Geschichtlicher Einfluss auf Spielekritiken

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SyNaTiiC
Beiträge: 1
Registriert: 15. Apr 2017, 04:57

Geschichtlicher Einfluss auf Spielekritiken

Beitrag von SyNaTiiC »

Hallo erstmal,
um meine Frage verständlicher zu machen, möchte ich zuerst ein hypothetisches Beispiel vorstellen, bei dem ich zwei Szenarien durchgehen will. Grundannahme: Es kommt ein neues Assassins Creed raus, es ist das exakt gleiche Spiel für beide Szenarien, es unterscheidet sich inhaltlich nichts. Im ersten Szenario kopiert das Spiel nur alte Mechaniken von älteren Titeln und erfindet nichts neu, man hat alles schon 100x gesehen und das Spiel basiert auf einer klassischen Ubisoft-Openworld-Formel, dessen man schon überdrüssig ist. Im zweiten Szenario ist das Spiel innovativ, denn es gab zuvor noch kein derartiges Spiel und die Ubisoft-Openworld-Formel kommt hier zum ersten Mal zum Einsatz. Zu meiner Frage: Sollte man nun das Spiel beim zweiten Szenario besser bewerten, weil es innovativ ist? Oder sollte man doch beide Spiele gleich bewerten, weil sie ja inhaltlich das komplett identische Spiel sind und man ja schließlich das Spiel bewertet, unabhängig anderer Spiele, da das Spiel ja nicht schlechter wird, nur weil es schon derartige Spiele zuvor gab. Was ist eure Meinung dazu?
Also allgemein formuliert: Sollte die Geschichte, beziehungsweise, sollten bereits existierende Titel Einfluss auf die Wertung eines neu erscheinenden Titels nehmen oder sollte die Bewertung unabhängig von anderen Spielen sein?
falseprophet
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Re: Geschichtlicher Einfluss auf Spielekritiken

Beitrag von falseprophet »

Die Frage ist doch auch an wen sich die Spielekritik richtet. Wer beispielsweise alle Assassin's Creed Spiele gespielt hat, hat eine anderen Einstiegshaltung bzw. Erwartungshaltung an neue Titel dieser Serie als jemand der gerade in die Serie einsteigt. Spielekritiker kennen meist etliche Teile solcher Serien und langweilen sich wohl schneller bei spieltechnisch analogen Neuerscheinungen. Ich denke es macht Sinn die älteren Titel in eine Wertung miteinzubeziehen und insbes. Serientitel nicht als unabhängige Individualspiele zu betrachten.
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Desotho
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Re: Geschichtlicher Einfluss auf Spielekritiken

Beitrag von Desotho »

DIe Zahlenwertung am Ende ist eh so eine Sache. Wichtiger ist, dass es im Text steht.
Mal ein Beispiel: Da Yakuza 0 gerade im Sale ist, habe ich auch nochmal Tests gelesen. Ein Kritikpunkt war, dass es gegenüber den letzten Teilen nichts neues macht. Da ich davor kein Yakuza gespielt habe, kann mir das wumpe sein. Andere Leute sehen das anders.
Die einen hüpfen bei "Ubisoft Openworldformel" schreiend aus dem Fenster, die anderen mögen es.

Ich denke, dass man ein Spiel im Kontext der Zeit sehen muss. Aber auch da kann es unterschiedliche Meinungen geben. Gerade heute sind z.B. auch einige Retro-Aspekte auch wieder im Kommen.

Oder schau Dir die Shooter an (nicht gerade mein Thema). Vor paar Jahren haben die Spieler offenbar beim Wort "Zweiter Weltkrieg" gekotzt, heute heisst es: "Ja, wäre schon mal wieder geil."
El Psy Kongroo
Infosoph
Beiträge: 16
Registriert: 21. Apr 2017, 07:05

Re: Geschichtlicher Einfluss auf Spielekritiken

Beitrag von Infosoph »

Jede Bewertung ist doch subjektiv und damit eine Frage der Perspektive.

Da die Erfahrung des Bewertenden mit Spielen letztlich vom Angebot an Spielen, welches zum Zeitpunkt der Bewertung zur Verfügung stand, abhängt, ist die Bewertung natürlich auch immer eine aus der Zeit, aus der sie stammt. Ergo vom Zeitpunkt abhängig, an dem sie getroffen wird.

Eine Methode die man hier zur besseren Veranschaulichung nutzen kann ist die Betrachtung von extremen Beispielen.

Nehmen wir also Spiele und betrachten sie außerhalb der Zeit ihres Erscheinens. Der Einfachheit halber behalten wir den uns ohnehin schon eigenen Blick der Jetzt-Zeit und betrachten (soll heißen bewerten) Spiele aus der Vergangenheit und Zukunft aus dieser Perspektive.

Die Bewertung erfolgt anhand von drei Kategorien:
(1). Erfolg eines Spiels, gemessen an Aufmerksamkeit und ökonomischem Ertrag.
(2). Bewertung durch die Fachpresse.
(3). Subjektive, persönliche Bewertung des Spielers.

1. Betrachten wir nun also zunächst Spiele aus der Vergangenheit, anhand des Beispiels der Arcades (= Spielhallen).
Arcades waren die erste populäre Form von Computerspielen. Zu ihrer Hochzeit in den frühen 80ern haben manche Titel Milliardenbeträge eingespielt. Heute sind sie meist nur noch eine Form von Nostalgie, und reichen schon lange nicht mehr an ihre Erfolge oder Besucherzahlen heran. Sie werden daher nach dem ersten Kriterium (1) klar heute anders bewertet. Auch die Fachpresse (2) würde heute kaum noch über die Eröffnung einer neuen Arcade berichten. (3) mag jeder für sich entscheiden. Aber es dürfte recht klar sein, dass die meisten Spieler aus heutiger Perspektive aktuellere Titel bevorzugen.

(Noch ältere Titel als die der Arcades werden aus heutiger Perspektive noch geringschätziger betrachtetet: Sie stehen i.d.R. bestenfalls in Museen.)

2. Zur Zukunft, stellen wir uns das "Ultimate Game of The Future" (UGoTF) vor.
Ich will nicht sagen, dass es kein besseres Spiel als das UGoTF geben kann. Denn das würde bedeuten, dass es überhaupt so etwas wie "ein bestes Spiel" geben könnte. Und dieses Fass will ich gar nicht aufmachen.
Stattdessen stellen wir uns das UGoTF als Spiel vor, dass jedem aktuell verfügbaren Spiel "klar überlegen" ist. ;-)

Selbstverständlich würde dieses Spiel von Fachpresse (2) und Spielern (3) mit Begeisterung aufgenommen werden. Es ist schließlich jedem Spiel klar überlegen. :mrgreen: Auch der Erfolg (1) wäre naheliegend. (Wenn wir mal annehmen, dass die notwendige Hardware auch erschwinglich verfügbar wäre.)

Anhand von diesen beiden Extremfällen sieht man recht schnell, dass die praktischen Bewertung eines Spiels eine Frage der zeitlichen Perspektive ist. Deine Frage lautete aber, ob dies auch so sein soll.

Gerade anhand des zweiten Beispiels wird schnell klar, dass eine Bewertung jeweils aus der aktuellen Perspektive erfolgen sollte. Denn jedes Spiel das bisher existiert ließe sich an 1000 Stellen deutlich verbessern, womit wir aber wieder fast schon beim UGoTF wären, welches jedes Spiel klar in den Schatten stellen würde. Der Vergleich eines aktuellen Titels mit dem UGoTF macht aber wenig Sinn, da das aktuelle Spiel dabei nur verlieren kann und daher der Ausgang der Bewertung schon im Vorhinein feststeht.

Man will doch kaum, dass unter jedem Spieletest steht "Ist nicht so gut wie das UGoTF - 0 Punkte.".

In der Informatik würde man dazu sagen: Eine Frage, deren Ausgang im Vorhinein jedes mal feststeht hat keinen Informationsgehalt. Denn man lernt nichts neues darauß. Eine solche Frage zu stellen macht daher auch wenig Sinn.

Darauß folgt meine Antwort 1 von 3:
Wenn man ein aktuelles, tatsächliches Spiel mit allen möglichen Spielen vergleicht, und dieses daher dabei nur verlieren kann, macht dieser Vergleich wenig Sinn. Ergo sollte man diesen Vergleich so nicht anstellen.


Aber nehmen wir an, ein Redakteur hätte die Möglichkeit, zwar nicht auf das UGoTF zuzugreifen (gegen das ja jedes Spiel verlieren würde), aber dafür ein Spiel aus 5 Jahren in der Zukunft für einen Vergleich heran zu ziehen. Ein Beispielfazit hinter dem Test des Assasssin's Creed, welches dieses Jahr erscheinen wird, wäre etwa:
"Assassins Creed 'Mediterranean' (2017) liegt leider in vieler Hinsicht hinter Assasins Creed 'Up To The Moon' (2022). Die Grafik wirkt altbacken, der Ton matt. Eine sinnvolle temporal-VR Unterstützung fehlt ebenso wie eine Integration von 'neues Social Media Network hier'. Auch das Teilen eigener Stories ist nicht möglich. Das Spiel stellt noch nicht mal meine Smart-Home Devices auf play-mode, sodass etwa mein Saugroboter mit einem lästigen Surren im Hintergrund ablenkte. Dafür kann das Setting mit seinen antiken und vor-antiken Grabstätten, Inselwelten, Weltwundern und Persönlichkeiten punkten. 6 / 10 würde mich wieder auf Zeitreise begeben."

Letztlich würde der Redakteur damit interessante, relevante Punkte in seine Bewertung einbringen. Aber die normale Leserschaft hätte davon dennoch wenig, da sie ja selbst dieses Spiel aus der Zukunft nicht spielen kann. AC 2022 würde dennoch 2017 nicht gekauft werden, weil es niemand kaufen könnte.

Antwort 2/3:
Insofern der Sinn der Bewertung eines Spiels also im Kaufratschlag liegen soll, insofern sollte sie auch nur aktuell (oder bestenfalls sehr bald) verfügbare Titel zum Vergleich heranziehen.

Antwort 3/3:
Was die Bewertung auf einer reinen Punkte/Prozent-Skala betrifft, sollte noch angemerkt werden:
Natürlich ist die Vergleichbarkeit von Spielen selbst eine fragwürdige Angelegenheit.
Klar, Assassins Creed 1 und AC Black Flag sind ähnliche Spiele, letzteres wohl für die meisten klar zu bevorzugen. Aber Black Flag mit bspw. Portal zu vergleichen macht schon weitaus weniger Sinn.
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Mario_Awe
Beiträge: 75
Registriert: 4. Dez 2016, 18:15
Wohnort: Stuttgart

Re: Geschichtlicher Einfluss auf Spielekritiken

Beitrag von Mario_Awe »

Wow. Was ein ausführlicher und toller Text Infosoph!
Xyxyx
Beiträge: 176
Registriert: 9. Mai 2017, 20:18

Re: Geschichtlicher Einfluss auf Spielekritiken

Beitrag von Xyxyx »

Ich glaube es geht nicht ohne Vergleiche. Gerade das macht es bei Videospielen aber sehr schwierig, weil wir es immer noch mit einem "jungen Medium" zu tun haben, das tatsächliche Innovationen erlaubt. Sowohl im Sinne der Technik (nicht nur bessere Grafik, sondern generell VR), aber auch im Sinne der Einbindung der Interaktivität. In Sachen Story-Telling sind wir immer noch weit hinten, in den letzten Jahren haben MotionControl und jetzt VR zu völlig neuen Eingabe-Mglichkeiten geführt. Damit steht man ganz anders da als bei der Literatur oder beim Film. Es gibt vielleicht im Film mehr (und bessere) Effekte, aber seit Star Wars (1977) hat man einen annähernd perfekten Einbau von realistischen Modellen, spätestens mit Terminator 2 (1991) überzeugende SpecialEffects. So weit sind wir mit Spielen noch lange nicht. und das meint jetzt nur die Präsentation.

Damit gibt es bei der Bewertung von Spielen noch gar keine gemeinsame Basis von der aus man urteilen kann, da die sich immer noch verändert. Wenn ich mir z.B. alle paar Jahre mal wieder ein Fußballspiel (FIFA/PES) kaufe, so muss das in meiner Wahrnehmung, abseits von aller Grafik und allen Lizenzen, doch auch mit dem Spielgefühl überzeugen. Und da kam in den letzten Jahren, trotz all der besseren Technik, kein einziges an die PES-Serie auf der Wii ran, die mit einer Pointer-Steuerung zuließ das Team tatsächlich taktisch zu kontrollieren, statt nur mit der Kontrolle über jeweils einen Spieler der KI zuzuspielen.

Das heißt, dass in jeder Kulturkritik ein Kontext hergestellt wird (und werden muss). Im Falle der Literatur, des Films, der bildenden Kunst (nach der Performance und Happening-Bewegung seit den 60er/70er-jahren) oder der Musik ist dieser Kontext den Kritikern und den interessierten Rezipienten jedoch relativ klar und annähernd unveränderlich, während er sich bei Spielen immer noch verändert.
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