COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

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HerrReineke
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von HerrReineke »

Jochen Gebauer hat geschrieben: 30. Nov 2021, 13:23 Das Verfassungsgericht gibt leider ein trauriges Bild ab. Wenn ein Rechtsstaat elementare Grundrechte einschränkt oder aufhebt, dann hat ein Verfassungsgericht die Legitimität dieser Maßnahmen nicht erst Monate später festzustellen. Dass das jetzt wie ein nachträglicher, regierungskonformer Blanko-Scheck aussieht, hat sich das Gericht selbst zuzuschreiben - es ist nämlich einer. Das Versagen des Verfassungsgerichts in dieser Situation ist für mich nach wie vor die erschreckendste politische Entwicklung der ganzen Pandemie. Hier hat sich ein fundamentales Werkzeug der Demokratie freiwillig selbst ausgeschaltet. Auch wenn ich mit Lockdowns et al voll d'accord gehe, das Verfassungsgericht unter Harbarth ist eine reine Karrikatur. War bei der Vita aber eh nicht anders zu erwarten ...
Dem würde ich deutlich widersprechen wollen. Zum einen gab es hierzu längst Entscheidungen, nämlich die im Eilverfahren. Die "Bundesnotbremse" wurde am 22. April 2021 verabschiedet. Die erste Eilentscheidung zu den nächtlichen Ausgangssperren kam bereits am 5. Mai (Beschluss im Volltext; Bericht bei LTO), zu vielen weiteren Aspekten der "Bundesnotbremse" gab es dann weitere Eilentscheidungen am 20. Mai (Beschluss im Volltext; Bericht bei LTO).
Das hat also keinen Monat gedauert, bis da eine grundsätzliche Entscheidung schonmal getroffen war: Es ist verfassungsrechtlich unerträglich was hier passiert? Müssen wir das sofort aussetzen? Oder ist es in Ordnung sich hier die Zeit zu nehmen und es im Detail zu machen und solange weiter laufen zu lassen? Oder vereinfacht und platt formuliert, was wäre schlimmer: Jetzt die Maßnahmen beenden und hinterher merken, dass die doch okay waren, oder jetzt weiterlaufen lassen und hinterher merken, dass die doch nicht okay waren?

Denn dass da eine Hauptentscheidung nicht innerhalb von einem Monat kommen kann halte ich weder für verwunderlich, noch für notwendig. Denn zum einen müssen die Verfahrensbeteiligten ja die Chance haben, sich dazu zu äußern. Wenn man sich die heutigen Entscheidungen anschaut (hier im Volltext zu den Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie hier im Volltext zu den Schulschließungen) sieht man z.B., dass allein die Randnummern 51 - 82 bzw. 14 - 23 sich mit den Stellungnahmen von Äußerungsberechtigten und sachkundigen Dritten befassen. Die müssen angeschrieben werden mit einem durchaus umfassenden Fragenkatalog und dann auch die Chance haben, darauf substantiiert zu antworten. Das geht nicht in wenigen Tagen. Es ist aber zugleich notwendig, damit das BVerfG seine Entscheidung aufgrund von wissenschaftlich fundierten Fachkenntnissen treffen kann und nicht nur anhand von dem, was die Richter:innen sich selbst haben anlesen können. Die Süddeutsche hat einen ganz guten Beitrag dazu verfasst, was das BVerfG sich da teilweise für enorme Mühen macht, was für Fragen es geklärt haben will und wen es so anfragt. Das sind die Fragen zu dem Verfahren über die Schulschließungen, wo z.B. auch entwicklungspsychologische Fragen gestellt werden oder es mit darum geht, ob Kindern möglicherweise Schutzräume vor Misshandlungen im familären Umfeld entzogen werden könnten etc.

Dann kommen natürlich noch so Sachen dazu wie die Tatsache, dass das BVerfG erst noch darüber hat entscheiden müssen, ob ggf. manche ihrer Richter:innen in dem Verfahren befangen sind (Volltext der Entscheidung). Auch das frisst natürlich Zeit und muss geschehen, bevor die Hauptsache entschieden wird.

Insgesamt ist es natürlich nicht super geil, wenn zwischen einer Maßnahme und der Entscheidung des BVerfG in der Hauptsache dazu gut sieben Monate ins Land ziehen. Aber ehrlicherweise ist das schon verdammt schnell dafür, was da geleistet wird. Dass man bei Verfassungsbeschwerden normalerweise eher so um die zwei Jahre auf eine Reaktion des BVerfG warten muss ist natürlich kein toller Zustand. Aber ich habe sehr viel lieber ein Gericht, dass sich in den Hauptsacheentscheidungen viel Mühe macht und dabei dann etwas länger braucht, als im Gegensatz dazu mehr "Schnellschüsse". Die Möglichkeit von Eilentscheidungen gibt es weiterhin. Das halte ich daher auch für insgesamt ausreichend.

Dass ich mit Harbarth nichts anfangen kann und ihn vielleicht nicht so gerne als Präsident des BVerfG sehe ist dafür eine ganz andere Frage. Insbesondere ist aber weder das Entscheidungstempo generell noch die allgemeine Ausrichtung des BVerfG dessen "Schuld". Ich sehe nicht, dass jemand anderes auf dem Posten hier an dieser Stelle irgendetwas geändert hätte.
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Santiago Garcia
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Santiago Garcia »

Kann mir jemand erklären, warum sich jetzt viele an Hr. Harbarth abarbeiten? Ich hab den Namen zwar schon mal gehört, aber außer seiner Funktion weiß ich praktisch nichts über den Mann.
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Jochen Gebauer
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Jochen Gebauer »

HerrReineke hat geschrieben: 30. Nov 2021, 14:56Insgesamt ist es natürlich nicht super geil, wenn zwischen einer Maßnahme und der Entscheidung des BVerfG in der Hauptsache dazu gut sieben Monate ins Land ziehen
Ich finde das nicht nur nicht super geil, sondern in diesem konkreten Fall grob fahrlässig. Die mit weitem Abstand eklatantesten Einschränkungen von Grundrechten in der Geschichte der BRD werden vom Verfassungsgericht monatelang - wenn überhaupt - nur in Einzelaspekten beurteilt. Das halte ich rechtsstaatlich für einen indiskutablen Zustand. Wenn eine Regierung ganz bewusst und ganz offen die Verfassung bricht und das mit Verhältnismäßigkeit begründet, dann hat das Verfassungsgericht nicht sieben Monate lang höchstens wenige Einzelaspekte zu beurteilen.
Santiago Garcia hat geschrieben: 30. Nov 2021, 15:19 Kann mir jemand erklären, warum sich jetzt viele an Hr. Harbarth abarbeiten? Ich hab den Namen zwar schon mal gehört, aber außer seiner Funktion weiß ich praktisch nichts über den Mann.
Lies nur mal seinen Wikipedia-Eintrag. Dann weißte gleich Bescheid ;)
Rince81
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Rince81 »

Jochen Gebauer hat geschrieben: 30. Nov 2021, 15:32 Wenn eine Regierung ganz bewusst und ganz offen die Verfassung bricht und das mit Verhältnismäßigkeit begründet, dann hat das Verfassungsgericht nicht sieben Monate lang höchstens wenige Einzelaspekte zu beurteilen.
Einen "verhältnismäßigen" Verfassungsbruch gibt es nicht, der ist, sofern erfolgt, absolut. Wo hat die Bundesregierung so argumentiert? Du drehst hier das komplette Verfahren auf den Kopf bzw. nimmst dein Urteil als Maßstab vorweg.
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HerrReineke
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von HerrReineke »

Jochen Gebauer hat geschrieben: 30. Nov 2021, 15:32
HerrReineke hat geschrieben: 30. Nov 2021, 14:56Insgesamt ist es natürlich nicht super geil, wenn zwischen einer Maßnahme und der Entscheidung des BVerfG in der Hauptsache dazu gut sieben Monate ins Land ziehen
Ich finde das nicht nur nicht super geil, sondern in diesem konkreten Fall grob fahrlässig. Die mit weitem Abstand eklatantesten Einschränkungen von Grundrechten in der Geschichte der BRD werden vom Verfassungsgericht monatelang - wenn überhaupt - nur in Einzelaspekten beurteilt. Das halte ich rechtsstaatlich für einen indiskutablen Zustand. Wenn eine Regierung ganz bewusst und ganz offen die Verfassung bricht und das mit Verhältnismäßigkeit begründet, dann hat das Verfassungsgericht nicht sieben Monate lang höchstens wenige Einzelaspekte zu beurteilen.
Aber das ist ja gerade nicht das, was passiert ist. Ob es einen "bewussten und offenen" Verfassungsbruch gab wurde sehr schnell, in weniger als einem Monat, teilweise innerhalb weniger Tage, zu diversen Aspekten verneint (und damit insgesamt umfassend: Denn bei dem Rest wurde meines Wissens nie ernsthaft diskutiert, dass das offensichtlich verfassungswidrig sei). Wäre ein Verfassungsbruch so offensichtlich gewesen, wäre hier an der Stelle ein erster Schlussstrich gesetzt und diese Maßnahmen beendet worden. Das war aber nicht der Fall. Und dann hat man sich danach sehr detailiert damit auseinandergesetzt, ob der - praktisch extrem schwere - Ausgleich von diversen Grundrechten insgesamt auch in seinen Feinheiten okay war. Das hat dann nochmal sechs Monate gedauert.

Dass teilweise nur Einzelapsekte beleuchtet werden in den verschiedenen Beschlüssen liegt einfach auch daran, dass die Kläger:innen teilweise auch nur Einzelaspekte angreifen. Alles was gut zusammen passt wird dann gemeinsam in Einem abgearbeitet, aber damit bleiben faktisch am Ende trotzdem noch unterschiedliche Verfahren mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

Wäre es grob fahrlässig, wenn das BVerfG monatelang zuschaut wie "eine Regierung ganz bewusst und ganz offen die Verfassungs bricht" und gar nichts macht? Ja. Aber das ist halt genau nicht passiert :shock:
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Jochen Gebauer
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Jochen Gebauer »

HerrReineke hat geschrieben: 30. Nov 2021, 15:49Wäre es grob fahrlässig, wenn das BVerfG monatelang zuschaut wie "eine Regierung ganz bewusst und ganz offen die Verfassungs bricht" und gar nichts macht? Ja. Aber das ist halt genau nicht passiert :shock:
Wenn ich Grundrechte massiv einschränke, breche ich selbstverständlich erstmal die Verfassung. Die Frage ist dann: Ist dieser Bruch in seiner Summe verhältnismäßig, also legitim. Diese Frage hat das Verfassungsgericht de facto erst nach sieben Monaten entschieden. Und ich bin ja bei Gott nicht der einzige, der das völlig indiskutabel findet. Gibt genug Verfassungsrechtlicher, die das ähnlich oder analog sehen.

Aber anyway, Hundeplatz und Chinaessen. Prioritäten! :mrgreen:
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Rince81 »

Jochen Gebauer hat geschrieben: 30. Nov 2021, 15:57 Wenn ich Grundrechte massiv einschränke, breche ich selbstverständlich erstmal die Verfassung. Die Frage ist dann: Ist dieser Bruch in seiner Summe verhältnismäßig, also legitim.
Der kleine Jurist in mir schreit gerade verzweifelt. Nein, ganz, ganz grundlegend nein. Ist der Eingriff in ein Grundrecht verfassungsmäßig gerechtfertigt wird die Verfassung gerade nicht gebrochen. Das ist wirklich grundlegend.
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Santiago Garcia
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Santiago Garcia »

Jochen Gebauer hat geschrieben: 30. Nov 2021, 15:57 Gibt genug Verfassungsrechtlicher, die das ähnlich oder analog sehen.
Wer sind die denn und was schreiben die so?
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Jochen Gebauer
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Jochen Gebauer »

Rince81 hat geschrieben: 30. Nov 2021, 16:08Der kleine Jurist in mir schreit gerade verzweifelt. Nein, ganz, ganz grundlegend nein. Ist der Eingriff in ein Grundrecht verfassungsmäßig gerechtfertigt wird die Verfassung gerade nicht gebrochen. Das ist wirklich grundlegend.
Natürlich ist sie dann juristisch nicht gebrochen, weil sich die Justiz des semantischen Tricks bedient, den Bruch zum Nicht-Bruch zu erklären.

Ich spreche aber von etwas anderem.
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HerrReineke
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von HerrReineke »

Jochen Gebauer hat geschrieben: 30. Nov 2021, 15:57
HerrReineke hat geschrieben: 30. Nov 2021, 15:49Wäre es grob fahrlässig, wenn das BVerfG monatelang zuschaut wie "eine Regierung ganz bewusst und ganz offen die Verfassungs bricht" und gar nichts macht? Ja. Aber das ist halt genau nicht passiert :shock:
Wenn ich Grundrechte massiv einschränke, breche ich selbstverständlich erstmal die Verfassung. Die Frage ist dann: Ist dieser Bruch in seiner Summe verhältnismäßig, also legitim. Diese Frage hat das Verfassungsgericht de facto erst nach sieben Monaten entschieden. Und ich bin ja bei Gott nicht der einzige, der das völlig indiskutabel findet. Gibt genug Verfassungsrechtlicher, die das ähnlich oder analog sehen.
Wenn ich Grundrechte einschränke, dann ist das erstmal nur eines: Die Beeinträchtigung eines Grundrechts. Eine Beeinträchtigung kann gerechtfertigt sein. Wenn sie das ist, dann liegt keine Verletzung der Verfassung vor (vulgo: Kein Verfassungsbruch) - sondern alles ist so, wie es sein soll (Stichwort: Praktische Konkordanz). Nur wenn eine Beeinträchtigung nicht gerechtfertigt ist - und ein Bestandteil der Rechtfertigungsprüfung ist die Verhältnismäßigkeit, aber halt auch nur ein Bestandteil von mehreren - dann liegt eine Verletzung des Grundrechts vor. Und Grundrechte zu verletzen kann man dann auch als "Verfassungsbruch" bezeichnen.

Die Verfassung wird definitiv nicht alleine dadurch "gebrochen", dass ein Grundrecht lediglich gerechtfertigt beeinträchtigt wird :shock:

Edit:
Jochen Gebauer hat geschrieben: 30. Nov 2021, 16:25 Ich spreche aber von etwas anderem.
Okay, jetzt bin ich komplett ratlos, von was genau du sprichst :? Wenn wir uns terminologisch nicht einig werden könnte es schwer werden uns inhaltlich nachzuvollziehen xD Für dich ist Verfassungsbruch = Beeinträchtigung? Und ein Bruch kann aber dadurch "geheilt" werden, dass er gerechtfertigt (also u.a. auch verhältnismäßig) ist? :?:
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Felidae
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Felidae »

Nach allem, was ich in den letzten anderthalb Jahren gelernt habe, geht es bei der Grundrechte-Einschränkung im Zusammenhang mit Covid19 um eine Abwägung. Es ist eben nicht auf jeden Fall so, dass die Verfassung gebrochen wurde - sondern die Frage war, ob einzelne Grundrechte eingeschränkt wurden, um dafür andere zu gewährleisten. Wenn dies zutrifft, kann ja rein logisch kein Verfassungsbruch als solcher vorliegen. Oder er wäre unvermeidbar - da der Staat in dieser Situation nicht sowohl Grundrecht A als auch Grundrecht B garantieren kann. In diesem konkreten Fall war es halt die Abwägung "Versammlungsfreiheit" etc. <-> "Schutz der körperlichen Unversehrtheit".

Diese Abwägungen kennen grade wir Spieler:innen doch aber zur Genüge - beim Thema "Kunstfreiheit" vs. "Jugenschutz" läuft es ja auch darauf raus.
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Jochen Gebauer
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Jochen Gebauer »

Was ich meine: Wenn eine Legislative Grundrechte massiv einschränkt, bricht sie de facto erst einmal die Verfassung. Denn sie kann und darf ja gar nicht entscheiden, ob dieser Eingriff rechtmäßig ist.

Wenn nun das Verfassungsgericht sagt, war alles ok, dann erklärt es den Eingriff rückwirkend de jure zu einem Nicht-Bruch.

Ich verstehe schon, wie das juristisch läuft, aber de facto befanden wir uns jetzt sieben Monate lang in einem Zustand des theoretischen Verfassungsbruchs, bis das Gericht urteilte, war keiner. Denn bis heute war die Notbremse eine Katze vom Schrödinger. Gleichzeitig Bruch und Nicht-Bruch.

Und diese sieben Monate finde ich angesichts der Tragweite der Einschränkungen und der handfesten Auswirkungen auf die Existenz sehr vieler Menschen indiskutabel lang.
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HerrReineke
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von HerrReineke »

Jochen Gebauer hat geschrieben: 30. Nov 2021, 16:48 Was ich meine: Wenn eine Legislative Grundrechte massiv einschränkt, bricht sie de facto erst einmal die Verfassung. Denn sie kann und darf ja gar nicht entscheiden, ob dieser Eingriff rechtmäßig ist.

Wenn nun das Verfassungsgericht sagt, war alles ok, dann erklärt es den Eingriff rückwirkend de jure zu einem Nicht-Bruch.

Ich verstehe schon, wie das juristisch läuft, aber de facto befanden wir uns jetzt sieben Monate lang in einem Zustand des theoretischen Verfassungsbruchs, bis das Gericht urteilte, war keiner. Denn bis heute war die Notbremse eine Katze vom Schrödinger. Gleichzeitig Bruch und Nicht-Bruch.

Und diese sieben Monate finde ich angesichts der Tragweite der Einschränkungen und der handfesten Auswirkungen auf die Existenz sehr vieler Menschen indiskutabel lang.
Die Legislative bricht im Normalfall nie die Verfassung, da das was sie tut, im Rahmen der Verfassung erlaubt ist (Ausnahme: Verfassungswidrige Gesetze, die trotzdem von der Legislative beschlossen werden, was natürlich vorkommt und extrem scheiße ist, in Anbetracht der Masse an Gesetzen aber definitiv nicht der "Normalfall" ist). Ob sich das BVerfG jemals mit einem Gesetz beschäftigt ändert kein bisschen daran, ob es verfassungswidrig ist oder nicht. Das Gesetz enthält entweder den von dir genannten Verfassungsbruch - dann tut es das schon vor der Entscheidung des BVerfG - und ist demzufolge verfassungswidrig, oder es enthält keinen Verfassungsbruch und ist damit verfassungsgemäß - auch komplett unabhängig davon, ob das BVerfG sich das jemals anschaut und darüber entscheidet.

Das Nichtigkeitsdogma besagt, dass ein Gesetz, das einen Verfassungsbruch beinhaltet, von seiner Verkündung an bereits nichtig und damit unwirksam ist. Das BVerfG entscheidet im juristischen Sinne daher nicht, ob ein Gesetz verfassungswidrig ist, es stellt diese Tatsache, die dem Gesetz von Beginn an innewohnt, lediglich fest.
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Rince81 »

Jochen Gebauer hat geschrieben: 30. Nov 2021, 16:48 Was ich meine: Wenn eine Legislative Grundrechte massiv einschränkt, bricht sie de facto erst einmal die Verfassung. Denn sie kann und darf ja gar nicht entscheiden, ob dieser Eingriff rechtmäßig ist.
Nein. Das ganze funktioniert ganz grundlegend nicht so, wie Du das beschreibst. Wenn die Legislative per Gesetz Grundrechte einschränkt tut sie das nicht in dem Wissen damit die Verfassung zu brechen, weder juristisch noch de facto. Sie würden das dann nämlich nicht machen. Wenn doch, hätten wir eine veritable grundsätzliche Verfassungskrise weil sich die Legislative vorsätzlich nicht an die Verfassung hält und ein Verfassungsbruch durch die Legislative quasi der Normalzustand wäre.

Weiterhin dürfte der Bundespräsident ein Gesetz, welches "de facto" offenkundig die Verfassung bricht nicht unterschreiben - nächste Verfassungskrise.

Wenn das Verfassungsgericht am Ende trotzdem zum Schluss kommt, dass ein Gesetz verfassungswidrig ist, wird es ex tunc, also von Anfang an für nichtig erklärt.

Edit: HerrReineke war schneller und hat noch dazu besser begründet. :whistle:
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Jochen Gebauer
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Jochen Gebauer »

HerrReineke hat geschrieben: 30. Nov 2021, 17:04Das BVerfG entscheidet im juristischen Sinne daher nicht, ob ein Gesetz verfassungswidrig ist, es stellt diese Tatsache, die dem Gesetz von Beginn an innewohnt, lediglich fest.
Siehste, das ist das, was ich meine: Ich weiß, wie das de jure definiert ist. Ich argumentiere auch gar nicht, dass ihr de jure unrecht habt. Habt ihr nicht. Aber de facto ist das ein semantischer Taschenspielertrick. Denn ob die Katze verfassungswidrig ist, weiß ich eben erst, wenn jemand (in dem Fall das Verfassungsgericht) in Schrödingers Box guckt. Dann sagt es entweder: War schon immer verfassungswidrig. Oder: War noch nie verfassungswidrig. Oder irgendwas dazwischen. Aber bis es reinguckt, ist das Gesetz de facto alles. Natürlich kann ich jetzt die ontologische Verrenkung machen, dass das Gericht diese schon immer innewohnende Tatsache bloß feststellt, und juristisch hat das auch seine Berechtigung. Aber das ist halt eine klassische a priori-Setzung ohne jeden de facto Gehalt. De facto ergibt sich die Gesetzmäßigkeit erst aus der Entscheidung. Insbesondere in einer Frage, wo ausnahmslos jeder wusste, dass es eine solche Entscheidung geben wird und muss.

Mir ist schon klar, dass ein Rechtssystem nicht will, dass eine Regierung die Verfassung bricht. Aber de facto tun Regierungen das laufend. Wir nennen es bloß nicht so, aber das ist das, was de facto passiert - und in Hindsight entweder legitimiert oder eben nicht legitimiert wird. Find ich übrigens auch nicht schlimm (obwohl es wahrscheinlich helfen würde, wenn eine Regierung ein Verfassungsgericht auch einfach auf kleinem Dienstweg fragen könnte, bevor es mit großem Aufwand ein Gesetz auf die Reise schickt, das später kassiert wird), im aktuellen Fall finde in diesen Prozess aufgrund der massiven Eingriffe in Kombination mit den gravierenden Auswirkungen dieser Eingriffe lediglich katastrophal zu spät. Ob eine Regierung massiv in etliche Grundrechte eingreifen darf, um Gefahr X zu bannen, hat ein Verfassungsgericht in der Summe nicht erst Monate nach den Maßnahmen zu entscheiden. Denn de facto haben diese Maßnahmen viele Menschen ihre Existenz gekostet. Ob der Schutz anderer diese Existenz wert ist, beantworten du und ich wahrscheinlich beide mit einem lauten "ja", aber entscheidend ist hier letztlich alleine das Verfassungsgericht. Und das beantwortete diese Frage mit einem monatelangen Schweigen, unterbrochen von ein paar dankbaren Entscheidungen in wenigen Einzelfallaspekten.

tldr: Ihr argumentiert juristisch, ich argumentiere, dass die juristischen Argumente - obgleich juristisch valide - hier völlig an der tatsächlichen Realität in einer Jahrhundertkrise vorbeischießen. Was wahrscheinlich ein philosophisches Argument ist :mrgreen:
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HerrReineke
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von HerrReineke »

Jochen Gebauer hat geschrieben: 30. Nov 2021, 20:04 tldr: Ihr argumentiert juristisch, ich argumentiere, dass die juristischen Argumente - obgleich juristisch valide - hier völlig an der tatsächlichen Realität in einer Jahrhundertkrise vorbeischießen. Was wahrscheinlich ein philosophisches Argument ist :mrgreen:
Okay. Nur um das dann vollends zu verstehen und bevor wir dann wieder zum Kern des Threads zurückkommen ( :ugly: ): Ist dann aus deiner Sicht jedes Gesetz erst einmal (auch) ein Verfassungsbruch, bis das Gegenteil festgestellt wurde, oder nur die "Umstrittenen"? Und du hättest dann lieber, dass die Entscheidungen des BVerfG viel, viel schneller ergehen, zu Lasten der Beteiligung von Fachleuten und der Anhörung der Beteiligten? Gäbe das ein besseres Bild ab? :think:

Und ich bin jetzt mal sehr gespannt ob dann Donnerstag wirklich mal Maßnahmen beschlossen werden, die an der aktuellen Lage signifikant etwas ändern, oder es weiter dieses gefühlt halbherzige Hoffen bleibt. Und natürlich, ob tatsächlich ab Februar eine Impfpflicht kommen könnte. Dass der Impfstatus demnächst nach 6 Monaten abzulaufen scheint halte ich zumindest schon mal für sehr gut. Solange dann auch dauerhaft die Kapazitäten entsprechend vorhanden sind, dass die Impfungen auch alle sechs Monate durchgeführt werden können. Da hege ich ja noch die größten Zweifel. :?
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Santiago Garcia »

HerrReineke hat geschrieben: 30. Nov 2021, 21:16 Dass der Impfstatus demnächst nach 6 Monaten abzulaufen scheint halte ich zumindest schon mal für sehr gut.
Das ist sicher sinnvoll. Bin auch gespannt, wann man sich dann boostern lassen kann. Wäre ja recht albern, nach 6 Monaten den Geimpft-Status zu verlieren, wenn man sicher erst ab 6 Monate nach der zweiten Impfung die dritte abholen darf.
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Andre Peschke
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Andre Peschke »

HerrReineke hat geschrieben: 30. Nov 2021, 21:16 Solange dann auch dauerhaft die Kapazitäten entsprechend vorhanden sind, dass die Impfungen auch alle sechs Monate durchgeführt werden können. Da hege ich ja noch die größten Zweifel. :?
Habe da geringere Zweifel, eigentlich. Schon jetzt sind die Abläufe bei den Boostern in meiner Beobachtung reibungsloser, als zuvor. Wobei das natürlich wieder voraussetzt, dass nicht irgendwas dummes beschlossen wird, Biontech seinen Exklusivdeal mit den USA ankündigt oder sonstwas. ^^

IMO ist ein größerer Makel, dass diese Kampagne bedeutet, dass ärmere Länder weiter auf dem trockenen sitzen werden. Wobei das vllt. bei Biontech & Co. wegen der Lagerungsbedingungen nicht so wild ist. Da weiß ich gar nicht, was der letzte Stand ist.

Andre
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MrSnibbles
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von MrSnibbles »

Ich fühle mich gerade ziemlich dumm. Die Tagesschau meldet zum zweiten Mal in Folge "soundso viel MEHR Infektionen als vir einer Woche" bei gleichzeitig sinkender 7-Tage Inzidenz. Ich scheine die Berechnung der Inzidenz nicht verstanden zu haben.

Nach meinem Verständnis werden alle Infektionen innerhalb der letzten sieben Tage addiert und dann durch die Bevölerungszahl in Deutschland geteilt und mit 100000 multipliziert um auf den Wert pro 100k Einwohner zu kommen.

Aus dem Pool an Infektionen der letzten sieben Tage werfe ich nun die KLEINERE Zahl von vor einer Woche raus und füge die GRÖßERE Zahl von heute ein, d.h. die Summe wird größer. Wie kann die Inzidenz dann sinken? Ich bezweifle ja arg, dass die Inzidenz immer auf die tagesaktuelle Bevölkerungszahl bezogen ist. Also kann es nicht daran liegen, dass mehr Menschen geboren werden als der Zuwachs an Erkrankungen.
Santiago Garcia
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Re: COVID-19 - Anatomie einer Pandemie

Beitrag von Santiago Garcia »

Das ist tatsächlich nicht immer ganz offensichtlich. Für die 7-Tages-Inzidenz werden nur die Fälle berücksichtigt, die an dem jeweiligen Tag gemeldet wurden, Nachmeldungen werden nicht berücksichtigt. Bei der Differenz hingegen schon.

In den Worten des RKI:
Bei den 7-Tage-Fallzahlen und -Inzidenzen für frühere Tage muss berücksichtigt werden, dass es sich um die jeweils an dem angegebenen Tag berichteten Werte handelt, die nicht durch an Folgetagen nachübermittelte Fälle aktualisiert werden (für den Berichtstag "eingefrorene/fixierte" Werte).
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/N ... m_Tab.html
Für die Berechnung der Inzidenzen werden die Daten der Bevölkerungsstatistik des Statistischen
Bundesamtes mit Datenstand 31.12.2020 verwendet. Die Berechnung der 7-Tage-Inzidenz erfolgt auf
Basis des Meldedatums, also dem Datum, an dem das lokale Gesundheitsamt Kenntnis über den Fall
erlangt und ihn elektronisch erfasst hat. Für die 7-Tage-Inzidenz werden die Fälle mit Meldedatum der
letzten 7 Tage gezählt.

Die Differenz zum Vortag, so wie sie im Lagebericht und Dashboard ausgewiesen wird, bezieht sich
dagegen auf das Datum, wann der Fall erstmals in der Berichterstattung des RKI veröffentlicht wird. Es
kann sein, dass z.B. durch Übermittlungsverzug dort auch Fälle enthalten sind, die ein Meldedatum vor
mehr als 7 Tagen aufweisen. Gleichzeitig werden in der Differenz auch Fälle berücksichtigt, die aufgrund
von Datenqualitätsprüfungen im Nachhinein gelöscht wurden, sodass von dieser Differenz nicht ohne
weiteres auf die 7-Tage-Inzidenz geschlossen werden kann.
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/N ... cationFile
Antworten