wiesl hat geschrieben: ↑1. Dez 2022, 09:11
Im Bezug auf Wednesday verstehe ich deine Kritik, würde aber durchaus Tim Burton (oder wer auch immer dahinter steht) zugestehen, dass sie frei sind in ihrer Interpretation des alten Stoffes. Wenn sie dazu verdammt sind, lediglich "Nostalgieansprüche" zu befriedigen, fällt die Kreativität als erstes auf den Boden des Schnittraums.
Dem möchte ich massiv widersprechen. Und ich frage mich woher wieder das Ding mit den "Nostalgieansprüchen" kommt. Sondern meine Meinung ist: Wenn ihr eine Marke nehmt, modernisiert sie gern - aber belasst den
inhaltlichen Kern der Marke! Um das zu verdeutlichen, muss ich nun leider weiter ausholen und einen Wall of Text schreiben. Nämlich über die 60er Jahre Serie, die sich ja recht eng an die Werke des Cartoonisten Charles Addams gehalten hat. Wissen viele ja gar nicht, dass die Addams in den 1940er und 50er Jahren gesellschaftskritische Comics waren.
Bevor ich aber über die 60er Jahre Serie schreibe, muss man auch den medial-gesellschaftlichen Kontext nennen. Das kann jeder einfach selbst tun, in dem man mal ganz furchtbare Daily Serien jener Zeit sich anschaut. I Love Lucy, Flipper, Lassie und ähnliche Serien. Was für furchtbare Familienwerte diese Serien transportieren, die ja damals auch gesellschaftlich gewünscht waren. Also die Frau hat natürlich schön und sexy zu sein (in den 60ern liefen viele Frauen in den US-Serien z.B. immer in kurzen Miniröcken rum), gleichzeitig aber auch die brave Hausfrau und Mutter. Der Mann hat arbeitsam, fleißig und erwachsen zu sein. Der Familienernährer. Und genauso waren auch die Rollenverteilungen an die Kinder. Jungs sollten sportlich sein, ihn wurde zugestanden "abenteuerlustig" und aktiv zu sein. Und Mädchen sollten schön brav und nett und ruhig sein.
Das muss man sich vergegenwärtigen, wenn man die 60er Jahre Serie sich anschaut. Gibt es leider nirgendswo im legalen Streaming. Man kann sich aber die DVDs kaufen. Die UK Gesamtedition gibt es bspw. für 30€ bei Amazon. Jedenfalls wird in der 60er Jahre Serie ein komplett gegenteiliges Bild gezeichnet. Also die Menschen, die die Addams verkörpern sind keine hässlichen Menschen, entsprechen aber nicht die Schönheitsidealen jener Zeit. Pugsley ist ein eher pumeliger Junge, der auch nicht sonderlich aktiv ist sondern lieber zuhause spielt. Mit Wednesday werden damaligen Rollenklischees an Mädchen auf wundervolle Weise persifliert, in dem sie auf nette, lapidare Weise immer davon erzählt, wie sehr sie ihren Bruder oder Nachbarskinder mit der Guillotine köpfen oder andere Grausamkeiten antun würde. Ganz wichtig dabei: Es wird nie gezeigt und sie tut es auch nie. Es sind einfach nur Fantasien, die die kleine Wednesday hat - und es ist ein schwarzhumoriger Kommentar zu den Werten mit den damalige Mädchen erzogen wurden.
Kommen wir zu Gomez. Der sich zwar gerne als Familienoberhaupt sieht, aber er weiß, dass seine Frau Morticia dies eigentlich ist. Gomez ist wunderbar verspielt, experimentierfreudig, sehr exzentrisch. Da die Addams sehr wohlhabend und reich sind, geht er keiner geordneten Arbeit nach. Also er entspricht dem Gegenteil der gesellschaftlichen Ansprüche an Männer.
Und dann wäre Morticia. Schon allein ihre Kleidung ist eine komplette Abkehr damaliger Schönheitsideale. Sie trägt immer ein langes, schwarzes Kleid und ist stilvoll geschminkt. Das einzige was man von ihrem Körper sieht ist ein äußerst dünner Ausschnitt, der nochmal unterstreicht dass das Kleid bewusst den ganzen Körper verhüllt. Wie gesagt: Mode der 60er Jahre betrug ja Miniröcke und all das. Zwar gilt ihr Stil ab den 70ern, spätestens der 80er Jahre als stilikonisch - das war aber von den Machern überhaupt nicht intentiert. Der Modegeschmack hat sich einfach nur geändert.
Dazu ist Morticia für die Finanzen der Familie verantwortlich, sie hält den Laden am laufen. Man sieht sie NIE bei einer klassischen Haushaltstätigkeit wie Kochen oder sauber machen (immerhin haben die Addams ja mit Lurch einen Butler), sondern es wird ein Bild einer äußerst selbstbewussten, unabhängigen und ebenso exzentrischen Frau gezeichnet. Und das ist es, was alle Familienmitglieder gemeinsam haben: Einen verschrobenen Hang zur Exzentrik und zur Morbidität. Wobei Morticia immer wieder darauf drängt, dass das nur Fantasien zu sein haben. Insbesondere zu Onkel Fester sagt sie sehr häufig "Gewalt ist nicht unser Stil".
Und was machte die Serie nun daraus? Eine äußerst schwarzhumorige Satire auf den damaligen Zeitgeist, auf die damaligen Werte der Gesellschaft, auf die Medien und vieles weitere mehr. Sehr häufig kommt es beispielsweise vor, dass die Addams Besuch von "Normalos" bekommen. Eigentlich gelten ja die Addams als Abschaum in der Nachbarschaft, aber sie sind halt auch sehr wohlhabend und es wird immer wieder versucht die Gastfreundschaftlichkeit und ehrlich gemeinte Freundlichkeit der Addams auszunutzen. Das geht natürlich immer schief und die Gäste fliehen am Ende der Episoden. Aber eben nur oberflächlich vor der verschrobenen Exzentrik dieser Familie. Sie fliehen immer dann, wenn ihnen der Spiegel vorgezeigt wird. Sie also ihre eigene Verlogenheit und Pseudo-Moral gespiegelt bekommen. Und genau das inszenierte die Serie regelmäßig so zielsicher. Auch wird sich häufig und gerne über damalige Sitten lustig gemacht. Etwa wenn Morticia zu Wednesday sagt, dass man vor Jungs einen Knicks zu machen hat und Wednesday darauf erwidert, dass das im Kleid ja gar nicht möglich ist und Morticia grinsend sagt: "Ist ja auch nicht so wichtig." Gleichzeitig wird eben auch immer wieder das Bonding der Familienmitglieder zueinander thematisiert. Dass sie sich in ihren Marotten so nehmen, wie sie eben sind. Auch wenn es anstrengend wie bei Onkel Fester sein kann.
In der Gesamtbetrachtung ist insbesondere die 60er Jahre Serie seiner Zeit um mehrere Jahrzehnte so weit voraus in Sachen Emanzipation, Werte wie freiheitliche Individualität und Gesellschaftskritik.
Tja, und was macht nun die Netflix-Serie draus? Eigentlich unterstreicht sie ja den Vorurteilen der Normalos aus der 60er Jahre Serie, in dem man Wednesday tatsächlich als eine zynische, kalte Mörderin präsentiert. Und DAS ist mein großes Problem mit der Netflix-Serie. Es pervertiert die sehr humanistischen Werte der damaligen Comics von Charles Addams und der 60er Jahre Serie auf wirklich groteske Weise. Es kehrt also den
inhaltlichen Kern der Addams Family ins Gegenteil um! Davon abgesehen: Wieso sollte ich mit einer zynischen Mörderin auch nur irgendeine Form von Sympathie entwickeln oder mit ihr mitfiebern?
Es wäre gar keine schlechte Idee gewesen eine Serie über Wednesday in ihren Teenie-Jahren in der Neuzeit zu produzieren.
Aber dann hätte man trotzdem den inhaltlichen Kern unangetastet lassen müssen. Warum also nicht eine Serie über ein exzentrisches Mädchen, die eine Außenseiterin ist. Die wie ihre Mom einen Hang zum Morbiden hat, auch entsprechende Fantasien wie sie als Kind schon hatte. Aber es bleiben nur Fantasien. Und anders als so viele Erzählungen in Hollywood über Außenseiter unterwirft sie sich eben NICHT normativen und gesellschaftlichen Erwartungen und Werten. Sondern es wird als was positives dargestellt eben bei weitem nicht perfekt zu sein. Weder vom Aussehen, noch vom eigenen Geschmack. Eben eine
wirkliche Identifikationsfigur für junge Mädchen die ebenso Außenseiter sind. Das kann man auch auf moderne Weise inzensieren, aber es wäre immer noch der eigentliche Kern der Addams Family!