@Andre: Kann mich da durchaus wiederfinden in deinem Post, leider gibts auch im niedergelassenen Bereich zu viele Ärzte, die haarsträubende Dinge verschreiben (letztens erst einen Patienten gesehen, der mit massiv niedrigem Blutdruck vorstellig wurde, weil er vom Hausarzt eine Pferdedosis Diuretika verschrieben bekommen hat) bzw. übersehen. Hausärzte sind auch oft in der beschissenen Situation, dass sie eben nicht pro Stunde bezahlt werden, sondern für ihre Leistungen. Da die wichtigsten Leistungen in der hausärztlichen Betreuung (primär das Anamnesegespräch und die körperliche Untersuchung) praktisch nicht bezahlt werden, sind viele gezwungen, auf die von dir angesprochenen alternativen Einnahmequellen zurückzugreifen. Manche sind auch nicht gezwungen, und sind primär "in it for the money". Die traurige Wahrheit ist, dass es zu viele kranke Menschen gibt, um Arschlöchern eine Arztkarriere zu verbieten. Im Krankenhaus kannst du aber durchaus auch auf Inkompetenz und taube Ohren stoßen (leider).
Es ist sicherlich nicht so, dass in diesen Situationen nur der Patient schuldig ist, das Problem ist zum Großteil systemisch. Imo fängt das beim Bildungssystem an: Es ist mMn unerhört, dass mündige, "gebildete" Menschen die einfachsten Zeichen ihres Körpers nicht lernen, zu deuten. Jeder sollte wissen, was ein Aspirin und Antibiotika machen, jeder sollte wissen, wo die Leber im Körper steckt. Jeder soll ein Gefühl dafür haben, was tendentiell ein Notfall sein könnte und was nicht. Ich hab Patienten erlebt, die mit Herzinfarkt zu Fuß ins Krankenhaus kommen weil die Rettung "für die wirklich Kranken ist" und am selben Tag Patienten gesehen, die sich mit Kopfschmerzen von der Rettung liegend ins Krankenhaus liefern ließen, weil sie den ganzen Tag nichts gegessen haben. Meanwhile wartet eine akute Gehirnblutung auf ihre Rettung. Und letztlich sollte jeder auch darin geschult werden, wie genau das Gesundheitssystem an sich funktioniert, welche Rechte man beim Arzt hat, welche Pflichten und Aufgaben der (Haus-)Arzt hat, aber auch welche Aufgaben und Pflichten man selbst als Bürger in einem Sozialstaat hat. Ich will natürlich nicht, dass die Leute weder zum Hausarzt noch zum Krankenhaus gehen. Ich will aber, dass nicht die bequeme Variante gewählt wird, weil gerade Wochenende ist und man abends ja noch ins P1 gehen will. Man kommt sich halt schon irgendwie verarscht vor, wenn man in einer Notfall(!)ambulanz erst vorgejammert bekommt, wie schlecht es einem geht und dann im nächsten Satz gefragt wird, ob man mit den Medikamenten noch saufen gehen kann. Vielleicht klingt das jetzt alles furchtbar herablassend, aber das ist in meinem Verständnis eines Sozialstaats absolut inadäquates Verhalten und wortwörtlich asozial. Im Gang wartet möglicherweise ein "echter" Notfall.
Das Anstürmen der Notfallambulanzen hat auch ganz andere Folgen. Wer ein Mal in einem Nachtdienst für 300 Patienten (von denen er nur 20 kennt) quasi allein zuständig war, vergisst das nicht so schnell. Wenns weniger Leute gäbe, die tagsüber wegen Lappalien in die NFA kommen, könnte man die Nachtdienstkontingente evtl. aufstocken, Ein-Tages-Betten in den Ambulanzen integrieren, etc., aber so...
Ich kann und will nicht schlechte (haus-)ärztliche Betreuung entschuldigen, sie ist aber momentan ob der Herausforderungen im Gesundheitssystem sehr schwer vom System kontrollierbar. Meine Hoffnung ist, dass die Leute sich untereinander austauschen und somit die schlechten Ärzte ganz organisch (um nicht zu sagen homöopathisch
) an den Rand gedrängt werden. Yelp-reviews können aus Sicht des Arztes sehr frustrierend und unfair sein, aber zumindest haben die Leute mit dem Internet zumindest irgendeine Chance, *irgendwie* zu selektieren. Möchte auch ganz klar sagen: Erfahrungen wie die von dir geschilderte sind absolut inakzeptabel und dürfen nicht vorkommen, ever. Dass hier auf hausärztlicher Seite nicht früh an eine Koloskopie gedacht wurde (die ab einem gewissen Alter ohnehin allen Patienten, auch den beschwerdefreien, nahegelegt werden soll) bricht mir das Herz, als Arzt und Privatmensch. Die Alternative soll *gute* hausärztliche Betreuung (oder, was wohl die Zukunft ist, gute Betreuung in einem primary healthcare center) sein, nicht die NFA. Das wird jetzt sehr hart klingen, aber ich kenn Notfallmediziner, die bei den Worten "seit 2 Monaten" fast schon augenblicklich den Patienten die Hand reichen mit den Worten "Wir behandeln akute Notfälle, auf Wiedersehen." Ich bin überhaupt kein Fan von diesem Umgang mit Menschen, aber ich versteh schon, wo sie herkommen. Sie tun das nicht, weil sie Unmenschen sind, die einem nicht helfen wollen, sondern weil sie nicht wissen, ob gerade jemand auf dem Weg ist, der seit 15 Minuten wegen einer Aneurysmaruptur unheimliche Kopfschmerzen hat und akute (!) Hilfe braucht. Dafür sind sie nämlich da. Ein Tumorpatient soll unbedingt eine möglichst frühe, schnelle Diagnose und Therapie erhalten, aber hier gehts nicht um Minuten. Bei einem Schlaganfall schon. "Time is brain", wie man so schön sagt.
Wenn wirklich alle Stricke reißen, der 4. niedergelassene Arzt eine Null ist und man nicht mehr weiter weiß, während der Leidensdruck steigt, kann ich aber absolut verstehen, wenn man in seiner Verzweiflung ins Krankenhaus geht. Glaub mir, als Arzt kennt man ohnehin die schrecklichsten Geschichten in Sachen beschissene (haus-)ärzliche Betreuung. Wenn man sich da emotional einlässt, stirbt man monatlich tausend Tode bei den Patientenschicksalen, die man so mitbekommt. Ich wünsch mir ja nur eine gesunde Mitte in der Art und Weise, wie Patienten innerhalb dieses Systems agieren. Dass das Gesundheitssystem noch eine ganze Palette anderer Probleme hat (die von dir angesprochenen inkl.) möcht ich im Leben nicht verleugnen.