüssiges Gegenargument (wie auch immer das aussehen könnte in dem Fall).
Clambone
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Clambone »

Hmm da es hier ja ein bisschen um Kritik allgemein ging ließe sich nicht einfach festhalten dass die Perspektive NS Problematik bei Harry Potter wertvoll ist und es toll ist dass es Kritiker*innen gibt die sie herausarbeiten? Jede gut begründete Perspektive ist doch erstmal super, und ob man etwas damit anfangen kann oder nicht entscheidet dann ob man den Gedanken seine Aufmerksamkeit schenken möchte oder es halt lässt.
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Helix
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Helix »

Kann mir bitte jemand das Argument des Frauenbildes aus dieser Folge näher erklären? Es kann doch nicht der Wunsch da sein, moderne Spiele für progressive Frauenbilder zu kritisieren, nur weil es im breiten historischen Kontext falsch war.
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Paul_Klee_1
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Paul_Klee_1 »

Zum Thema Kunst oder Müll:

Die Übergänge zwischen Kunst, Handwerk, Design, Folklore, Kitsch und Massenware zur Gewinnmaximierung sind fließend. Diese Diskussion ist letztlich eher fruchtlos, weil nicht unbedingt der Einzelne entscheidet was Kunst ist sondern die Gesellschaft oder einzelne gesellschaftliche Strömungen.

Auch die Frage, ob Kunst ausschließlich von einem "beseelten" Künstler kommen kann, lässt sich nicht abschließend mit Ja/Nein beantworten.

KI's/Algorithmen werden von Menschen programmiert, irgendwann so gut, dass in einem Bild, einem Film oder einem Text der Ursprung vom Menschen oder einer KI nicht mehr zweifelsfrei zu unterscheiden ist. Erst Recht, wenn ein Mensch gezielt Gaga-Kunst macht... ;)

Und was ist mit klassischen Kunsthandwerkstätten, in denen z.B. bemalte Porzelanvasen in Serie und von Hand hergestellt werden? Ist das Kunst? Wo ist die Grenze zwischen Handwerk und Kunst und was ist Kunsthandwerk. Oder macht der Preis aus einer Sache Kunst? Eher nein.

Die Diskussion darüber ist sehr schnell elitär und von der Zeit überholt. Street Art, Comics...längst alles anerkannte Kunsterzeugnisse.

Was ist überhaupt die Definition von Kunst?
Ohne nachzuschlagen behaupte ich mal etwas wie eine meisterlich ausgeführte Sache physischer oder digitaler Art (also ein technisch nur sehr schwer zu kopierendes Erzeugnis) zum Primärzweck der Erfreuung der Betrachter und/oder eine Sache, welche aus einem inspirierenden Gedanken/einer Emotion geschaffen wurde mit dem primären Zweck weitere Gedanken/Emotionen beim Betrachter/Nutzer zu erzeugen. Und das schließt eine Menge Dinge ein.
Zuletzt geändert von Paul_Klee_1 am 8. Aug 2022, 22:49, insgesamt 4-mal geändert.
Klonky
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Klonky »

Stew_TM hat geschrieben: 8. Aug 2022, 20:22
Klonky hat geschrieben: 8. Aug 2022, 19:40 Was ist eigentlich mit dem Eskapismus? Menschen, die Spiele konsumieren, um der Realität zu entfliehen. Wir hatten es in der "Fühle ich mich repräsentiert" Podcast.
Wenn ich Anno spielen möchte, um einfach Abends ein paar Stunden entspannen möchte, möchte ich vielleicht nicht damit konfrontiert werden, wo die Sklaven sind.
Oder wenn ich Witcher 4 spielen möchte, möchte ich vorher nicht lesen, wie das Spiel mit dem Frauenbild umgeht.
In dem Fall würde ich sagen, dass Witcher 4 und Anno 1800 einfach Pech haben bzw. sich mehr anstrengen müssten.
Der von diesen Spielen kreierte Eskapismus wäre in diesem Fall für dich nicht stark genug, um das Frauenbild bzw. die Ignoranz ggü. der Sklaverei aufzuwiegen. Also müssten diese Spiele entweder einen "besseren" Eskapismus oder aber ein "besseres" Frauenbild bieten, sodass es für dich wieder funktioniert. (Und natürlich definiert jede Person für sich selbst, ab wann dieser Punkt erreicht ist. Jede Person wird - abhängig vom Spiel, also Form des Eskapismus und der Form des "Problems" auch unterschiedliche Maßstäbe haben.)

In meiner jüngeren Historie gibt es dafür sogar ein Beispiel: Aufgrund der Bekanntwerdung des Crunchs in der Entwicklung von Cyberpunk 2077 habe ich The Witcher (also den ersten Teil) nach ca. 25 Stunden abgebrochen. Ich hatte auch ganz konkrete Kritikpunkte an dem Spiel (u.a. das Frauenbild, aber bspw. auch das Kampfsystem) und bereits zuvor überlegt, abzubrechen. Hab ich aber nicht gemacht - weil mich die Spielwelt und ihre Hintergrundgeschichte so fasziniert hat. Die "Rechnung" war also immer noch positiv und ich habe das Kampfsystem "ertragen", weil ich mehr von dieser Welt erfahren wollte. Um zusätzlich dazu den unsäglichen Umgang der CD Projekt-Chefetage mit dem Crunch wettzumachen, hat der Eskapismus des Spiels dann aber nicht mehr ausgereicht.

Anders gesagt: Der Wunsch nach Eskapismus ist verständlich, aber wenn man den Spielejournalismus dafür kritisiert, dass er "Probleme" eines Spiels anspricht, bellt man den falschen Baum an.
Denn wenn man das zu Ende denkt, dürfte nie wieder jemand irgendetwas Negatives über ein Spiel sagen. Das "Problem" kann ja auch auf der Gameplayebene liegen. Wenn mir Jochen in der Viertelstunde in dieser Woche ausführlich begründet, warum System XY in Xenoblade Chronicles 3 für ihn fundamental kaputt ist, dann möchte ich vielleicht auch nicht damit konfrontiert werden. Es könnte ja sein, dass mir diese Schwächen gar nicht selbst aufgefallen sind und ich bis dato viel Spaß daran hatte.
Ich hatte nur das "Extrembeispiel" von Dom aufgegriffen. In seiner Welt existieren nur noch solche Beispiele. Ich als Spiele Konsument möchte vielleicht nicht ständig mit "Das Spiel macht das falsch, hier ist das falsch", konfrontiert werden. Wenn mir das Spiel Spaß macht, hat es sein Ziel erfüllt - Jedoch muss ich doch erst mal wissen, ob das Spiel was für mich ist. Und dann sind wir wieder bei dem: Spieletest oder Review?
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Ingoknito »

Heutzutage ist doch alles Kunst, bis hin zum Dschungelcamp. Das Problem ist also nicht irgend ein elitäres Gehabe, sondern das Gegenteil. Der Kunst-Begriff ist komplett austauschbar und wurde folgerichtig von Kapitalismus einverleibt. Denn wenn alles Kunst ist es jedes Produkt auch und was ist heute denn kein reines kommerzielles Produkt.

Auf Spiele bezogen, wäre es überhaupt einmal sinnvoll eine kohärente Position zu entwickeln und das bekommen weder Spieler, der Spiele- journalismus, noch die Entwickler hin. Man möchte sich auf nichts festlegen, sondern irgendwie alles sein und man pickt sich einfach die Sachen raus, die einem gerade gut zu Gesicht stehen. Ich hätte zum Beispiel kein Problem wenn man sagen würde dass Spiele keine Kunst sind. Aber viele definieren Spiele aus einer Tradition raus von der Technologie her. Beim Film ist es beispielsweise nicht so- nicht jedes Video ist ein Film, obwohl jeder Film ein Video ist. Bei Spielen gibt es zwar auch Unterscheidungen (Single-player, Multiplayer, Service-Game etc). Aber alles versammelt sich unter dem Sammelbegriff Videospiele, weswegen eine Diskussion, wie eine Kritik über das Medium aussehen könnte so vertrackt ist. Man stelle sich nur mal vor es gäbe von heute auf morgen auch eine Kritik für das Medium "Video", die Youtubevideos und Filme unter ein gemeinsames Dach bringen soll. Das ist keine wirkliche lösbare Aufgabe. Bei Videospielen ist es imo noch komplexer, denn Stand jetzt fällt fast alles darunter was technisch und interaktiv ist (von Sport, über Schulinhalte, Forschung, Medizin, second Life, Service, Simulation, Kunst, Unterhaltung ist alles dabei.) Es muss sich nur selbst Videospiel nennen.
Zuletzt geändert von Ingoknito am 8. Aug 2022, 23:07, insgesamt 2-mal geändert.
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Felidae
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Felidae »

Klonky hat geschrieben: 8. Aug 2022, 22:30 In seiner Welt existieren nur noch solche Beispiele.
Gewagte These. :D

Und ich könnte mich nicht entsinnen, dass Dom allen Ernstes erwartet, dass es nur noch "seine" Art der Kritik geben wird. Aber seine Hoffnung, dass es wesentlich MEHR solcher Kritiken geben wird - die teile ich durchaus. Dadurch wird der klassische Spieletest nicht verschwinden. Aber der Gamesjournalismus als solcher würde dadurch sehr viel vielseitiger werden.
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Paul_Klee_1
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Paul_Klee_1 »

Ingoknito hat geschrieben: 8. Aug 2022, 23:01 Heutzutage ist doch alles Kunst, bis hin zum Dschungelcamp. (...)
Es findet sich immer eine Metaebene von der aus betrachtet eine Sache als Kunst zu bezeichnen ist. ;)

Aber ernsthaft: In der Menscheitsgeschichte gab es sicherlich immer wieder Gesellschaften, welche eine Menge Energie in die Ausgestaltung ihrer Kulte und in die Herstellung von Kunsterzeugnissen gesteckt haben. Aber in unserer Zeit der Globalisierung und des Wohlstandes ist es naheliegend, dass viele Menschen irgendwas mit Kunst/kreativen Schöpfungsprozessen veranstalten und dabei ein gehöriger Output zustande kommt, dazu dann noch Kunst als Marketing-Brand und kommerzielles Gut - natürlich auch das.
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