Spiele und die fehlende Individualität

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Nachtfischer
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Nachtfischer »

Ich habe auch Zweifel, ob zunehmende Grafikpower oder VR den Computerspielen zu mehr künstlerischer Bedeutung verhelfen werden.
Definitiv nicht. Die Entwicklung einer soliden Game-Design-Theorie als Unterbau des Mediums hinkt der technischen und audiovisuellen ohnehin schon meilenweit hinterher. Jahrelang ist man bloß dem leicht zu erfassenden Wunsche nach immer größerem technologischen Spektakel nachgelaufen, ohne sich viel grundsätzlichere Gedanken zu machen. Quasi immer neue Synthesizer und Instrumente, ohne dass irgendwer mal die Prinzipien der Harmonielehre festgehalten hätte.
Früher hatte man mit den Spielen Spaß, heute braucht man Motivatoren wie Achievements.
Auch diese werden in den fortschrittlicheren Designer-Zirkeln sehr kritisch betrachtet. Vielmehr liegt der Fokus auf starken und an sich spaßigen Kernmechanismen, die zunächst keiner extrinsischen Motivation bedürfen, um zum Weiterspielen anzuregen. Dies soll durch die Freude an der Auslotung der spielerischen Möglichkeiten (sprich der Spieltiefe) selbst passieren. Modernes Brettspiel-Design ist da übrigens schon wesentlich weiter (da hier eben ein Fokus auf gameplay-ferne Elemente wenig Sinn ergibt, da die Mechanik so klar zutage liegt). Deshalb gibt es dort eine wesentlich gesündere Spielelandschaft, inklusive regelmäßiger spielerischer Innovation (auf Ebene des Regelwerks) und Weiterentwicklung.
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Joss
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Joss »

Nachtfischer hat geschrieben:Vielmehr liegt der Fokus auf starken und an sich spaßigen Kernmechanismen, die zunächst keiner extrinsischen Motivation bedürfen, um zum Weiterspielen anzuregen. Dies soll durch die Freude an der Auslotung der spielerischen Möglichkeiten (sprich der Spieltiefe) selbst passieren. Modernes Brettspiel-Design ist da übrigens schon wesentlich weiter (da hier eben ein Fokus auf gameplay-ferne Elemente wenig Sinn ergibt, da die Mechanik so klar zutage liegt). Deshalb gibt es dort eine wesentlich gesündere Spielelandschaft, inklusive regelmäßiger spielerischer Innovation (auf Ebene des Regelwerks) und Weiterentwicklung.
Da ich mit P&P aufgewachsen bin, kann ich das gut nachvollziehen. Ich habe meinen Zweifel an deinem Optimismus, aber die Richtung der Entwicklung würde ich begrüßen. Und so wie du würde ich auch genau darin den Begriff der Innovation lokalisieren. Wenn ich in Spieleforen über dieses Thema diskutierte, war das jedoch stets Spartenprogramm. Was mich wiederum an die Zeit erinnerte, in der auch Rollenspiele etwas waren, was sich nur wenige antun wollten.
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Leonard Zelig
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Leonard Zelig »

Für Playstation-Plus-Besitzer gibt es gerade Everybody's Gone to the Rapture im Angebot (8,99€). Das stammt von den Dear-Esther-Machern und soll in künstlerischer Hinsicht auch recht spannend sein.
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Dostoyesque
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Dostoyesque »

Schöner thread, der Einstieg ist aber denkbar schwer, da ich gefühlt zu jedem zweiten Absatz gerne etwas schreiben würde. Ich denke das Thema des künstlerischen Werts des Mediums Spiel wird uns noch lang verfolgen, weswegen ich erst mal kurz ein paar Sätze zu der folgenden These droppen will und dann auch schon wieder gtfouttahere-e, weil müde.
Nachtfischer hat geschrieben:Was unbedingt noch angemerkt werden muss, ist, dass die Kunstform (meinetwegen gerne auch "das Handwerk") Game-Design einfach noch verdammt jung ist.
Das Problem ist leider, dass jung Anfang des 20. Jahrhunderts ≠ jung Ende des 20. Jahrhunderts ist, was man auch persönlich als teenager im Gespräch mit den Eltern und Großeltern zu spüren bekommt. Worauf ich abziele ist die Tatsache, dass das Medium Spiel sich in einer Zeit entwickelt hat, in der Mediendistribution und -/vermarktung auch eine Revolution erlebt haben, vor allem durch das Fernsehen (siehe die populäre Musikszene vor und nach MTV), den PC und das Internet. Andere etablierte Kunstformen wie z.B. die Musik, Literatur, Malerei oder sogar der Film hatten den Luxus eine noch relativ unbekümmerte Jugend erleben zu dürfen, womit sich sowohl Künstler als auch ein Publikum für sämtliche Ausprägungsformen der entsprechenden Kunstform entwickeln konnten.

Das Computerspiel wird diesen Luxus leider nie genießen können. Das Medium wächst in einer unheimlich medienbewussten und "vermarktungsbewussten" Gesellschaft auf, was seine Entwicklung stark einschränkt. Es erinnert fast ein wenig an junge Sportlerkarrieren mit Talenten von Weltklasseformat: Im US-Basketball ist es momentan so, dass bereits Highschool-/ oder Collegetalente bereits massiv vermarktet werden, es wird ein Haufen Geld mit ihnen gemacht, shoedeals unterzeichnet, bevor sich die Jungen überhaupt fertig entwickelt haben. Die Vermarktungsmöglichkeiten sind so enorm, dass sich niemand wirklich darum kümmert, wie das Talent jetzt wirklich konkret gefördert werden soll und stattdessen wird es so früh wie möglich gemolken und nachher beschwert man sich darüber, dass aus diesem Welttalent doch nichts wurde. Die Spieler kümmern sich weniger um ihr Talent, da sie bereits viel zu früh in ihrer Karriere viel zu sehr belohnt werden und letztendlich wird aus der großen Karriere nichts und das Talent verkommt.

Und dasselbe trifft mMn nach auf das Medium Spiel zu: Necessity is the mother of invention. Das Medium leidet (bzw. zumindest der populäre AAA Teil der Branche) momentan massiv unter Publishingdruck und gleichzeitig ist es auch in diesen Bereichen bereits viel zu komot, weil es bereits eine etablierte Einnahmequelle nicht für Publisher, sondern eben auch für die "Künstler" ist, weswegen ich mich mittlerweile weigere, hier von Kunst zu sprechen. Das Ziel in diesem Teil der Branche ist Unterhaltung und Profit, was jetzt keine verabscheuungswürdige mögliche win/win Situation für Produzenten wie auch Konsumenten ist, aber das Medium von seinem kunstgeschichtlichen Katechismus leider komplett entfremdet, wenn er denn jemals existiert hat, da sich das Computerspiel ja weniger als künstlerische, sondern vielmehr als technologische Konsequenz entwickelt hat, wenn man betrachtet, wer die Frühwerke so gemacht hat in den ersten Jahren und vielleicht sogar Jahrzehnten. Verweise auf eine mögliche glorreiche Zukunft sind irgendwie für die Katz, wenn man die Umgebung betrachtet, in der sich das Medium in Zukunft entwickeln soll.

Deswegen zählt für mich das Argument "aber es ist doch jung" leider nicht bzw. nur sehr wenig. Ein Teil der Filmszene anfangs des 20. Jahrhunderts hat sich bereits von Beginn an demonstrativ bekannt zu seinem kunstgeschichtlichen Kontext, was man z.B. im Film der Weimarer Republik und seiner Beziehung zum Expressionismus sehr leicht erkennen kann. Der Kunstfilm hat zwar durchaus einige Schläge einstecken müssen und ist vor allem auf europäischer Seite bei weitem weniger populär als noch vor 50 Jahren, aber er hat Bestand. Wenn mich jemand nach der "Kunstspielszene" fragen würde, hätte ich große Schwierigkeiten, hier die größten Künstler der letzten Jahrzehnte zu benennen, weil ich nicht mal weiß, wo diese Szene wirklich zu finden wäre. Ich hab mittlerweile vergessen, wie der Kerl hinter Silent Hill 2 heißt, aber im Zweifel eben der. Es ist unheimlich viel auf der technischen Seite entwickelt worden (Grafik/Sound/Input devices/Genres/Spielmechaniken), aber in Sachen Expressivität hat das Medium gefühlt es noch nicht mal vernünftig versucht (bzw versuchen dürfen). Hier fehlen mir sowohl die (gescheiterten) Versuche als auch die Visionäre bzw. die Künstler, die das Medium überhaupt in diese Richtung entwickeln wollen. Ich hör von niemandem, der nach diesem Ideal des Kunstspiels strebt. Personen wie Ken Levine, die ja durchaus ernst zu nehmen sind, sind viel mehr Autoren als wirklich visionäre Gamedesigner. Ich sags ja echt nicht gern, weil ich die Metal Gear Reihe nicht besonders mag und Kojima ein schrecklicher Autor ist, aber Kojima ist wahrscheinlich in Sachen Expressivität im gamedesign (wenn man SuperBunnyHops Video zu MGS2 Glauben schenken darf) im AAA Bereich wahrscheinlich noch Vorreiter. Kojima!!

Nichtsdestotrotz möchte ich jetzt nicht nur miesepetrig sein, es gibt durchaus schöne Beispiele in der "Indieszene", die wegweisend sein könnten. Hier stecken die meisten Künstler/Projekte noch in den Kinderschuhen, aber wer weiß, vielleicht wirds ja was. Ein sehr interessantes Beispiel aus diesem Jahr: Ich kann nicht behaupten, dass es für mich als Kunstwerk wirklich besonders gut funktioniert, weil es mir im wesentlichen seine Bedeutung vorbetet, aber The Beginner's Guide war z.B. durchaus eine sehr erfrischende Erfahrung, weniger weil das Spiel qualitativ so hochwertig ist, sondern viel mehr, weil der Erzähler das präsentierte Werk so verblüffend ernst nimmt und sich intensiv mit der Ausdruckskraft des Mediums Spiel auseinandersetzt. Ein anderes Beispiel aus diesem Jahr wäre Undertale, das es wirklich schafft, Interaktion mit Ausdruck im Einklang zu bringen bzw. zumindest irgendwie aufeinander zu beziehen. Gone Home habe ich denke ich in einem ähnlichen Kontext schon mal erwähnt.
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Nachtfischer
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Nachtfischer »

Ich bin da weitgehend bei dir, Dostoyesque. In der AAA-Landschaft wirst du nicht viel Anspruchsvolles in Sachen Gameplay finden (und das Gros der "Story-Spiele" befindet sich - aufgrund der notwendigen Reibung zwischen spielerischer Dynamik und erzählerischer Linearität - bestenfalls auf dem Niveau unterdurchschnittlicher Filme). Dass der Anspruch, das Medium nach vorne zu bringen, den meisten Videospielen der Neuzeit völlig abgeht, ist dann auch ein Grund dafür, dass viele älter werdende Spieler das Gefühl haben, "aus dem Spielen herausgewachsen" zu sein. Tatsächlich sind sie jedoch nicht aus dem Spielen selbst, sondern aus den Spielen, die wir regelmäßig vorgesetzt bekommen, herausgewachsen. Mainstream-Videospiele haben schlicht nicht mit der persönlichen Entwicklung der Spieler schrittgehalten und treten - abseits der Technik - stattdessen schon seit Jahrzehnten auf der Stelle. Auch geben sie sich größte Mühe, das durchschnittliche Spielerhirn permanent zu unterfordern. Als sich weiterentwickelndes Individuum will man natürlicherweise immer weniger die "Zeit vertreiben", sondern sie effektiv und effizient nutzen.

Spiele, die wiederum dazu taugen, finden sich wie von dir angedeutet tatsächlich in der Regel im Indie-Bereich. Für mich, der auf audiovisuelles Spektakel und Story weitestgehend pfeift, bestanden die Top-TItel des letzten Jahres eben nicht in den Neuaufgüssen von Witcher, Fallout und Metal Gear Solid, sondern in den durch originelle Regelwerke glänzenden Auro, Galak-Z und Invisible Inc.
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Joss
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Joss »

Nachtfischer hat geschrieben:Als sich weiterentwickelndes Individuum will man natürlicherweise immer weniger die "Zeit vertreiben", sondern sie effektiv und effizient nutzen.
Ich will nach wie vor Spaß (Eigenwert) an Spielen haben und mir durchaus auch die Zeit vertreiben (Spaß = freudvoller Zeitvertreib). Effektivität und Effizienz empfinde ich als recht eigene Ansprüche gegenüber einem Spiel, zumal wenn sie an das Bedürfnis gekoppelt werden, sich selbst durch ein Spiel weiterentwickeln zu wollen. So als müsste der Wilhelm Meister nicht nur ein Bildungsroman sein, sondern im Fortgang auch den Leser weiterbilden und das dann bestenfalls noch etwas entschnörkelter als auf 500 Seiten. Rollenspiele spiele ich genau vor dem Hintergrund, mich in Geschichten zu verlieren, die mich treiben lassen und für sich selbst mäandern. Wenn Exploration auf einem Raster an Effektivität und Effizienz gekoppelt wird, nimmt man ihr das, was sie ausmacht. Denn Exploration muss immer ihr Scheitern eingeschrieben bleiben, um noch eine zu sein. Die genannten Kriterien haben für mich eher den Charakter einer Korrekturfunktion.
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Nachtfischer
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Nachtfischer »

Ich sehe da beim Spielspaß (also dem, der tatsächlich vom interaktiven System kommt und z.B. nicht von Grafik, Sound, Musik oder Story) keine klare Trennung zwischen Spaß und Lernen. Der Gameplay-Zyklus, den wir als "Spaß machend" empfinden ist doch nichts anderes als ein iterativer Lernprozess. Ich mache mir ein mentales Modell des Spielsystems, führe Aktionen aus (Input), bekomme Feedback dafür (Output), passe mein Modell (hoffentlich zum Besseren) an und so weiter. Die Sichtbarmachung dieses Lernprozesses und die so gegebene Möglichkeit, ihn an sich selbst zu beobachten, ist, was die Einzigartigkeit des Mediums ausmacht.
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Joss
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Joss »

Ich fasse den Begriff Spaß wesentlich weiter. Mein Begriff davon kann z.B. gerade an frustrierende Grenzen stoßen, wenn ich ein System so analysieren kann, wie du es schilderst. Also die Mechanik mir transparent machen und dann in meinem Sinne ausnutzen. Das akzeptiere ich nur als den ersten Schritt. Ab da, dem sich erschließen basaler Mechaniken, erwarte ich von einem Spiel, dass es mir die Mechaniken entzieht und ich in einen anhaltenden Fluß aus Experimentieren und Erforschen gerate. Hier setzt eine KI an. Illustrativer Versuch war die neue Version von Fritz 15, die an ihrem Motto (Ein neuer Fritz, ein neuer Freund") scheiterte und keine ausreichend intelligente Analytik - für ein (Zusammen)Spiel auf freundschaftlicher Grundlage gleichgewichteter Spielstärken - realisieren konnte.

Stellt man "keine klare Trennung zwischen Spaß und Lernen" als nicht weiter spezifiziertes Motto über das Spielen, sehe ich da kein Problem. Aber schon im nächsten Schritt gelangt man zu den Fragen, was verstehe ich unter Lernen und Bildung, wie rahmt und konkretisiert sich für mich Spaß. Viele haben Spaß am Leerlauf von Item-Spiralen oder an der grafischen Darstellung von Omnipotenz. Für mich ist die Exploration bedeutend, dass ein Spiel mich analysiert und täuscht, dass es mich also nicht einfach zum Rechnen bringt, sondern zum Bilden von Mutmaßungen und zu Experimenten motiviert.

Wenn es z.B. um Effizienz im temporalen Rahmen geht, dann stellt man einen Questgeber (Litfaßsäule) einfach ab oder unter. Er stellt mir erst die Aufgabe, an der ich mich zu bewähren habe, wozu hier investieren? Ich aber möchte den schon suchen, möchte mir die Frage stellen, so wie ich den Charakter einschätze (Mutmaßung), könnte er sich vielleicht dort und dort aufhalten. Ich forsche nun nach, entdecke ihn. Alles klar, ich habe meine Quest. Nun habe ich auch gelernt, wo er sich wann aufhält. Nun suche ich ihn mit meinem Wissenstand wieder auf, jetzt kommt der springende Punkt, und finde ihn aber nicht. Warum denn das, was funktioniert da mit meinem Modell nicht? Nun, ich finde ihn also endlich, und erfahre, dass er bei Vollmond (leider) nicht schlafen kann (oh Vollmond, tatsächlich) und dann stets spazierengeht. Na, das ist aber mal cool. Und beim nächsten mal erfahre ich dann vielleicht, dass er seine Schlaflosigkeit (hier würde ich mir beim Charakter ein Modell basalen Lernens wünschen) aufgrund einer mit anderen Elementen der Spielewelt möglichen Interaktionen, überwunden hat. Das Spiel überrascht mich an dieser Stelle. So wie unsere Mitmenschen uns ständig überraschen und wir das lieben und hassen, emotional darauf reagieren. Das Spiel verschwendet hier in jeder Hinsicht meine Zeit, der Tauschwert ist eine Geschichte, eine Anekdote. Im Spiel selbst muss sie nicht einmal positive oder negative Folgen für mich haben.
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Nachtfischer
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Nachtfischer »

Natürlich meinte ich mit diesem "mentalen Modell" nicht bloß die inhärente Komplexität des Spiels (also sprich alle Spielregeln). Die vollständig zu erfassen sollte vielmehr nur die absolute Initiationsphase umfassen. Erst danach - beim Entdecken der emergenten Komplexität, die aus der Kombination der Spielregeln erst dynamisch im System entsteht (Spieltiefe) - kann es wirklich losgehen mit dem Spielspaß. "Experimentieren und Erforschen" sowie das "Bilden von Mutmaßungen" passt von daher sehr gut zum von mir angesprochenen Gameplay-Zyklus, denn genau darin besteht dieser: Hypothesen formen -> testen -> Hypothesen annehmen/verwerfen/umformulieren.

Diesen "Spielspaß" fasse ich übrigens als spezielle Form von "Spaß" im Allgemeinen auf. Natürlich kann ich z.B. Spaß am Geräusch der Schritte des Hauptcharakters eines Spiels auf Asphalt haben. Dies ist aber ein Spaß, den ich genauso bei einem Film oder einem Hörspiel haben kann. Er ist nicht spielspezifisch. Gleiches gilt für die "grafische Darstellung" von Omnipotenz (auf die ja nicht wenige Filme bauen).

Zu deinem abschließenden Beispiel: Ich würde nicht sagen, dass das Spiel hier "in jeder Hinsicht deine Zeit verschwendet". In deiner Exploration besteht doch hier eine bedeutsame Form der Interaktion. Die angesprochene Effizienz bezieht sich auf die Vermittlung bedeutsamer Erlebnisse pro Zeit (Vermittlung von spielerischem Gegenwert). Wirklich Zeitverschwendung ist es beispielsweise wenn Questgeber wie du sagst "einfach untergestellt" sind und ich stupide ein Ausrufezeichen nach dem anderen ablaufen muss. Den Laufweg könnte ich mir getrost sparen, denn es passiert dabei nichts, das nicht vollkommen trivial wäre (ich ordne "den Analogstick in Richtung Ausrufezeichen drücken" jetzt mal in diese Kategorie ein).

Laufwege und die dutzenden Stunden Lebenszeit, die Spiele damit immer wieder verschwenden, sind übrigens ohnehin ein spannendes Thema. :P
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Joss
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Joss »

Wobei Spielen durchaus mit Gewinn der Eskapismus innewohnt. Spiele gehorchen primär dem Lustprinzip, sie entgrenzen auch immer. Wichtig für Debatten wie die über "Killerspiele". Man investiert immer auch in die Bereitschaft dazu, sich (und seine Zeit) zu verschwenden. Das kann man gut en contraire lesen, wo Spieler sich in den besonders zeitaufwendigen Online-Rollenspielen nach Jahren darüber beschweren, sie seien betrogen und getäuscht worden, womit sie sich implizit auf die investierte Zeit beziehen. Dabei wird dann rundweg unterschlagen, dass Spiele sich immer (nicht nur per AGB) von ihrer Wirkungsmacht entkoppeln (wenige Ausnahmen, z.B. die Epilepsiewarnung).

Daher oben auch meine Einwände gegenüber bestimmten Begriffen. Teile moderner Kriegsführung verwandeln sich heute dem Spiel an. Da sitzt jemand an einem Steuerungspult mit Stick und ist komplett entkoppelt von den realen Auswirkungen seines Handelns. Dennoch unterliegt die Tätigkeit der Wirkungsmacht des Realitätsprinzips, nicht nur in den Folgen für Dritte, sondern auch in den Anforderungen (an das Personal) und der Justiziabilität des Handelns am Stick und vor den Monitoren. "Ich wollte doch nur spielen" funktioniert dann nicht mehr, trotz aller Parallelen bei der Tätigkeit. Ähnliches gilt auch für das Hacken. Spiele ziehen demgegenüber schützende Grenzen ein. Diese betreffen das Produkt, den Produzenten und den Konsumenten. Eskapismus und Lustprinzip schaffen hier einen besonderen Freiheitsraum. Hier würde ich dann eben auch von Verschwendung sprechen, nicht negativ akzentuiert, sondern um die Grenzen zu anderen Lebensbereichen und Tätigkeitsfeldern zu markieren. Zur Qualifizierung dieser Verschwendung kann man dann gewiss viel diskutieren. Hier habe ich aus deinen Posts vor allem eine Verwandtschaft unserer Perspektiven entdeckt.
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Adahn
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Adahn »

Nachtfischer hat geschrieben:Ich sehe da beim Spielspaß (also dem, der tatsächlich vom interaktiven System kommt und z.B. nicht von Grafik, Sound, Musik oder Story) keine klare Trennung zwischen Spaß und Lernen. Der Gameplay-Zyklus, den wir als "Spaß machend" empfinden ist doch nichts anderes als ein iterativer Lernprozess. Ich mache mir ein mentales Modell des Spielsystems, führe Aktionen aus (Input), bekomme Feedback dafür (Output), passe mein Modell (hoffentlich zum Besseren) an und so weiter. Die Sichtbarmachung dieses Lernprozesses und die so gegebene Möglichkeit, ihn an sich selbst zu beobachten, ist, was die Einzigartigkeit des Mediums ausmacht.
Was genau ist daran denn bitte einzigartig. Das kann Holzhacken doch auch. Schon seit vorvorgestern. Und zum Sichtbarmachen kommt da sogar noch Fühlbarmachen hinzu! :lol:
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Nachtfischer »

Einzigartig sind die Komplexität der Systeme und die elaborierten Feedbackmöglichkeiten - eben das Design dahinter. Dadurch wird das ganze ja erst zum langfristigen Spaß und nicht zur repetitiven Arbeit. Holzhacken ist erstmal undesignt und ja dann doch recht schnell durchschaut. (Aber bis zu dem Punkt gebe ich dir Recht, kann es auch durchaus spielerisch Spaß machen. Und das tut es einigen sicher auch.)
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Adahn
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Adahn »

Hmm, mir fehlt da ehrlich gesagt noch einiges. Wenn ein Spiel mir nichts weiter bietet als komplexe Regeln und Feedbackmöglichkeiten, dann motiviert mich das nur 5 Minuten über den Zeitpunkt hinaus, an dem ich sie verstanden habe, also wenn meine mentale Repräsentation der Mechanismen mit denen im Spiel mehr oder minder übereinstimmt. Und selbst das nur in Ausnahmefällen. Ich habe noch kein einziges Spiel alleine für seine Spielmechanik gespielt, was du ja in einem anderen Post mal als ein Ziel von Spieleentwicklern genannt hast.

Ich würde dabei zu Bedenken geben, dass selbst so ein Spiel wie Climb your Friends, auch nicht primär durch seine Spielmechanik motiviert - obwohl es so simpel ist. Der Spaß kommt daher, dass man andere Spieler, am besten Freunde über Skype oder gleich vor Ort, übertrifft und sich über deren Misserfolge freut. Im Grunde wie auch beim Fifa oder PES zocken.
Und wenn man bei Pirates den Pixeln keine Flaggen und Namen gegeben hätte, hätten Jochen und Andre wohl auch da kaum langanhaltende Motivation gefunden, denn die kam ja, wie ich dem Podcast (No.28) entnehme, von den Erzählsträngen, die sie sich zusammengereimt haben. Streng genommen geht auch das über reine Spielmechanik hinaus.

Ich denke, man unterschätzt, wenn man ein Spiel erstmal nur über seine Mechanik definieren/schaffen will, das Suchen und Verlangen nach Bedeutung auf Seiten der Spieler - und überschätzt, auf der anderen Seite, den Wert dessen, was dabei herauskommt, wenn man sich weigert Sinnzusammenhänge und Bedeutung zu liefern.
Diablo 3 und Genrekollegen, beispielsweise gehören für mich in diese Sparte. Und obwohl ich eingestehen muss, dass ich dort schon hunderte Stunden verbracht habe, ärgere ich mich im Nachhinein über die vergeudete Zeit, in der ich auch ein Buch hätte lesen, oder "Auf ein Bier" hören können.
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Nachtfischer »

Adahn hat geschrieben:Wenn ein Spiel mir nichts weiter bietet als komplexe Regeln und Feedbackmöglichkeiten, dann motiviert mich das nur 5 Minuten über den Zeitpunkt hinaus, an dem ich sie verstanden habe, also wenn meine mentale Repräsentation der Mechanismen mit denen im Spiel mehr oder minder übereinstimmt.
Das geht sicher vielen so. Das liegt aber vor allem daran, dass die meisten Spiele bisher (und Videospiele insbesondere) nicht sonderlich gut sind. Selbst wenn sie mal komplexere Regeln haben, dann vergleichsweise wenig dahinter. Die Spiele sind breit, aber nicht tief. Hat man alle Regeln intus, hat man das Spiel im Prinzip durchschaut beziehungsweise schon eine sehr genaue Vorstellung davon, worauf es hinausläuft. Ein gutes Spiel wird dir aber jenseits des bloßen Auswendiglernens und Begreifens der Regeln noch eine lange Zeit (während seines gesamten Lebenszyklus) neue mechanische und strategische Zusammenhänge zu entdecken geben. Ein gutes Spiel ist leicht zu lernen (auf Regelbasis), aber (strategisch) schwer zu meistern. Oder in einem Wort: elegant.
Adahn hat geschrieben:Ich würde dabei zu Bedenken geben, dass selbst so ein Spiel wie Climb your Friends, auch nicht primär durch seine Spielmechanik motiviert - obwohl es so simpel ist. Der Spaß kommt daher, dass man andere Spieler, am besten Freunde über Skype oder gleich vor Ort, übertrifft und sich über deren Misserfolge freut.
Nicht "obwohl", sondern weil es so simpel ist. Es ist eben systemisch einfach nicht viel dahinter. Die große Challenge liegt in der Steuerung, die Abwechslung im mehr oder minder zufälligen Versagen der Mitspieler. Klar, als "Partyspiel", als Anheizer einer sozialen Form des Spaßes, taugt das schon mal. Aber große Game-Design-Kunst findest du hier natürlich nicht - genauso wenig wie Hangover ein cineastisches Meisterwerk ist. :P
Adahn hat geschrieben:Streng genommen geht auch das über reine Spielmechanik hinaus.
Definitiv. Für mich ist die Form der dynamischen Story-Generatoren im Grunde nochmal eine ganz andere. Da gehören Pirates (das übrigens daneben eher eine Art "Spielzeugkiste" mit zahlreichen kleineren enthaltenen Spielen ist), King of Dragon Pass oder Project Zomboid rein. Die sind spielerisch nicht wahnsinnig interessant, sondern leben von der Thematik. Am Ende werden sie nie so gute Geschichten erzählen, wie es ein Autor könnte oder auch ein guter Rollenspiel-Leiter. Ich denke eine große Rolle spielt da auch die Faszination der Marke: "Boah, schau mal, die Geschichte, die da von einer Maschine generiert wurde, ergibt ja sogar Sinn, wenn man sich nur ganz wenig dazu denkt!"
Adahn hat geschrieben:Ich denke, man unterschätzt, wenn man ein Spiel erstmal nur über seine Mechanik definieren/schaffen will, das Suchen und Verlangen nach Bedeutung auf Seiten der Spieler - und überschätzt, auf der anderen Seite, den Wert dessen, was dabei herauskommt, wenn man sich weigert Sinnzusammenhänge und Bedeutung zu liefern.
Ich sehe eigentlich immer wieder nur, dass der Wert und die Bedeutung einer guten Spielmechanik selbst und das, was sie menschenmöglich macht, unterschätzt wird. Spiele ohne Story oder zumindest irgendeine mehr oder minder tiefgreifende Meta-Aussage werden zumeist gar nicht erst ernst genommen, sondern als "kalt" und "nur so zum Spielen" abgetan.

Diablo 3 ist übrigens ein gutes Beispiel für ein Spiel, das mechanisch bestenfalls unterer Durchschnitt ist, aber durch andere Mechanismen (Stichwort: Skinner Box) Wege gefunden hat, die natürliche Reaktion auf die Interaktion mit uninteressanten interaktiven Systemen (Langeweile) zu umgehen. Und genau gegen solche Dinge kann man aus meinem Kunst/Design-Verständnis heraus dann auch wunderbar argumentieren.
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von derFuchsi »

Dieser eingangs erwähnte Individualismus der mit einer Art Personenkult einher geht kann aber auch furchtbar nach hinten los gehen.
Wer würde denn heute noch ein Spiel von Peter Molyneux kaufen wollen. Selbst wenn es zur Abwechslung mal toll sein sollte. Der Name ist verbrannt.

John Romero hat nach DOOM nichts richtiges mehr auf die Reihe bekommen und zehrt heute noch davon. Mit Daikatana hat er seinen guten Ruf damals ziemlich ruiniert und die letzte Kickstarterkampagne war ein Desaster.

Andersrum sehen wir Gerade dass ein DOOM auch ohne Romero hervorragend sein kann.

Aber natürlich ist es irgendwo schade dass man zumeist keine "persönliche Handschrift" mehr erkennt. Liegt aber wie gesagt wohl daran dass keine "Person" mehr dahinter steckt. Früher waren Spiele eben auch einfacher zu produzieren. Zu Zeiten als die bekannten Namen groß wurden hat man zum Teil Spiele noch alleine programmiert. Das geht heute höchstens im Indie Bereich wieder. Ob es da nochmal solche "Popstars" geben wird weiß ich nicht. Aufgrund der riesigen Konkurrenz vermutlich nicht mehr.
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Re: Spiele und die fehlende Individualität

Beitrag von Nachtfischer »

derFuchsi hat geschrieben:Wer würde denn heute noch ein Spiel von Peter Molyneux kaufen wollen. Selbst wenn es zur Abwechslung mal toll sein sollte.
Würde ich ehrlich gesagt sofort machen. Ist mir in dem Fall doch egal, ob der Mann in der Vergangenheit fragwürdige kreative Entscheidungen getroffen hat. Das einzige, was dadurch beeinflusst wird, ist meine Einschätzung, wie wahrscheinlich es ist, dass in Zukunft etwas Tolles von ihm kommt.
Aber natürlich ist es irgendwo schade dass man zumeist keine "persönliche Handschrift" mehr erkennt. Liegt aber wie gesagt wohl daran dass keine "Person" mehr dahinter steckt. Früher waren Spiele eben auch einfacher zu produzieren. Zu Zeiten als die bekannten Namen groß wurden hat man zum Teil Spiele noch alleine programmiert. Das geht heute höchstens im Indie Bereich wieder. Ob es da nochmal solche "Popstars" geben wird weiß ich nicht. Aufgrund der riesigen Konkurrenz vermutlich nicht mehr.
Das ist ein interessanter Punkt. In der Programmierung sehe ich allerdings weniger die Probleme als im Design-Bereich. Gerade bei den großen AAA-Produktionen sitzen ja in der Regel zig Designer an unterschiedlichen Teilen des Spiels, was dann oft in recht zerfahrenem Stückwerk resultiert. Im Gegensatz dazu ist es bei Brettspielen üblich, dass wirklich nur ein oder zwei Namen als Autoren auf der Box stehen, was sich dann auch in den oft sehr viel kohärenteren (und auch originelleren) Designs äußert.
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