Felidae hat geschrieben: ↑8. Aug 2022, 17:49
Um mal von den Spitzenhäubchen wegzukommen: Ich glaube Rowling ja tatsächlich, dass sie nix über das Dritte Reich schreiben
wollte. Nichtsdestotrotz hat sie es zweifellos
getan. Allerspätestens der siebte Band lässt da keinen Zweifel mehr zu - wir haben die Machtübernahme, Rassengesetze, Gleichschaltung, Ariernachweis samt entsprechenden offiziellen Überprüfungen etc. SA- und SS-artige Einheiten treten ab Band vier auf, die Blut-Ideologie taucht in Band zwei zum ersten Mal auf. Die Zauberer sind natürlich eine "Herrenrasse", der alle anderen zu dienen haben (oder ermordet gehören) - und Voldemort selbst ist Anführer dieser Ideologie, der aber den eigenen Ansprüchen nicht genügt. (Voldemort ist ja sosehr "Reinblüter" wie Hitler ein großgewachsener blonder Arier war.)
Ich glaube Rowling, dass ihr das alles un(ter)bewusst reingerutscht ist. Tu ich tatsächlich. Aber ihre Aussage, "Ich habe keine Analogie zum Dritten Reich geschrieben" ist schlicht falsch. Doch, genau das hat sie.
Es ist allerdings ja auch nur eine Interpretation, dass diese Analogie zum "Dritten Reich" besteht. Eine ziemlich naheliegende Interpretation, aber als solche keinem Wahrheitsbeweis zugänglich bzw. lässt sich die Behauptung
"Harry Potter ab spätestens Band sieben ist eine Analogie zum 'Dritten Reich'" nicht falsifizieren und ist damit nicht im engeren Sinne wissenschaftlich bzw. kann nicht
objektiv gelten; wohl aber intersubjektiv gelten, wenn es hinreichend Rezipienten überwältigend die Analogie-Deutung annehmen würden, dann "gilt" es dann eben aus kultureller Sicht so irgendwann und dann könnte sich JKR auch mit Händen und Füßen dagegen wehren wollen und es würde nichts ändern.
Aber wir kommen hier ja wieder auf das Problem der Intentionalität: Ich kann durchaus verstehen, dass etwa auch bei der Verfilmung von Harry Potter die Goblins in der Bank oftmals als antisemitische Karikaturen verstanden werden, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass antisemitische Karikaturen (bewusst) dort "zitiert" werden und ich halte davon unabhängig die Darstellung nicht für
objektiv antisemitisch, weil das eine Interpretation erfordert bzw. nicht falsifizierbar ist, ob die Darstellung wirklich antisemitisch ist (nur weil es gewisse Parallelen zu antisemitischen Tropes gibt, würde ich nicht so weit gehen, dass es automatisch selbst antisemitisch ist). Schwieriger wird es schon, wenn es ersichtlich politisch aufgeladen ist wie bei dem Skandal um die "documenta" und ob die Darstellungen dort objektiv antisemitisch sind; "Jud Süß" wäre dagegen ja etwa wohl auch ein Werk der Kunst (
ich habe einen ideologisch wertfreien Kunstbegriff, etwa ist auch "Birth of a Nation" in dem Sinne ein Kunst-/Machwerk m.E.), aber man kann nicht ernsthaft anzweifeln, dass solch ein Vorbehaltsfilm antisemitisch ist: ich kann mir keine legitime Kritik vorstellen, die "Jud Süß" derart dekontextualisiert und den Antisemitismus plausibel weg argumentiert, aber wenn der Tod des Autors generell greift und man akzeptiert, dass Interpretationen nicht falsifizierbar sind, müsste selbst das "legitim" eigentlich möglich sein?
Terranigma hat geschrieben: ↑8. Aug 2022, 16:36
Ist nur eine Tangente, aber ich finde die Frage interessant, ob "Der Autor ist tot" identisch wäre zu "Der Autor ist irrelevant." Allein die Kenntnis, dass ein Videospiel von Menschen - d.h. von Subjekten - erschaffen wurde, und so die Gestaltung der Welt, das Design der Objekte, die Anordnung der Dinge im Raum, die Dialogzeilen, etc. das kreative Werk von Subjekten sind, hat einen Einfluss auf mein Empfinden der Welt. Es verleiht ihnen eine Wertigkeit. Ich empfinde dies in erster Linie im gedachten Gegensatz, denn prozedural generierte Welten - wo die Welt das Produkt eines Algorithmus, nicht das Werk eines Menschen ist - fühlen sich in meinem Erleben zumeist kalt an; der Algorithmus in Minecraft mag visuell schöne Wälder generieren, aber einen so generierten Wald zu durchqueren fühlt sich anders als, als einen Wald zu durchqueren, der von Menschenhand erschaffen wurde. Eben weil ich über das Werk quasi in einen Dialog zum Autor treten kann. Prozedural generierter Content hat aber keinen Autor; da schaue ich quasi nur auf die kalte Fassade, hinter der nichts ist. In meinem Erleben zählt daher nicht nur das Ergebnis, sondern die Kenntnis, dass das Ergebnis von einem Subjekt geschaffen wurde und ich in dem Werk daher auch die Hand eines Autoren sehe, das empfinde ich als wichtig.
Also diesbezüglich, dachte ich mir irgendwann letztens, wenn Superreiche sich in den Weltraum verabschieden und auf uns herabblicken (
), was denn eigentlich der Gewinn ist, sich in solch eine Position zu begeben, wenn man denselben Ausblick mit VR 1:1 perfekt simulieren könnte (zukünftig); wenn es rein um das visuelle Erlebnis geht, was im Endeffekt ja dann gleich wäre. Analog: Wenn der Algorithmen-Wald im Spiel nicht mehr zu unterscheiden ist vom menschlich/händisch geschaffenen Wald, was gewinne ich eigentlich dabei? Oder ist ein Schmuckstück per se mehr wert, wenn es per Hand geschaffen wurde statt industriell massenweise produziert, obwohl es quasi genau gleich aussieht/sich anfühlt (Man in the High Castle, der Roman, hat diese Authentizitätsfrage etwa ziemlich gut zum Thema IIRC). "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" weitergedacht, oder so. Also es geht imho in den Bereich des dann doch nur noch subjektiven Wertes. -- Aber ich stimme dabei sogar zu, ich muss auch sagen, der technische Fortschritt macht mir ein wenig Angst, ich denke, damit könnte die menschliche Existenz doch (noch) scheinbar sinnloser werden bzw. es schwerer werden, sich einen Sinn zu schaffen (Absurdismus, yay), wenn etwa KIs bald genauso gut Gemälde malen und Romane schreiben werden wie Menschen, eine gewisse Entwertung von Kunst allgemein sehe ich damit durchaus verbunden.