Runde #383: Über Kritik

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Ingoknito
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Ingoknito »

Paul_Klee_1 hat geschrieben: 8. Aug 2022, 23:18
Ingoknito hat geschrieben: 8. Aug 2022, 23:01 Heutzutage ist doch alles Kunst, bis hin zum Dschungelcamp. (...)
Es findet sich immer eine Metaebene von der aus betrachtet eine Sache als Kunst zu bezeichnen ist. ;)

Aber ernsthaft: In der Menscheitsgeschichte gab es sicherlich immer wieder Gesellschaften, welche eine Menge Energie in die Ausgestaltung ihrer Kulte und in die Herstellung von Kunsterzeugnissen gesteckt haben. Aber in unserer Zeit der Globalisierung und des Wohlstandes ist es naheliegend, dass viele Menschen irgendwas mit Kunst/kreativen Schöpfungsprozessen veranstalten und dabei ein gehöriger Output zustande kommt, dazu dann noch Kunst als Marketing-Brand und kommerzielles Gut - natürlich auch das.
Aber das ist auch eine Gefahr wenn man den Kunst-Begriff über alles drüber stülpen kann und damit dann Dinge versucht zu legitimieren. Denn für die meisten ist "Kunst" noch ein sehr positiv aufgeladener Begriff (vielleicht täusche ich mich da aber auch.)
Bei Videospielen gelangt das dann noch auf eine weitere Ebene. Es wird bekanntlich an der Gamification in allen Lebensbereichen gearbeitet. Wer sagt denn nicht, dass beispielsweise dieses dystopische Punktesystem in China zukünftig als Videospiel vermarktet wird. Und da Videospiele ja auch Kunst sind, ist es dadurch schon ganz toll- ein subversives Kunstwerk quasi :D
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Smutje187
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Smutje187 »

Vielleicht ist es für Videospiele einfach auch an der Zeit, nicht mehr nur nach dem Medium an sich sondern vermehrt nur nach den Inhalten zu schauen?

Niemand vergleicht ernsthaft Lindenstraße und Breaking Bad, obwohl beides Serien sind. Genauso wie Direct to DVD-Produktionen und Arthouse-Filme oder Groschenromane und der nächste Literaturnobelpreis.
Rigolax
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Rigolax »

Ingoknito hat geschrieben: 8. Aug 2022, 23:36 Aber das ist auch eine Gefahr wenn man den Kunst-Begriff über alles drüber stülpen kann und damit dann Dinge versucht zu legitimieren. Denn für die meisten ist "Kunst" noch ein sehr positiv aufgeladener Begriff (vielleicht täusche ich mich da aber auch.)
Bei Videospielen gelangt das dann noch auf eine weitere Ebene. Es wird bekanntlich an der Gamification in allen Lebensbereichen gearbeitet. Wer sagt denn nicht, dass beispielsweise dieses dystopische Punktesystem in China zukünftig als Videospiel vermarktet wird. Und da Videospiele ja auch Kunst sind, ist es dadurch schon ganz toll- ein subversives Kunstwerk quasi :D
Ja, wer sagt denn, dass Kunst gut sein muss? :ugly: Ich bezweifle auch, das "Kunst" noch ein sehr positiv aufgeladener Begriff ist, das ist spätestens mit dem Auftauchen von abstrakter Kunst nicht mehr so gesamtgesellschaftlich imho, eher wird sich doch drüber lustig gemacht, was alles als "Kunst" gilt, so etwa die Farbkleckse von Pollock oder als Extrem die Fettecke von Beuys, oder manche Art-House-Filme auf Arte. Im Videospiel-Kontext ist noch eher "Kunst" so eine heilige Kuh, die man nicht antasten mag, muss wohl noch'n Trauma sein aufgrund der Abwatschelung von Ebert.

Das ist für mich auch so ein Beispiel dafür, wie wenig souverän Videospiele immer noch rezipiert werden. Da darf ein "Manhunt" oder "Hatred" ja bloß keine Kunst sein, wo kämen wir da hin, aber frag mal den durchschnittlichen Filmkritiker, ob "The Birth of a Nation" Kunst ist oder gar ein Kunstwerk und der wird dir das auch notariell beglaubigen lassen (womöglich verbunden mit einem "ja, aber") oder nehmen wir halt ein "Triumph des Willens", selbst dann werden dir politisch unverdächtige 0815-Kritiker doch sagen, dass das ein Kunstwerk ist, weil sie es einordnen können. Aber okay, müssen wir richtig eklig werden, ist denn "Rape Day" Kunst? Ja klar, why not, Kunst ist halt auch abscheulich, warum denn nicht. Und diese 20000 Hentai-Puzzel Crap-Spiele auf Steam, okay, die sind teils so low-effort, da komm ich auch an die Grenzen, aber von mir aus, ich mein, die fucking Fettecke ist auch Kunst, okay, die war subversiv, das 20001 Hentai-Spiel auf Steam isses aber nicht, aber wer will sich denn zum obersten Kunstrichter ernennen, ich jedenfalls nicht, und dann nehm ich lieber zu viel als zu wenig in den wohlwollenden Scope von "Kunst" auf, lieber ein Crap-Spiel zu viel als ein mittelschlechtes zu wenig. Das ist doch wie im Justizsystem: Lieber 10 Schuldige laufen lassen als einen Unschuldigen aus Versehen einknasten.
Ingoknito
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Ingoknito »

Kunst hat keine Moral, da stimme ich vollumfänglich zu. Mir ging mir es aber um die Instrumentalisierung und Einhegung. Paradoxerweise verhindert man indem alles Kunst ist, neue Kunst. Denn wenn alles Kunst ist, dann braucht es nichts mehr Neues. Den Kunstebegriff, wie ich ihn verstehe entspricht keiner Funktionalität oder einer Formel. Das ist aber genau das was stattfindet, wenn selbst der Produktest über Kunst schreibt..... dann ist die Kunst tot, was man gut oder schlecht finden kann.
Salvatore2910
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Salvatore2910 »

Auch wenn ich befürchte das dass ich hier jetzt nur so semi reinpasst, wollte ich trotzdem kurz was zur Folge sagen.
(Habe nicht den ganzen thread gelesen, trage also nicht zur Diskussion bei)

Ich fand die Folge sehr stark. Es hat mit super gefallen euch zuzuhören und eure Positionen zu erfahren, auch wo ihr euch einig seid und wo nicht.

Ihr hattet eine super Gesprächsdynamik und ich fand das alle Beteiligten ihre Argumente und Standpunkte gut artikuliert haben.

Also ein Riesen Lob von mir für diesen cast an. :mrgreen:
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CybernetikFrozone
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von CybernetikFrozone »

Ich denke was Dom möchte, sind eigentlich Reportagen auf der Ebene wie die AAA Entwicklung in Deutschland,wo ja verschiedene Meinungen eingeholt wurden.
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Sir Horny Headcrab
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Sir Horny Headcrab »

Würde gerne noch ergänzen zu der Frage, was Konsumenten von Spieletests wollen: Viele meiner Bekannten, die eher Casual zocken, wollen einfach nur Hype von Tests. Die wollen hören, dass das neue Spiel über das alle reden das besten Spiel aller Zeiten ist. Und spielen dann auch hauptsächlich nur deshalb, um mitreden zu können. Sie finden Sachen auch einfach gut, weil Ihnen eingeredet wurde, dass es gut ist. Sie können und wollen oft gar nicht einschätzen, wie gut das jetzt im Vergleich zu anderen spielen ist. Nach ca 5 Spielstunden landet jedes Game dann in der Ecke und wird durch den nächsten Hype Titel ersetzt.
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Heretic
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Heretic »

Ich definiere Kunst folgendermaßen: Wenn mich ein Werk in irgendeiner Form anspricht oder emotional berührt, ist es für mich Kunst. Wenn mich der Künstler oder der Kritiker davon überzeugen kann, dass das an die Wand genagelte halbe Brötchen eine Aussage trifft, ist es für mich Kunst. Ausnahmen: Werke, die nach meinem Empfinden nur wegen der Provokation selbst erschaffen wurden und/oder meine persönlichen Toleranzgrenzen überschreiten (z. B. das bereits im Thread erwähnte "Hatred"). Werke, die nur existieren, um eine Ideologie in die Köpfe der Leute zu pflanzen.
Smutje187 hat geschrieben: 8. Aug 2022, 23:57 Niemand vergleicht ernsthaft Lindenstraße und Breaking Bad, obwohl beides Serien sind. Genauso wie Direct to DVD-Produktionen und Arthouse-Filme oder Groschenromane und der nächste Literaturnobelpreis.
Halte ich für einen Fehler. Warum soll nicht auch eine Seifenoper wie die "Lindenstraße" künstlerische Werte besitzen? Selbst wenn die Serie nur dazu gedient hat, in der Öffentlichkeit verpönte Themen ins öffentlich-rechtliche Fernsehen und damit in den Fokus zu rücken (was sie desöfteren getan hat), hat sie dadurch einen Wert. Ebenso kann eine Direct to DVD-Produktion künstlerisch genauso oder gar noch wertvoller sein, als der gefeierte Arthouse-Film, der das Glück hat, ein Kritikerliebling zu sein. Die Qualität allein ist ja oft nicht entscheidend, wie ein Film veröffentlicht oder vermarktet wird.
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Smutje187
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Smutje187 »

Heretic hat geschrieben: 9. Aug 2022, 10:40
Smutje187 hat geschrieben: 8. Aug 2022, 23:57 Niemand vergleicht ernsthaft Lindenstraße und Breaking Bad, obwohl beides Serien sind. Genauso wie Direct to DVD-Produktionen und Arthouse-Filme oder Groschenromane und der nächste Literaturnobelpreis.
Halte ich für einen Fehler. Warum soll nicht auch eine Seifenoper wie die "Lindenstraße" künstlerische Werte besitzen? Selbst wenn die Serie nur dazu gedient hat, in der Öffentlichkeit verpönte Themen ins öffentlich-rechtliche Fernsehen und damit in den Fokus zu rücken (was sie desöfteren getan hat), hat sie dadurch einen Wert. Ebenso kann eine Direct to DVD-Produktion künstlerisch genauso oder gar noch wertvoller sein, als der gefeierte Arthouse-Film, der das Glück hat, ein Kritikerliebling zu sein. Die Qualität allein ist ja oft nicht entscheidend, wie ein Film veröffentlicht oder vermarktet wird.
Richtig, kann - und ich spreche ja keinem Kritiker ab, eine Abhandlung über Lindenstraße zu schreiben, aber aufgrund der Herkunft und der bisherigen Vergangenheit wird die Anzahl der Kritiker, die das tun, vermutlich relativ klein sein. Genauso wie jemand vermutlich Ähnlichkeiten zwischen kapitalistischer Wertschöpfung und Candy Crush finden können wird, aber das Subjekt für die meisten Kritiker möglicherweise maximal in der U-Bahn morgens interessant ist.

Ich würde mich ja freuen, wenn jemand mal darüber schreibt wie das wöchentliche beschallen der Bevölkerung mit GEZ-finanzierter Propaganda von der Polizei als Freund und Helfer (Tatort) zu kritisieren sei, aber das ist vermutlich weniger interessant als Stranger Things :-P
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Heretic
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Heretic »

Smutje187 hat geschrieben: 9. Aug 2022, 11:06 Ich würde mich ja freuen, wenn jemand mal darüber schreibt wie das wöchentliche beschallen der Bevölkerung mit GEZ-finanzierter Propaganda von der Polizei als Freund und Helfer (Tatort) zu kritisieren sei, aber das ist vermutlich weniger interessant als Stranger Things :-P
Mach' das doch mal mit den (manchmal ziemlich unangepassten) Schimanski-Tatorten. Die alten Folgen müssen - im Gegensatz zu "Stranger Things" - die Achtziger nichtmal nachstellen. ;)
Avantenor
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Avantenor »

Im Podcast stimmte ich weitgehend mit Jochens Darstellung überein. Ich habe ein abgeschlossenes Archäologiestudium und die Diskussion spiegelte in etwa die Punkte wieder, warum ich mich nicht weiter um eine Tätigkeit in diesem Bereich bemüht habe: Einige finden die Details deutlich interessanter als das Gesamtbild. Ein Archäologe kann sich zwei Stunden gehaltvoll und detailreich über die Gestaltung der Zehennägel griechischer Kouroi-Statuen unterhalten, trifft damit aber auch innerhalb der kleinen Gruppe der Archäologen eher auf das Interesse einer sehr spitzen Zielgruppe. Wenn man dann mal in Kontext setzt, dass diese Fachrichtung ohne massive staatliche, damit u. a. durch meine Steuergelder finanzierten Zuwendungen nicht existieren kann, kann man die Frage in den Raum stellen, warum man für sowas Geld ausgeben soll? Ist das ein Problem der Gesellschaft, dass sie sich nicht für die Gestaltung von Gliedmaßen von vor 2.500 Jahren erwärmen möchte? Muss sie sich dafür wirklich interessieren? Meines Erachtens nicht zwingend, wenn man darauf keine gute Antwort hat, die Betrachtung dem akademischen Vergnügen oder Selbstverwirklichung einer kleinen Gruppe von Theoretikern dient und mein Leben aber kein Stück voranbringt.

Jetzt gehöre ich zu den letzten, die sagen, alles muss immer nur einem wohldefinierten, ökonomisch-praktischen Zweck dienen. Es steht einer Kulturnation durchaus gut zu Gesicht, auch mal Dinge zu tun oder zu fördern, die auf den ersten Blick nicht sofort produktiv verwertbar sein müssen. Sowas ist ja durchaus bereichernd auf andere Weise. Die Frage ist immer, in welchem Rahmen und Umfang. Und da kommt dann Jochens Sichtweise wieder ins Spiel: nicht der Spielekritiker gibt mir vor, wie ich an das Spiel heranzugehen habe, sondern ausschließlich ich. Wenn ich das Spiel interessant finde, dann freue ich mich durchaus auch mal über Denkanstöße und Interpretationsansätze, die sich abseits der ausgetretenen Pfade bewegen. An erster Stelle steht für mich trotzdem immer die Frage, soll ich dafür wirklich Geld ausgeben und begrenzte Lebenszeit investieren. Nicht, ob der Kritiker darin eine interessante Perspektive auf das Leben und die Liebe wiederfindet. Ganz nach dem Motto, erst kommt das Fressen, dann die Moral. Für mich gehört zu dieser Entscheidung bspw. auch eine gewisse Spiel-Grundqualität und ob ich mich anhand der technischen Beschreibung überhaupt in der Stimmung/Motivation befinde, mich auf die intellektuelle Reise zu begeben (z. B. Disco Elysium = endlos lange Bildschirmtexte). Das ist es, was ich in der Kritik zunächst erwarte. Oder wie es auch im Archäologie-Studium immer eingebläut wurde: Erst beschreiben, dann deuten und zum Schluss interpretieren. Damit ist gegeben, dass bei einem breiten Publikum jeder Leser/Zuhörer wichtige Grundlage mitbekommt und Schlussfolgerungen nachvollziehbarer werden. Würde es mir um die Erweiterung meines Verständnisses von Kunst oder gesellschaftlicher/sozialer Muster gehen, suche ich vermutlich zunächst auch in Angeboten für Kunstliebhaber oder von Stiftungen für Gesellschaftsstudien, nicht bei einem Breitenangebot.

Dom möchte meinem Eindruck nach gerne sofort mit der Interpretation vorpreschen und das vor allem zu vergleichsweise schöngeistigen Fragestellungen, die mein Leben intellektuell bereichern können, aber zwischen Windeln wechseln und Steuererklärung vorbereiten auch nicht immer das Thema der Wahl im Laufwerk meiner PlayStation/Xbox sind. Das spiegelt genau die privilegierte Schicht an Testern/Kritikern wider, die es sich leisten können sich den ganzen Tag nur mit Spielen zu beschäftigen und es zunehmend leid sind, ihr Publikum bei Bienchen und Blümchen abzuholen. Fair game, ich könnte auch nicht bis zur Rente von morgens bis abends mit Kindergarten-Kindern arbeiten. Damit bewegt es sich für mich dann aber eher wieder auf dem Niveau der Fußnagelform-Liebhaber: stark auf die Autorenvorlieben/-spezialisierung bezogen, eine sehr spitze Zielgruppe, Hintergrundwissen vorausgesetzt, um dem ganzen wirklich gut folgen zu können, und eine hohe Konzentration für die Nuancen erfordernd. Das ist für die exakte Zielgruppe sehr spannend und erkenntnisreich, aber es verschließt sich in exklusiver Form gegenüber einem dispersen Publikum und holt sie nicht richtig dort ab, wo sie stehen (können). Daher wie auch Jochen schrieb: Ergänzend gerne, als ausschließlicher Beitrag in einem breit gestaffelten Angebot nicht. Oder in der Tradition vieler berühmter britischen Archäologen: bevor Du anfängst hochtrabende wissenschaftliche Texte zu publizieren, schreib erstmal ein gutes Kindersachbuch. Wenn es von solchen Spezialanalysen/-kritiken nicht so viele gibt, wird die Welt in dem Punkt vielleicht etwas weniger farbenfroh, meiner Meinung nach aber nicht zwangsläufig zu einem schlechteren Ort. Am Ende des Tages sind solche Diskussionen eher ein Ausdruck von Wohlstand, denn wir können es uns scheinbar leisten, darüber nachzudenken.
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Tommes
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Tommes »

Aus meiner ganz persönlichen Konsumentensicht, ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, muss ich sagen, dass ich KEINE Besprechungen eines Spiels wünsche, die unter einem einzigen Aspekt, wie im Beispiel "Frauenbild in Witcher" oder "Sklaverei in Anno" (bzw. deren Abwesenheit), stattfinden. Derartige Aspekte sind sehr wichtig, keine Frage und sollen auf jeden Fall berücksichtigt werden, gerne im Rahmen der Wertschätzung auch ausführlich oder im Rahmen eines eigenen Formats noch ausführlicher. Aber in einer Wertschätzung möchte ich bitte erfahren, ob das Spiel meine Lebenszeit wert ist, wie Andre es so schön formuliert hat.

Dabei darf es gerne zu solchen genialen Folgen wie denen zu Death Stranding kommen. Die beiden Folgen dazu sind der Grund, warum ich Baker geworden bin. Dieses Spiel hätte ich ohne diesen Podcast nie, niemals, nicht in tausend Jahren auch nur mit der Kneifzange angefasst. Die üblichen Tests haben es schlichtweg nicht vermocht, mir das Besondere dieses Spiels zu vermitteln. Die Doppelfolge zu Death Stranding hat es geschafft, dafür bin ich Sebastian und Andre sehr dankbar. Denn ohne sie wäre mir ohne Übertreibung eines der außergewöhnlichsten Spielerlebnisse seit Jahrzehnten entgangen. Für solche genialen Experimente und die weit über die üblichen Spielebesprechungen hinaus gehenden Erörterungen von Spielen und der Spielebranche bin ich Baker dieses Podcasts.

Die Herangehensweise dieses Podcasts, Spiele ausdrücklich aus dem subjektiven Erleben wertzuschätzen und eben nicht scheinobjektiv zu testen, ist meiner Meinung nach der Königsweg der Spiele"tests". Das kann auch mal nicht klappen, wie es mir in The Outer Wilds gegangen ist. Die Wertschätzung dazu war so enthusiastisch, dass ich es ausprobiert habe (andernfalls hätte ich das nicht getan), ich bin aber beim besten Willen nicht in das Spiel gekommen und habe es nach kurzer Zeit abgebrochen. Das macht aber nichts. Die Wertschätzungen sind eben subjektiv. Ich erwarte gar nicht, dass ich die Qualität, welche die Podcaster beschreiben, in allen Fällen nachvollziehen kann. Unter dem Strich ergaben sich dadurch bisher wesentlich mehr "Treffer" als "Nieten" im Vergleich mit klassischen "objektiven" Tests. Weiter so!
eXodus
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von eXodus »

Ein paar Gedanken meinerseits:

- Ich habe den Eindruck, dass manche User hier davon ausgehen, dass ein guter Kritiker in der Lage ist, dem "Konsumenten" darzustellen, ob ihm das Spiel gefällt.
Ich würde dem widersprechen, weil ich die Aufgabenstellung für unlösbar halte: ein Kritiker kann ja nicht im Kopf der Konsumenten stecken.
Anderseits halte ich eine "Kritik" für gut, wenn ich für die Dauer der Zeit einen Besuch im Kopf des Kritikers machen kann. Dann habe ich zumindest eine Informationsquelle, die ich mit meinem eigenen Kopf abgleichen kann.

Viele klassische Spieletests wirken auf mich eher wie ein Versuch, dem Konsumenten klar etwas zu empfehlen oder von etwas abzuraten. Kann man machen, kann ich persönlich wenig mit anfangen. So oder so finde ich aber da aber als Mindestmaß wichtig: kann ich den Gedankengang nachvollziehen?

- Selten gab es wohl so unglaublich viele Quellen, um sich Information über ein Spiel zu verschaffen. Klassische Tests gibts im Netz wie Sand am Meer, es gibt Lets Plays, es gibt Metacritic Scores etc.
Aus diesem Zusammenhang kann ich die Perspektive von Dom umsomehr nachvollziehen: Es fehlt an feuilletonistscher Auseinandersetzung mit Spielen. Und gerne möchte ich eine Auseinandersetzung mit einem Teilaspekt eines Spieles haben. So funktionieren ja auch Analysen bei Filmen und Büchern. Warum will ich das so gerne? Weil es vom Rest einfach mehr als genug gibt. Und ich kann sehr nachvollziehen, dass Aspekte wie bspw. die Darstellung von Kolonisation einem Kritiker das ganze Spielerlebnis prägen können - nichts anderes passiert ja manchmal bei einem ur-spieleeigenen Aspekt wie ... der Grafik oder so.
Ich wiederhole mich zwar, finde es aber wichtig: Eine gute Kritik macht dabei für mich nicht der Inhalt der Kritik alleine aus, sondern wie nachvollziehbar sie mir dargestellt wird (d.h. die Interaktion des kritisierten Aspektes mit dem Game als ganzheitliches Spielerelebnis)

Ansonsten danke an die 3 Podcaster für diesen sehr interessanten Austausch und danke an das Forum für die spannenden Einwände!
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Stew_TM
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Stew_TM »

Klonky hat geschrieben: 8. Aug 2022, 22:30
Stew_TM hat geschrieben: 8. Aug 2022, 20:22
Klonky hat geschrieben: 8. Aug 2022, 19:40 Was ist eigentlich mit dem Eskapismus? [...]
[...]
Ich hatte nur das "Extrembeispiel" von Dom aufgegriffen. In seiner Welt existieren nur noch solche Beispiele. Ich als Spiele Konsument möchte vielleicht nicht ständig mit "Das Spiel macht das falsch, hier ist das falsch", konfrontiert werden. Wenn mir das Spiel Spaß macht, hat es sein Ziel erfüllt - Jedoch muss ich doch erst mal wissen, ob das Spiel was für mich ist. Und dann sind wir wieder bei dem: Spieletest oder Review?
Das habe ich nicht aus Doms Erläuterungen mitgenommen. Er sagt nicht, dass die Kritik an The Witcher 4 sich ausschließlich um das durch das Spiel transportierte Frauenbild drehen darf. Das wäre, nebenbei bemerkt, auch nicht authentisch, denn es ist ja möglich, dass die mit der Kritik "beauftragte" Person je nach der ihr eigenen Perspektive gar nichts interessantes zum Frauenbild in The Witcher 4 zu sagen hat und die Kritik bspw. an der Darstellung von Armut aufziehen wollen würde.
Dom wünscht sich IMO lediglich, dass eine Kritik mit einem derartigen Fokus von Mainstream-Medien auf die gleiche Stufe gestellt wird wie die klassische Review, da er sich davon eine Symboleffekt für die Wertschätzung dieser Art von Kritik erhofft, die aus seiner Sicht bislang immer in die zweite Reihe "abgeschoben" wird. Damit nicht - wie sonst häufig bei großen Titeln - alle Mainstream-Magazine eine sich letztendlich nur in Details unterscheidende Form von Kritik üben, sondern "der Spielejournalismus" auch auf dieser Ebene schon vielfältige Perspektiven auf ein Spiel eröffnet, nicht erst im Appendix. Da war das aus meiner Sicht nachvollziehbare Argument von André und Jochen: Die GameStar stellt inzwischen das einzige klassische Mainstream-Magazin in Deutschland dar, und diese hat sich innerhalb des gegebenen Rahmens auch schon durchaus weiterentwickelt. Ich bin da auch eher bei Jochen und André als bei Dom, aber man sollte seine Position schon fair verhandeln.
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Felidae
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Felidae »

eXodus hat geschrieben: 9. Aug 2022, 12:50 - Ich habe den Eindruck, dass manche User hier davon ausgehen, dass ein guter Kritiker in der Lage ist, dem "Konsumenten" darzustellen, ob ihm das Spiel gefällt.
Ich würde dem widersprechen, weil ich die Aufgabenstellung für unlösbar halte: ein Kritiker kann ja nicht im Kopf der Konsumenten stecken.
Anderseits halte ich eine "Kritik" für gut, wenn ich für die Dauer der Zeit einen Besuch im Kopf des Kritikers machen kann. Dann habe ich zumindest eine Informationsquelle, die ich mit meinem eigenen Kopf abgleichen kann.

Viele klassische Spieletests wirken auf mich eher wie ein Versuch, dem Konsumenten klar etwas zu empfehlen oder von etwas abzuraten. Kann man machen, kann ich persönlich wenig mit anfangen. So oder so finde ich aber da aber als Mindestmaß wichtig: kann ich den Gedankengang nachvollziehen?
Dankeschön! <3

Es ist wirklich faszinierend, wie sehr bestimmte Magazine/Tester:innen (bewusst NICHT "Kritiker:innen"!) auch heute immer noch das Selbstverständnis haben, DIE EINE BEWERTUNG zu geben, die dann allgemeingültig ist.

"Highlight" für mich in der Hinsicht noch immer (der von mir ansonsten hoch geschätzte) Heiko Klinge, der Torment:ToN im Jahr 2017 keine 90 gegeben hat, weil er "das Spiel nicht uneingeschränkt jedem empfehlen" könne. Ich hab damals höflich nachgefragt, WELCHES Spiel er denn "uneingeschränkt jedem" empfehlen könne. Auf die Antwort warte ich leider heute noch. ;)
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Heretic
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Heretic »

Kurze Zwischenfrage: Warum redet ihr eigentlich die ganze Zeit über "Witcher 4"? Hab' ich was verpasst? :think:
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Heretic
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Heretic »

Floki hat geschrieben: 9. Aug 2022, 13:22 Ist einfach ein fiktives Beispiel gewesen, auch wenn das Ding so sicher kommt wie das Amen in der Kirche #cashcow :-D
Und ich dachte schon, Teil 4 wäre bereits erschienen und hätte die Sammelkarten wieder eingeführt. :mrgreen:
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Helix
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Helix »

Felidae hat geschrieben: 9. Aug 2022, 13:16
eXodus hat geschrieben: 9. Aug 2022, 12:50 - Ich habe den Eindruck, dass manche User hier davon ausgehen, dass ein guter Kritiker in der Lage ist, dem "Konsumenten" darzustellen, ob ihm das Spiel gefällt.
Ich würde dem widersprechen, weil ich die Aufgabenstellung für unlösbar halte: ein Kritiker kann ja nicht im Kopf der Konsumenten stecken.
Anderseits halte ich eine "Kritik" für gut, wenn ich für die Dauer der Zeit einen Besuch im Kopf des Kritikers machen kann. Dann habe ich zumindest eine Informationsquelle, die ich mit meinem eigenen Kopf abgleichen kann.

Viele klassische Spieletests wirken auf mich eher wie ein Versuch, dem Konsumenten klar etwas zu empfehlen oder von etwas abzuraten. Kann man machen, kann ich persönlich wenig mit anfangen. So oder so finde ich aber da aber als Mindestmaß wichtig: kann ich den Gedankengang nachvollziehen?
Es ist wirklich faszinierend, wie sehr bestimmte Magazine/Tester:innen (bewusst NICHT "Kritiker:innen"!) auch heute immer noch das Selbstverständnis haben, DIE EINE BEWERTUNG zu geben, die dann allgemeingültig ist.
Sollte man nicht sowieso um eine breitere Akzeptanz der Berichterstattung im Spielejournalismus bei Konsument*innen werben, statt Spitzfindigkeiten um Begriffsdefinitionen von Kritik und Test zu klären? Previews, Reviews, Interviews, thematische Fragestellungen sind doch alle Teil dieses Feldes und sollten von der Masse gleichermaßen angenommen werden, anstatt dass man nur das eine Review oder die eine Kritik auf den Thron setzt und danach alles bewertet. Aus der Summe an Blickwinkeln ergibt sich erst das vollständige Bild.
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Terranigma
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Terranigma »

Felidae hat geschrieben: 9. Aug 2022, 13:16Ich hab damals höflich nachgefragt, WELCHES Spiel er denn "uneingeschränkt jedem" empfehlen könne.
Ich antworte einfahch mal im Namen - wenn auch nicht Sinne - von Heiko: Terranigma. :whistle:
Sitting quietly and doing nothing,
Spring comes, and the grass
grows by itself.
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Felidae
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Re: Runde #383: Über Kritik

Beitrag von Felidae »

Helix hat geschrieben: 9. Aug 2022, 14:27

Sollte man nicht sowieso um eine breitere Akzeptanz der Berichterstattung im Spielejournalismus bei Konsument*innen werben, statt Spitzfindigkeiten um Begriffsdefinitionen von Kritik und Test zu klären? Previews, Reviews, Interviews, thematische Fragestellungen sind doch alle Teil dieses Feldes und sollten von der Masse gleichermaßen angenommen werden, anstatt dass man nur das eine Review oder die eine Kritik auf den Thron setzt und danach alles bewertet. Aus der Summe an Blickwinkeln ergibt sich erst das vollständige Bild.
Ich gestehe, ich verstehe nicht ganz, worauf Du rauswillst, aber ein Test ist schon etwas fundamental anderes als eine Kritik. Das fängt schon da an, dass ein Test so objektiv wie möglich sein will - wohingegen eine Kritik im Zweifel auf jegliche Objektivität pfeift.
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