Runde #235: Eine Verteidigung des Eskapismus

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oilrumsick
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von oilrumsick »

Peninsula hat geschrieben: 7. Okt 2019, 18:23 Feedback zur Folge
Ich fand die Folge insgesamt auch sehr unglücklich. Mag ja sein, dass eine Verteidigung des Eskapismus nicht ausgewogen sein muss, aber mir fehlte völlig eine auch nur ansatzweise "wohlwollende" Interpretation der Gegenseite. Stattdessen wurde permanent unterstellt, Eskapismuskritiker*innen wollten sich bloß elitär vorkommen und hätten Eskapismus nicht verstanden.
Die Gegenseite hat - Stand jetzt - halt nur wenig anzubieten. Es wird etwas kritisert auf der Basis, dass es negative Auswirkungen auf die Wahrnehmung sensitiver Themen (z.B. Sklaverei, Kolonialisierung - ich beziehe mich hier mal explizit auf das Anno-Thema und den angesprochenen Artikel) hat. Dieser Behauptung werden keinerlei Beweise in Form z.B. von Studien beigelegt, wodurch es in meinen Augen einer haltlosen Anschuldigung gleichkommt. Es sollte aber für Spiele genauso gelten: Im Zweifel für den Angeklagten. Der Einwand, dass es ja nur eine Kritik sei, ist für mich schwierig nachzuvollziehen, da zumindest bei von mir geäußerten (negativen) Kritiken immer eine Aufforderung zur Änderung mitschwingt. Je nach Wirkmacht meinerseits ist das manchmal nur implizit der Fall, aber es ändert nichts an meinem prinzipiellen Wunsch der Abänderung (Es liegt beispielsweise aussserhalb meiner Macht, Blizzard dazu zu zwingen WoW meinen Wünschen gemäß anzupassen, daher macht es keinen Sinn meiner Kritik am Spiel ein "Bitte passt das an" beizufügen. Nichtsdestotrotz ist das genau das, was ich mit der Kritik zum Ausdruck bringen will.). Vielleicht ist das bei Kulturkritik anders, allerdings fällt es mir schwer zu sehen, wie jemand, der seinen Unmut über den Ist-Zustand eines Werkes zum Ausdruck bringt, damit nicht gleichzeitig einen Änderungswunsch transportiert. zumal es ja hier laut dem Experten potentiell um die Umdeutung eines der schrecklichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte geht.

Zusätzlich missfällt mir noch der Fakt, dass ein Experte auf dem Gebiet des Kolonialismus hier eigentlich völlig fehl am Platz ist. Es wird der Aussage durch die Assoziation mit wissenschaftlicher Arbeit Kredibilität verliehen ohne, dass derjenige auf dem passenden Gebiet (z.B. Medienwirkung, Psychologie) forscht oder zumindest durch wissenschaftliche Methodik erlangte Erkenntnisse zur Thematik beisteuert. Ehrlicher wäre es gewesen zu schreiben "Es existiert die Meinung, dass ..., aber es gibt keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die das stützen." (Edit: Das ist überall Praxis und sollte flächendeckend eingedämmt werden. Die Meinung eines Professors der Physik ist z.B. im Kontext von autonomen Fahren auch nicht relevanter als die eines Postboten, falls er seine Ansichten nicht durch Fakten unterfüttern kann). Und ich finde - um den Bogen wieder zurück zum Anfang zu spannen -, dass die Gegenseite auch nicht mehr zu bieten hat und deswegen bereits ausreichend und wohlwollend genug im Podcast dargestellt wurde. Um den Anspruch auf intensiveren Auseinandersetzung erheben zu können, muss sich meiner Meinung nach zuerst auf Seite der Kritiker etwas tun und zwar in Form von wissenschaftlicher Arbeit und gesicherten Erkenntnissen.
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mfj
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von mfj »

Nina hat geschrieben: 7. Okt 2019, 12:48 Abgesehen davon, dass Repräsentation in Spielen über Jahre hinweg explizit eingefordert wurde, man also nicht einfach postulieren kann, dass eine nicht bestehende Nachfrage eigenmotiviert geschaffen wird, müsste man die Frage "Was wird wem angeboten - und warum?" natürlich ebenso mit Blick auf die männliche Zielgruppe beantworten.
Ja, auf jeden Fall das.
Ist halt auch da schwer das kommerzielle aus dem Kunstfreiheitswunsch raus zu halten. Marktforschung eben. Ich, als Mann, fühle mich recht selten direkt angesprochen, wenn doch, dann eher als Mensch, weil es dann auch nicht um Phantasien geht, die unbedingt eine Geschlechtsadressierung, oder -präzisierung brauchen.
Nina hat geschrieben: 7. Okt 2019, 12:48 Nun, meine Perspektive habe ich ja in Reaktion auf Deinen Beitrag geschildert und kann/möchte viel mehr dazu auch gar nicht sagen. Was lesenswerte Artikel betrifft, habe ich leider gerade keine Zeit, welche herauszusuchen - ich meine aber, dass unter anderem im Online-Angebot der GameStar ein ganz guter Beitrag zum Thema erschienen ist.
Auch hier, ja, hast du und mehr musst du ja auch gar nicht dazu sagen. Du bist sehr nah am Thema geblieben, was ja auch deutlich angemessener ist, als mein und der anderen in Geiselhaft genommenes Aufgeblase...Wäre nur interessant gewesen dich dort zu hören, im Dialog mit Freunden, statt hier, im Texten unter Fremden.

Danke fürs nochmal schreiben und gut, dass ich da nicht missverstanden wurde...
Dieses Missverstandenwerden hält mich stark davon ab, überhaupt was geschriebenes ins Internet zu geben.

Phazonis hat geschrieben: 7. Okt 2019, 14:41 Ok dann rollen wir nochmal den Battlefield V- Fall auf...
Dir, Phazonis, auch danke, fürs Aufrollen!
Soweit hatte ich das auch verfolgt, dann aber nicht weiter, hatte nicht damit gerechnet, dass da mehr käme, als das typische Rumgeheule mit Gamer-Gate Eskapismusanstrich... Werde mir beizeiten das von Nina empfohlene Gamestar Archiv raussuchen...
Man sollte nicht zu früh urteilen!

Nur, weil ich das, glaube ich, nochmal klarstellen sollte: Ich hab kein Problem mit der Einbettung weiblicher Charaktere in einem Kriegsspiel, das mehr Spiel als Krieg sein will, oder überhaupt irgendwo anders. Hatte mich nur gefragt, worum es bei diesem "Shitstorm" eigentlich ging und ob es denn in dem Fall überhaupt gewünscht war, von weiblichen Spielern, in diesem "Setting" Repräsentanz zu finden...
Wer da mit einem klaren Ja antworten würde - Alles gut.
Ich hab so oder so da keine großen Ambitionen mich in die Haut eines Battlefield-Soldaten oder -Soldatin, dokumentarische Akuratesse oder eskapistische Phantasie, hineinzuversetzen. Ist mir dann doch zu nah dran..

Da bleib ich lieber bei der weiblichen Commander Shepard oder einer Aloy oder Lara, oder Jade...
Bisschen weiter weg vom Pudels Kern. Und gegen Aragorn hab ich auch nichts einzuwenden. Guter Kerl.
Wie eben auch Tolkien selbst.
Im Allgemeinen wähle ich, wenn möglich, eh meist weibliche Avatare, auch ne Art von Eskapismus, klar...

Wieder zurück im eigenen Leben fühle ich mich jedenfalls nicht bestätigt, sondern beschämt, dass Krieg in der Mehrheit "Männersache" ist.
Wieso das als Männerdomäne zu verteidigen wäre, ist mir schleierhaft und äußerst befremdlich. Das klingt mehr nach ungewolltem Revisionismus, als nach irgend etwas anderem. Ziemlich verquer, wenn Mann darüber nachdenkt.

Da dann eben nochmal das Gedicht von Ani Difranco, das trifft hart, wo es wehtut.
Oder eben Remarque mit seinen Darstellungen vom Krieg, um beim eigenen Geschlecht zu bleiben.

Und ja, Spiel darf Spiel sein und hier auf keinen Fall der Quatsch mit dem Anno, das sich zu sehr an reellem anlehnen möge.
Nicht alles, was abgewägt werden kann oder sollte, hat auch Gewicht.
Diesbezüglich halte ich mich an das, was du geschrieben hattest:
Phazonis hat geschrieben: 7. Okt 2019, 14:41 Ich kann verstehen wenn man als Reaktion darauf sagt, dass entspricht nicht mehr meiner Eskapismusfantasie und deswegen spiele/ kaufe ich das Spiel nicht.
Mehr beschäftigt das mich, auf dieser Ebene, nicht.
Ich suche mir den Eskapismus, der mir dabei hilft vom Leben abzuschalten und mir meine Welt zurecht zu rücken.
Und da gibt's ja genug, auf das ich ausweichen kann...

Jetzt, wo ich gerade keine Zeit finde, um abzutauchen, spiele ich nicht sehr viel, hab auch keinen größeren Bedarf dafür.
Das spricht wieder sehr dafür, was Andre und Jochen im Podcast sagten. Den ich, nebenbei erwähnt, durchaus für sehr gelungen und ausserdem schonungslos ehrlich und mutig finde... Gerade deswegen, weil er den Wölfen zum Fraß vorgeworfen wurde.
Guten Appetit und Liebe Grüße an alle

- Hy
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mfj
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von mfj »

Andre Peschke hat geschrieben: 7. Okt 2019, 11:56 Das "übereinander statt miteinander" bitte einstellen. Letzte gütige Ermahnung.
Tut mir leid, das muss noch raus.
You triggered my Triggerhappiness.
Die Katze lässt das Mausen nicht.
Noch ein Gedicht, diesmal von mir selbst...
Mehr Poesie tut niemals nicht gut, nicht?

Ein Hoch den schönen Künsten (oder denen die sich dafür ausgeben wollen..)



Unterhaltungen in einem Cafe
----------------------------------------

Und wenn wir uns unterhalten,
unterhalten wir uns dann auch?
Halten wir uns unter, oder auf?

Reden wir
untereinander
miteinander
oder
übereinander
aneinander
vorbei?

Hören wir uns reden,
was wir sagen,
hören wir uns hörensagen,
reden wir uns zu?

Oder hören wir,
vor lauter Ansagen,
uns nicht mehr ausreden?

Hören wir
unter so vielen Wörtern,
die gesagt werden
und die wir sagen,
noch das eine,
unsagbare Wort,
das alle anderen
unsäglichen einleitet?

Ich

höre heimlich hin.
Bin ich ein Lauscher?
Ich kann mich
kaum noch
halten.
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Peninsula »

oilrumsick hat geschrieben: 7. Okt 2019, 20:36 Um den Anspruch auf intensiveren Auseinandersetzung erheben zu können, muss sich meiner Meinung nach zuerst auf Seite der Kritiker etwas tun und zwar in Form von wissenschaftlicher Arbeit und gesicherten Erkenntnissen.
Erstens halte ich das für einen unangemessen hohen Anspruch an einen öffentlichen Diskurs - natürlich wäre es fahrlässig, wissenschaftlich klar belegte Fakten zu ignorieren oder gar zu leugnen, aber im Bereich des öffentlichen Meinungsaustausches und besonders auch der Kulturkritik gibt es so viele Dinge, die auf absehbare Zeit wissenschaftlich gar nicht belegbar sind, die aber imo trotzdem besprochen gehören. Wenn es ausschließlich um "beweisbare" Tatsachen gehen darf, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht, wie eine Kulturkritik in Form einer Rezension o.ä. aussehen sollte.

Wenn du diesen hohen Anspruch an andere anlegst, würde mich aber zweitens interessieren, wie intensiv du dich mit den im Podcast kritisierten Texten auseinandergesetzt hast, bevor du den genannten Leuten bescheinigst, argumentativ wenig zu liefern. Dom zitiert ja bspw. nicht nur den (imo zu Unrecht von Jochen gescholtenen) Kolonialismus-Experten, sondern beruft sich in seiner Herangehensweise auch auf diesen Artikel von Felix Zimmermann, dessen wissenschaftlicher Schwerpunkt an der Schnittstelle zwischen Public History und Game Studies - und somit verdammt nah am Thema - liegt. Unter den vielen Quellen zum Artikel finden sich sicher viele relevante wissenschaftliche Texte!
Ebenso liefert die im Cast relativ beiläufig abgekanzelte Jane McGonigal auf ihrer Webseite eine Sammlung mit Links zu 100 Studien, die für ihre Vorträge relevant sind (inklusive ihrer eigenen Dissertation). Damit will ich natürlich nicht sagen, dass man vor akademischen Titeln in Ehrfurcht erstarren sollte, oder die Texte alle lesen müsste, um überhaupt mitzudiskutieren (so viel Zeit hat fast niemand, das ist ein Grund für meinen ersten Punkt). Aber bevor man behauptet, jemand habe wenig geliefert und wissenschaftliche Arbeit einfordert, sollte man sich das imo angesehen haben.
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Hegelkant
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Hegelkant »

Dann will ich mal die "Gegenseite" vertreten. Mal sehen, wie weit ich komme.

Ich beziehe mich hier auf Eskapismus in der von Jochen und Andre definierten Form, die gänzlich unabhängig von Videospielen ist und "Realitätsflucht" im weitesten Sinne bedient, also in etwa das Beschäftigen mit einem Thema, das nichts mit meiner *persönlichen* Realität zu tun hat. Darunter zähle ich neben Videospielen also auch Brettspiele, Fernsehen (auch Dokus), Literatur usw.

Ich sehe es auch so, dass Eskapismus ein Grundbedürfnis darstellt. Ohne Eskapismus könnten viele Menschen (mich eingeschlossen) vermutlich abends nicht einschlafen. Insofern ist das doch eine gute Sache und gutzuheißen. Oder?

Nein, denn wie immer kommt es auf die Dosis an. Im Podcast wurde das Thema leider schnell abgebügelt ("das kann man ja von jedem Medium sagen"), aber das ist meines Erachtens der zentrale Punkt. Ich glaube, dass die Kritik vieler Eskapismuskritiker auch genau darauf abzielt. Denn hier hat meines Erachtens eine Verschiebung stattgefunden.

Denn das Angebot wird immer größer, es ist für jeden was dabei, der Zugang wird im digitalen Zeitalter immer einfacher, und der Unterhaltungsindustrie gelingt es immer mehr, die Menschen zu mehr Eskapismus zu treiben, als sie brauchen und als gut für sie ist. Wenn dann das Real-Life *wegen* des Eskapismus leidet, wenn Menschen immer mehr prokrastinieren, wenn sie zu Messis werden, wenn sie vereinsamen. Das ist eine Entwicklung, an der der Eskapismus in Form moderner Unterhaltungsmedien zumindest nicht ganz unschuldig ist. Und das ist eine Entwicklung, die ich nicht gut finde.

(Anm.: Ich beschäftige mich gerade wissenschaftlich mit den psychologischen Tricks der Werbeindustrie (in meinem Fall E-Commerce), daher bin ich momentan ein wenig auf das Thema gepolt. Das ist vielleicht ein zu großes Fass, das ich hier aufmache, aber wie gesagt ist das aus meiner Sicht der zentrale Punkt bei der Eskapismus-Diskussion.)
nachteule
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von nachteule »

Recht interessant, wie weit da die Meinungen zum Eskapismus auseinandergehen und dass Anno 1800 hier in der Bringschuld gesehen wird. Wenn man sich bei jedem Anno anschaut was die Hoffnungen der Spieler sind, kommt da selten die "tolle" Story (*hust*) an erster Stelle, sondern dass man im Endlosmodus sein eigenes Inselidyll, beginnend mit einem Schiff und den ersten Siedlern, aufbaut. Im Gegensatz zu den Zukunftszenarien sind die Waren und Produktionen nachvollziehbarer und die Gebäudeästhetik spielt sicherlich auch noch eine Rolle. Unter dem erstgenannten Aspekt kann man auch das empfohlene Alter von 6 Jahren betrachten, um Kindern grob die Bedingungen zur Herstellung von Brot spielerisch in einem hübschen Rahmen beizubringen. Würde man nun den Aspekt der Sklaverei reinbringen, würde das empfohlene Alter wohl hochgesetzt werden müssen und das wäre eigentlich auch schade.

NIchtsdestotrotz kann man sich überlegen, wie das Sklaventhema spielerisch interessant auch in einer Anno Kampagne eingebaut werden könnte:

Man startet sein Spiel wie üblich mit seinem Schiff baut sein Inselreich bis zu einer gewissen Größe auf, man verdient mit seinem Handel und hat vielleicht schon mehrere Inseln. Nun passiert es, dass es an mehreren Stellen gleichzeitig Brände oder nicht mehr funktionierende Arbeitsabläufe gibt und man wundert sich was eigentlich los und man macht Verluste. Nun kommt die neue Mechanik von 1800 ins Spiel, dass man Proganda per Zeitung machen kann. Der Spieler bekommt ein Flugblatt zu Gesicht, dass die Vergessenen (nämlich die Sklaven) für diesen Wohlstand mitverantwortlich sind. Danach könnte man dem Spieler die Wahl lassen, auf welcher Seite er weiterspielen möchte:
a) Die des Inselherrschers, der dann entweder mit den Sklaven verhandeln kann und den Leuten ein besseres Leben zugesteht oder dies unterdrückt. Wäre insbesondere im letzteren Fall was Richtung Tropico läuft, allerdings mit ernstem Hintergrund.
b) Die Seite der Sklaven: Auswahl zwischen "wir versuchen selbst auf der Insel an die Macht zu kommen" oder mit einem Schiff zu flüchten und neu zu beginnen. In diesem Fall dann mit dem Wissen, dass es Sklaven auf den anderen Inseln gibt und um das zu vermeiden hat man höhere Baukosten um seine neue Insel zu besiedeln. Wäre spielmechanisch dann ein höherer Schwierigkeitsgrad um diesen Idealen nachzueifern.

Dies wäre das ein starker Eindruck, da man sich in der Reihe damit bisher nicht konfrontiert wurde. Funktioniert allerdings wie bei vielen Überraschungen meisten nur beim ersten Mal, danach stumpft man als Spieler für sowas auch wieder ab. Ob man ein solches Szenario einbauen sollte und es von den Anno Spielern akzeptiert werden würde, ist eine andere Frage. Denn hier komme ich zu Battlefield V: Vermutlich würden mehr Spieler auch ein Szenario mit Frauen im zweiten WK akzeptieren, wenn es nicht die Marke Battlefield wäre, die dazu verwendet wird. Diese hat sich ebsenso wie Anno einen Namen für eine bestimmte Art an Szenario / Geschichte gemacht. Würde man das Battlefield Szenario in eine neue Marke packen, wäre der Aufschrei auch deutlich leiser gewesen. Allerdings hat man dann auf Publisherseite das Problem eine neue Marke mit geringerem Interesse bei den Spieler platzieren zu müssen. Dabei werden sie leider in Anbetracht der Produktionskosten und ihres Aktienwerts verständlicherweise mehr auf die Markennamensicherheit setzen. Wenn es nicht vom Kunden angenommen wird, kann aus Publishersicht immer noch ein "Wir haben verstanden" auf vielen Kanälen kommuniziert werden.
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Andre Peschke
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Andre Peschke »

Hegelkant hat geschrieben: 7. Okt 2019, 23:38 Denn das Angebot wird immer größer, es ist für jeden was dabei, der Zugang wird im digitalen Zeitalter immer einfacher, und der Unterhaltungsindustrie gelingt es immer mehr, die Menschen zu mehr Eskapismus zu treiben, als sie brauchen und als gut für sie ist. Wenn dann das Real-Life *wegen* des Eskapismus leidet, wenn Menschen immer mehr prokrastinieren, wenn sie zu Messis werden, wenn sie vereinsamen. Das ist eine Entwicklung, an der der Eskapismus in Form moderner Unterhaltungsmedien zumindest nicht ganz unschuldig ist. Und das ist eine Entwicklung, die ich nicht gut finde.

Wenn das der Ansatzpunkt der Kritik wäre, also ein Eskapismus-Exzess, dann wäre dem ja durchaus mit Interesse zu begegnen. Aber wir wandten uns ja gegen die Sorte Kritik, die etwas als "bloßen Eskapismus" abkanzelt, als wäre das in sich rügenswert.

Die Frage wäre weiterhin, ob wir wirklich sowas wie eine Eskapismus-Epidemie haben. Hat sich das gemehrt oder einfach nur auf missliebigere Mediengattungen verschoben? Wenn ich früher heimlich im Bett gelesen habe und heute auf dem Handy spiele - dann ist das erstmal kein Unterschied. Aber in der öffentlichen Debatte würde das Lesen sofort erstmal als wünschenswerter eingeordnet, ohne Kenntnis ob ich nicht am Ende Schund lese oder "My Child Lebensborn" spiele. Ich würde sogar vermuten: Wenn ich auf dem Handy lese, statt in einem Buch, wäre die Einschätzung schon anders.

Meine Kritik richtete sich gegen die "Ich mache mit meiner Freizeit lieber etwas vernünftiges"-Haltung, die oft dann eben Dinge impliziert wie Schöngeistigkeit, intellektuelle Betätigung etc - quasi, summasummarum, Produktivität. Ich glaube das wurde hier im Thread schon angesprochen und ich hab's im Podcast glaube ich verpasst als Abschluss der Herleitung dieser Geisteshaltung noch anzubringen: Es ist schon vieles in seinem Wert danach kategorisiert, ob es als "produktiv" gilt. "Lern doch lieber was" ---> "Qualifiziere dich doch weiter für die Arbeitswelt". "Lies doch lieber was anspruchsvolles" ---> Erhöhe deinen gesellschaftlichen Status. Etc.

Ich hatte schon vermutet, dass die anschließende Diskussion hier sich sehr stark auf diese Anno-Diskussion konzentrieren wird, aber der vorhergehende Teil war für mich der wichtigere. Danke daher auch, dass du (und andere auch) in der Diskussion darauf einsteigst.

Um nochmal auf deinen eigentlichen Punkt einzugehen:

Erstmal wirft das für mich die Frage auf, inwiefern das wirklich der Fall ist (also, dass wir immer mehr in den Eskapismus abdriften). Konsumieren wir insgesamt mehr Unterhaltungsmedien als früher? Möglich... allein wegen der Verfügbarkeit halte ich das für wahrscheinlich. Hat die eskapistische Strategie "Unterhaltungsmedium" also zugenommen? Würde mich nicht wundern. Soweit wäre ich aus dem Bauch raus schon bei dir, auch wenn es das zu überprüfen gälte. Aber umgekehrt: Gibt es vielleicht auch mehr Anlass zum Eskapismus? Wir sprechen ja auf der anderen Seite von einer 24/7 Verfügbarkeit von Arbeitnehmern wegen moderner Technologien, dem ständigen Social-Media-Kontakt zu diversen, nicht immer gewünschten Impulsen etc. Evtl. hat sich nicht nur der Eskapismus gesteigert, sondern die Rahmenbedinungen sorgen auch dafür, dass wir diese Bewältigungsstratgie gegen "Stress" (nicht 100% glücklich mit dem Begriff... aber es ist spät, soll er genügen) einfach häufiger anwenden müssen? Wenn soziale Kontakte vernachlässigt werden, ist es dann wirklich die Verführungskraft der Entertainment-Industrie? Oder sind die Batterien so leer, dass man die Energie für soziale Kontakte nicht recht aufbringen mag/kann? (Bitte jetzt nicht in Richtung einer Diskussion über die schlimme neue Arbeitswelt derailen. :D Das war eher ein Gedankengang der aufzeigen soll, dass die diskutierte Prämisse für mich nicht unglaubwürdig klingt, aber der kausale Zusammenhang zu eskapistischen Medien noch IMO zu hinterfragen wäre, weil...)

Andre
oilrumsick
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von oilrumsick »

Nur zur Klarstellung, ich beziehe mich auf folgenden Artikel (Nur damit wir alle auf derselben Seite sind): https://archaeogames.net/historisch-wo- ... -umdeutet/
Peninsula hat geschrieben: 7. Okt 2019, 22:37 Wenn du diesen hohen Anspruch an andere anlegst, würde mich aber zweitens interessieren, wie intensiv du dich mit den im Podcast kritisierten Texten auseinandergesetzt hast, bevor du den genannten Leuten bescheinigst, argumentativ wenig zu liefern. Dom zitiert ja bspw. nicht nur den (imo zu Unrecht von Jochen gescholtenen) Kolonialismus-Experten, sondern beruft sich in seiner Herangehensweise auch auf diesen Artikel von Felix Zimmermann, dessen wissenschaftlicher Schwerpunkt an der Schnittstelle zwischen Public History und Game Studies - und somit verdammt nah am Thema des Artikels - liegt. Unter den vielen Quellen zum Artikel finden sich sicher viele relevante wissenschaftliche Texte!
Ebenso liefert die im Cast relativ beiläufig abgekanzelte Jane McGonigal auf ihrer Webseite eine Sammlung mit Links zu 100 Studien, die für ihre Vorträge relevant sind (inklusive ihrer eigenen Dissertation). Damit will ich natürlich nicht sagen, dass man vor akademischen Titeln in Ehrfurcht erstarren sollte, oder die Texte alle lesen müsste, um überhaupt mitzudiskutieren (so viel Zeit hat fast niemand, das ist ein Grund für meinen ersten Punkt). Aber bevor man behauptet, jemand habe wenig geliefert und wissenschaftliche Arbeit einfordert, sollte man sich das imo angesehen haben.
Ich adressiere zuerst diesen Abschnitt.

Um es kurz zu machen: Es ist nicht die Aufgabe des Lesers, die Recherche für den Autoren zu übernehmen. All diese Studien und Werke anderer Autoren werden hier nirgends referenziert. Natürlich ist das eine Kolumne und kein wissenschaftlicher Artikel, das seh ich schon ein. Aber eine Aussage wie

"Das heißt, gerade die Spieler, die nicht zufällig Geschichte studieren oder nicht Geschichtslehrer sind, die vermuten ja, so war das damals. Und wenn dann so ein entscheidender Faktor, der zum Wohlstand und zur Industrialisierung beigetragen hat, wie die transatlantische Sklaverei und die Sklavenwirtschaft fehlt, dann „lernen“ sie daraus, dass es das nicht gab."

ist mir dafür zu absolut und impliziert zuviel, um sie unkommentiert und ohne faktische Untermauerung stehen zu lassen. Damit tut sich Dom auch keinen Gefallen, denn zum einen konterkariert es seine eigene - berechtigte - Kritik, dass BlueByte mit den genannten Aussagen einfach so davon gekommen ist und zum anderen trübt es mein Bild auf den Rest der Kolumne, die ich jetzt dadurch bestimmt schlechter wahrnehme als sie eigentlich ist. Ich will nicht ausschliessen, bzw. bin mir sogar sicher, dass das an der sehr ideologisch geführten Gewalt- oder Killerspieldebatte der letzten Jahrzehnte liegt, die mich da etwas empfindlich gemacht hat, bei der am Ende meines Wissens nicht viel an Korrelation gefundenwurde.

Hier ergibt sich ein augenscheinlich ähnliches Bild: Es wird eine intuitiv verständliche Kausalkette aufgezogen (Anno ist eine historische Simulation, die Sklaverei und Kolonialismus verfälscht darstellt => Menschen lernen durch das Spielen diese Version der Geschichte als wahr kennen => Es setzt sich eine verfälschte Version der Geschichte durch) ohne die einzelnen Abfolgen mit Belegen zu versehen. Und damit komme ich zu dem anderen Punkt
Peninsula hat geschrieben: 7. Okt 2019, 22:37 Erstens halte ich das für einen unangemessen hohen Anspruch an einen öffentlichen Diskurs - natürlich wäre es fahrlässig, wissenschaftlich klar belegte Fakten zu ignorieren oder gar zu leugnen, aber im Bereich des öffentlichen Meinungsaustausches und besonders auch der Kulturkritik gibt es so viele Dinge, die auf absehbare Zeit wissenschaftlich gar nicht belegbar sind, die aber imo trotzdem besprochen gehören. Wenn es ausschließlich um "beweisbare" Tatsachen gehen darf, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht, wie eine Kulturkritik in Form einer Rezension o.ä. aussehen sollte.
Viele, aber längst nicht alle, intuitiv plausiblen Narrative sind falsch. Die beste Art, die ich kenne, um die beiden Gruppen zu trennen ist die wissenschaftliche Methode, weswegen sie eigentlich immer angewendet werden sollte, sofern man eine Kausalaussage mit erweiterten Implikationen treffen will.
Wir bewegen uns hier auf einem Spektrum. Eine Aussage wie "Ich finde das nicht gut, weil es mir nicht gefällt" ist eine völlig legitim geäusserte Meinung und kann dennoch interessante Einblicke bieten sofern sie mit repräsentativen Beispielen aus dem rezipierten Werk illustriert wird.
Die Aussage "Ich finde das nicht gut, weil es unsere Gesellschaft bedroht" ist auch eine legitime Meinung. Allerdings schwingen hier deutliche Implikationen mit, sofern man als seriöse Quelle dieser Meinung wahrgenommen wird, weswegen ich hier eine gewisse Sorgfaltspflicht den Lesern/Höhrern/Zuschauern gegenüber sehe. Und diese sollte zumindest beinhalten, dass man die wichtigsten Metastudien zu dem Thema raussucht, ausdrücklich erwähnt, dass diese nicht existieren oder, falls die Aussage von einem Dritten getroffen wurde, genau diese Fakten bei ihm einfordern.

Doms Kolumne ist hier vielleicht in der Mitte anzusiedeln und bedarf keiner wissenschaftlichen Abhandlung. Trotzdem reicht mir die Implikation der Aussage schon aus, um ein bisschen mehr Substanz zu fordern, denn das bedeutet für mich Seriösität (Generell darf natürlich jeder Begründen oder nicht Begründen wie er will - nur wird er halt irgendwann von mir nicht mehr als seriöse Quelle wahrgenommen). Ich spreche Dom oder Jürgen Zimmerer hier auch nicht ab, dass sie Recht haben. Vielleicht stimmen die Punkte, aber dann wäre es umso wichtiger, schlüssige Fakten dazu zu haben, um die genannten Probleme mit Nachdruck adressieren zu können und die Gesellschaft dafür sensibilisieren zu können.

Grüße,
Rico

@Andre: Das Nomen zu akkurat ist Akkuratesse (Ich hätte niemals gedacht, dass ich dieses Wissen mal halbwegs sinnvoll anbringen kann :D )
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Axel
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Axel »

Andre Peschke hat geschrieben: 8. Okt 2019, 00:02 Meine Kritik richtete sich gegen die "Ich mache mit meiner Freizeit lieber etwas vernünftiges"-Haltung, die oft dann eben Dinge impliziert wie Schöngeistigkeit, intellektuelle Betätigung etc - quasi, summasummarum, Produktivität. Ich glaube das wurde hier im Thread schon angesprochen und ich hab's im Podcast glaube ich verpasst als Abschluss der Herleitung dieser Geisteshaltung noch anzubringen: Es ist schon vieles in seinem Wert danach kategorisiert, ob es als "produktiv" gilt. "Lern doch lieber was" ---> "Qualifiziere dich doch weiter für die Arbeitswelt". "Lies doch lieber was anspruchsvolles" ---> Erhöhe deinen gesellschaftlichen Status. Etc.
DAS ist der Punkt, den ich mit meinen ersten Post hier im Thread (Seite 1 oder 2) versuchen wollte herauszuarbeiten und einzubringen, bevor es in die unsägliche Anno-Diskussion ging. Danke, dass Du das nochmal anbringst. Und das ist, denke ich, auch die sehr viel spannendere und gewinnbringendere Diskussion. :) In den letzten Jahren wird sehr viel drauf geachtet, dass das womit man seine Zeit verbringt auf irgendeine Weise „produktiv“ ist. Verbunden mit der heutigen Anforderung ständig erreichbar zu sein. Und das sorgt tatsächlich eben auch zu Stress - das ist genau der richtige Ausdruck, Andre. Es fängt an mit emotionalen Stress, geht weiter zu psychischen Stress und kann sich dann auch zu körperlichen Stress niederschlagen. Etwa ständige Müdigkeit.

Ich habe vor einiger Zeit aus der Bibliothek mal ein Buch über Burn-Out gelesen, weiß leider nicht mehr den Autoren, der kam jedenfalls aus der Psychologie. Da ging es jedenfalls auch um die soziologische Sicht der Burn-Out-Erkrankung und wieso sie in den letzten 10 Jahren so schlagartig zugenommen hat. In der modernen Arbeitswelt wie auch in der Gesellschaft ganz allgemein gilt die Vorstufe des Burn-Out als Ideal. Also die Phase des „brennens“: Du bist überambitioniert auf Arbeit, Dir gelingt es scheinbar verschiedenste Dinge im Multitasking zu erledigen. Ein Projekt jagt das Nächste. Dazu noch ein ausgeprägtes Familienleben und und und. Diese überproduktive Phase wird von vielen Menschen als Ideal gesehen, sie wird auch medial als Ideal transportiert.
Während man in der Psychologie seit Jahren weiß, dass genau dieses Verhalten schädlich ist, da dies unweigerlich zu Burn-Out führt. Es ist keine Frage mehr des Ob, sondern nur des Wann. Auch gibt es sehr viel Forschung über die Leistungsfähigkeit des Menschen als solches. Und da geht man mittlerweile eher davon aus, dass die Leistungsfähigkeit irgendwo bei 6 Stunden am Tag liegt. Da liegt der Höhepunkt, danach fällt die Leistungsfähigkeit erst sukzessive, anschließend rapide ab. Und jetzt schauen wir uns mal an, wie lange die Menschen pro Tag für die Arbeit unterwegs sind. Gehen wir mal vom Durchschnitt aus, du bist 9 Stunden (inklusive Pause) auf Arbeit. Hinzu kommt häufig auch noch das Pendeln. Sagen wir also mal, Du bist 10, vielleicht 11 Stunden es dem Haus. Jeden Tag. Das liegt weit über ein Drittel des wissenschaftlichen Werts der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit.

Jetzt könnte man sich fragen, warum ich das so ausführe. Ich finde aber, um die Kritik am Eskapismus zu begreifen, muss man sich auch anschauen wie die Gesellschaft ausschaut. Denn diese Kritik kommt ja nicht aus einem luftleeren Raum. Sondern aus einem Raum mit verschiedenen Werten, die sich über die Zeit immer wieder verändern. Das kann und sollte man IMO nicht voneinander trennen.
Hegelkant hat geschrieben: 7. Okt 2019, 23:38 Denn das Angebot wird immer größer, es ist für jeden was dabei, der Zugang wird im digitalen Zeitalter immer einfacher, und der Unterhaltungsindustrie gelingt es immer mehr, die Menschen zu mehr Eskapismus zu treiben, als sie brauchen und als gut für sie ist. Wenn dann das Real-Life *wegen* des Eskapismus leidet, wenn Menschen immer mehr prokrastinieren, wenn sie zu Messis werden, wenn sie vereinsamen. Das ist eine Entwicklung, an der der Eskapismus in Form moderner Unterhaltungsmedien zumindest nicht ganz unschuldig ist. Und das ist eine Entwicklung, die ich nicht gut finde.
Das ist für mich eine Fehleinschätzung, über die ich häufiger stolpere. Das Real Life (ich mag das Wort btw nicht sonderlich) leidet nicht *wegen* Eskapismus, sondern gesteigerter Eskapismus ist die *Folge* einer kaputten Working-Life-Balance.

Außerdem bringst Du hier einige Dinge durcheinander. Messitum hat nichts mit Eskapismus zu tun. Sondern mit einem gesteigerten psychologischen Problem sich von etwas zu trennen. Das hat ganz andere Ursachen. Jedenfalls: Wenn dieses Problem extreme Maße annimmt, dann kann es zum Messitum führen. Eine weitere Ursache des Messitums kann aber auch Antriebslosigkeit sein. Auch hier sind die Gründe mannigfaltig. Denn Antriebslosigkeit kann eine Folge verschiedenster Krankheiten sein. Beispielsweise posttraumatische Belastungsstörung oder Depression. Auch Persönlichkeitsstörung kann eine Rolle spielen.

Auch Vereinsamung ist keine Folge des Eskapismus. Schon in den 90ern explodierten die Zahlen der Singlehaushalte. Und damals war am heutigen Medienkonsum nicht mal Ansatzweise zu denken. Vereinsamung findet aufgrund verschiedenster Ursachen statt. Etwa bei den vielen Millionen Menschen die durchs finanzielle Raster fallen - die können sich gesellschaftliche Aktivitäten schlicht nicht mehr leisten. Oder bei Menschen die so dermaßen in die Arbeit eingebunden sind, dass sie am Wochenende tatsächlich keine emotionale und/oder körperliche Kraft mehr haben sich noch mit jemanden zu treffen. Gibt es ganz, ganz häufig.
Eine meiner besten Freundinnen arbeitet als Psychologin. In ihrer Praxis, aber auch bei Kolleginnen, ist das eines der Schwerpunkte und der täglichen Arbeit: Der Leistungsdruck ist so dermaßen groß, dass die Menschen keine Kraft mehr besitzen. Letztens hat sie mir beispielsweise von einer Patientin erzählt, die selbst Altenpflegerin ist. Ein Job wo der Leistungsdruck so exorbitant geworden ist, dass die Patientin gerade an der Grenze zur handfesten Depression steht.

Das sind alles Dinge, die sehr wichtig sind, möchte man verstehen warum Menschen ein gesteigertes Verlangen nach eskapistischen Erfahrungen haben. Ob bewusst oder unterbewusst. Die folgende Kritik am Eskapismus, wie Du sie formuliert hast, ist genauso unzulässig verkürzend wie bei der ganzen Gewaltdiskussion zu Games. Die eigentlichen Probleme und Ursachen liegen sehr viel tiefer und sind systematisch. Es ist aber einfacher die Ursachen in Unterhaltungsmedien zu suchen. Denn dann muss man ja nix ändern. Seit Jahrzehnten werden immer wieder Unterhaltungsmedien verantwortlich gemacht.
xaan
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von xaan »

Peninsula hat geschrieben: 7. Okt 2019, 18:23 Feedback zur Folge
Ich fand die Folge insgesamt auch sehr unglücklich. Mag ja sein, dass eine Verteidigung des Eskapismus nicht ausgewogen sein muss, aber mir fehlte völlig eine auch nur ansatzweise "wohlwollende" Interpretation der Gegenseite. Stattdessen wurde permanent unterstellt, Eskapismuskritiker*innen wollten sich bloß elitär vorkommen und hätten Eskapismus nicht verstanden.

Nee, Jochen sowohl im Fall von Anno als auch im Fall von Battlefield haben viele Kritiker*innen genau das, was du da beschreibst, sehr wohl verstanden, [...]
Dem kann ich nur zustimmen und insbesondere bei dem Beispiel Dom Schotts Artikel zu Anno bin ich völlig Gegenteiliger Ansicht als Jochen. Es mag sein, dass WIR nicht ständig den Reminder brauchen, dass Anno nicht historisch akkurat ist. Es mag sein, dass in unserer Filterbubble keine Jugendlichen existieren, die dumm genug sind, den Unterschied nicht zu sehen. Wir können aber nicht davon ausgehen, dass jeder Mensch da draußen den selben Zugang zu Bildung hat. Und sei es auch "nur" eine Sprachbarriere weil jemand aus dem Ausland eingewandert ist? Wie stellt es sich für jemanden dar, der die Phase der Industrialisierung und Kolonialisierung nicht im Schulunterricht in ausreichendem Detailgrad mitbekommen hat. Oder auch nur verpasst hat wegen Krankheit?

Nicht zuletzt sehen wir ja an der Realität, dass durchaus Menschen existieren, die in vielen erdenklichen Formen gerne und mit Elan Geschichtsrevidierung betreiben. Woher kommt das eigentlich? Das sollte es nicht geben, wenn wir annehmen, die Menschen seien allesamt intelligent genug sind um den Unterschied zu sehen. Klar, nicht immer ist fehlende Bildung das Problem derjenigen, die das aktiv betreiben - sie ist aber Grundvoraussetzung um damit überhaupt auf fruchtbaren Boden stoßen zu können.

So sehr der Eskapismus seinen Platz hat, so sehr muss auch die Kritik an spezifischen gesellschaftlichen Auswirkungen die durch den Eskapismus entstehen bzw. begünstigt werden können ebenfalls ihren Platz haben.
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Hegelkant
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Hegelkant »

Danke, Axel, für die interessanten Punkte, die ich tatsächlich so noch nicht gesehen habe. Mir ist klar, dass psychologische Phänomene und Verhaltensweisen vielfältige Ursachen haben, und es tut mir Leid, wenn ich teilweise stark verkürzt und Begriffe falsch verwendet habe.

Du schreibst, Eskapismus sei die Folge einer kaputten Work-Life-Balance. Das ist möglich (kannst du das näher ausführen?), aber dass meine Ansicht eine Fehleinschätzung sei, sehe ich noch nicht ganz ein. Ich argumentiere: wer sich in seiner Freizeit zu sehr eskapistisch beschäftigt, vernachlässigt andere Tätigkeiten wie Haushalt und Kontaktpflege, weil er dafür keine Zeit mehr hat. Dein Argument lautet, dass, wer sich einsam fühlt und seiner unordentlichen Wohnung entfliehen will, sich verstärkt eskapistisch beschäftigt. Womöglich ist auch beides richtig, und dies sind zwei Stufen einer selbstverstärkenden Schleife.

Mir geht es hauptsächlich um einen anderen Aspekt, nämlich Eskapismus *ohne* Anlass (sozusagen den Anfangspunkt dieser Schleife). Angenommen, das Leben ist völlig intakt, der Job ist stressfrei, aber es gibt halt Sachen im Haushalt zu tun oder Freunde, bei denen man sich schon lange mal wieder melden wollte. Oder eine Vereinssitzung, in der man sich engagieren könnte. Aber es gibt eben auch den Fernseher mit Netflix und den PC mit einem Steam-Account. Und dass *an dieser Stelle* immer mehr Fernseher und PC gewinnen, dass man immer mehr prokrastiniert, das ist für mich der zentrale Punkt der Eskapismuskritik (oder Medienkonsum allgemein). Das Überangebot führt dazu, dass es immer ein Spiel oder eine Serie gibt, die gerade unmittelbar dein Belohnungszentrum im Hirn antriggert. Eskapismus ist dann keine rationale Entscheidung, die ein menschliches Bedürfnis befriedigt, sondern mangelnde Impulskontrolle. Man fühlt sich auch nicht wohler dadurch, sondern man hat am Ende ein schlechtes Gewissen, und man kann dem nur durch ein immer größeres Maß an Selbstdisziplin entgegenwirken.

Dieser "prokrastinierende Eskapismus" ist der Kern meiner Kritik. Ich glaube sofort, dass die Ursachen sehr tief liegen (und würde gerne mehr darüber erfahren). Und ja, nach meinem heutigen Wissensstand(!) mache ich auch die Unterhaltungsmedien dafür verantwortlich.

Ich weiß grad nicht, gibt's zu dem Thema eigentlich auch eine "Nachgeforscht"-Folge?
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Lurtz
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Lurtz »

Hier übrigens mal ein aktuelles Beispiel, wie sowas wie der Anno-Artikel von Dom im Filmbereich aussieht:
https://www.zeit.de/kultur/film/2019-10 ... ettansicht
Children are dying.
That's a succinct summary of humankind, I'd say. Who needs tomes and volumes of history? Children are dying. The injustices of the world hide in those three words.
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Stuttgarter »

xaan hat geschrieben: 8. Okt 2019, 10:07 Dem kann ich nur zustimmen und insbesondere bei dem Beispiel Dom Schotts Artikel zu Anno bin ich völlig Gegenteiliger Ansicht als Jochen. Es mag sein, dass WIR nicht ständig den Reminder brauchen, dass Anno nicht historisch akkurat ist. Es mag sein, dass in unserer Filterbubble keine Jugendlichen existieren, die dumm genug sind, den Unterschied nicht zu sehen. Wir können aber nicht davon ausgehen, dass jeder Mensch da draußen den selben Zugang zu Bildung hat. Und sei es auch "nur" eine Sprachbarriere weil jemand aus dem Ausland eingewandert ist? Wie stellt es sich für jemanden dar, der die Phase der Industrialisierung und Kolonialisierung nicht im Schulunterricht in ausreichendem Detailgrad mitbekommen hat. Oder auch nur verpasst hat wegen Krankheit?

Nicht zuletzt sehen wir ja an der Realität, dass durchaus Menschen existieren, die in vielen erdenklichen Formen gerne und mit Elan Geschichtsrevidierung betreiben. Woher kommt das eigentlich? Das sollte es nicht geben, wenn wir annehmen, die Menschen seien allesamt intelligent genug sind um den Unterschied zu sehen. Klar, nicht immer ist fehlende Bildung das Problem derjenigen, die das aktiv betreiben - sie ist aber Grundvoraussetzung um damit überhaupt auf fruchtbaren Boden stoßen zu können.

So sehr der Eskapismus seinen Platz hat, so sehr muss auch die Kritik an spezifischen gesellschaftlichen Auswirkungen die durch den Eskapismus entstehen bzw. begünstigt werden können ebenfalls ihren Platz haben.
Fairerweise - was Jochen so aufgeregt hat, war diese eine Aussage "wer nicht Geschichte lehrt oder studiert, wird durch Anno was falsches lernen". Diese Aussage in dieser Absolutheit ist natürlich dackelhaft (wie man bei uns sagt).
Ansonsten aber (natürlich :) ) völlig Deiner Meinung - samt dem Zusatz, dass selbst eine Anwesenheit im Geschichtsunterricht nicht bedeutet, dass man auch alles mitbekommt, was da so gesagt wird. Das Geschichtsinteresse bei meinen Mitschülern war doch sehr... unterschiedlich... ausgeprägt.

Abgesehen davon könnte ich ausm Stand grad gar nicht sagen, ob in meinen sieben Jahren Geschichtsunterricht (samt Geschichts-LK, Abi 99) die Kolonialisierung überhaupt eine nennenswerte Rolle gespielt hat. Rückblickend hab ich in einigen Bereichen den Eindruck, dass das zumindest etwas tiefergehende historische Wissen, das ich habe, nicht aus der Schulzeit stammt. Und was den D-Day angeht - selbstverständlich stammt meine Vorstellung davon aus "James Ryan", "Band of Brothers" und "MoH:AA"...
Andreas29

Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Andreas29 »

Lurtz hat geschrieben: 8. Okt 2019, 10:27 Hier übrigens mal ein aktuelles Beispiel, wie sowas wie der Anno-Artikel von Dom im Filmbereich aussieht:
https://www.zeit.de/kultur/film/2019-10 ... ettansicht
Also ich habe nichts dagegen, wenn man Filme politisch bewertet und kulturell einordnet und dabei durchaus sehr kritisch ist. Solange die Baseline ist, dass jeder selber entscheidet, ob er sich ihn ansieht und wie er ihn bewertet. Sprich: Keine (Selbst)Zensur. Allerdings gerät gerade diese "Incel-Kritik" am Joker zum intellektuellen Circlejerk in den Feuilletons. Das wird jetzt seit Wochen rauf und runter debattiert und eigentlich schreibt jeder Essayist dasselbe. Wir haben es kapiert... den Joker kann man so lesen, muss man aber nicht.

Außerdem haben solche Kritiken auch einen Subtext bzw. eine Wirkung auf den Leser. Und Kritiker müssen wiederum auch Kritik vertragen. Hier z.B., dass sie es Menschen nicht zutrauen einen solchen Film wie Joker selber einordnen zu können. Das ist eine ziemlich paternalistische Haltung. Und es schwingt auch immer mit, dass diejenigen, die den Film gut finden, selber "Incels"´sind oder mit dem “Incelsein” sympathisieren. Oder eine “Fuck the System” - Weltanschauung haben. Oder den Film als Rechtfertigung für Gewalt verstehen.

Und btw: Zum Joker gibt es gar nicht mal so selten die Meinung, dass man ihn auch wegsperren müsste. Zwar nicht in den großen Outlets, aber der ein oder andere Blogger hat sich zu der Forderung schon verpflichtet gefühlt.

Und um zum Threadthema zurückzukommen: Das ist auch der Grund, warum es hier so emotional zugeht. Man kann hundertmal betonen, dass man ja nichts verbieten will. Faktisch wertet man aber den Medienkonsum eines anderen Menschen ab.

Wenn ich jetzt Anno spiele und den Spaß meines Lebens habe, muss ich dann damit rechnen als Befürworter von Imperialismus zu gelten? Solche Fragen beschäftigen einen und beeinträchtigen die Spiel- bzw. bei Filmen die Seherfahrung.

Intellektuelle Debatten über Popkultur und Kunst sind immer Willkommen. Aber man muss immer im Hinterkopf behalten, dass man sich nicht ÜBER den Konsumenten stellen darf.
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DexterKane
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von DexterKane »

Stuttgarter hat geschrieben: 8. Okt 2019, 10:34 Abgesehen davon könnte ich ausm Stand grad gar nicht sagen, ob in meinen sieben Jahren Geschichtsunterricht (samt 1Geschichts-LK, Abi 99) die Kolonialisierung überhaupt eine nennenswerte Rolle gespielt hat. Rückblickend hab ich in einigen Bereichen den Eindruck, dass das zumindest etwas tiefergehende historische Wissen, das ich habe, nicht aus der Schulzeit stammt. Und was den D-Day angeht - selbstverständlich stammt meine Vorstellung davon aus "James Ryan", "Band of Brothers" und "MoH:AA"...
Echt?
Ich hab mich ja absichtlich rausgehalten, aber da muss ich doch mal nachfragen. :)
Ich hab ebenfalls 99 Abi gemacht (Allerdings Geschichts-GK in NRW) und bei uns war das eins der 4 Schwerpunktthemen (Kolonialismus, Fr. Revolution, 1. WK und Weimar, 2. WK).

Ähnlich wie bei Jochen stört mich bei diesem Kritikansatz ebenfalls massiv, dass mir da implizit die Abstraktionsfähigkeit abgesprochen wird.
Das ist aus meiner persönlichen Sicht nichts anderes als zu sagen, die „Killerspiele“ verleiten mich dazu im echten Leben leichter zu Gewalt zu neigen.

Es mag ja sein, dass die meistens Leute weniger Detailwissen über Geschichte haben als ich, weil das halt ein Hobby von mir ist (Ich recherchiere bei historischen Serien auch gerne mal die „realen“ Hintergründe.).
Aber sorry, das ist Allgemeinwissen! Das wissen auch Leute außerhalb der geisteswissenschaftlichen Filterblase (zu der ich selbst auch nicht gehöre). Und das Anno hier Leute verdummt, ach bitte!
Du kannst es ja trotzdem kritisieren, aber dann doch bitte nicht unter dieser „Denk doch einer an den dummen Plebs!“ Prämisse.
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Stuttgarter »

Andreas29 hat geschrieben: 8. Okt 2019, 10:51 Also ich habe nichts dagegen, wenn man Filme politisch bewertet und kulturell einordnet und dabei durchaus sehr kritisch ist. Solange die Baseline ist, dass jeder selber entscheidet, ob er sich ihn ansieht und wie er ihn bewertet. Sprich: Keine (Selbst)Zensur. Allerdings gerät gerade diese "Incel-Kritik" am Joker zum intellektuellen Circlejerk in den Feuilletons. Das wird jetzt seit Wochen rauf und runter debattiert und eigentlich schreibt jeder Essayist dasselbe. Wir haben es kapiert... den Joker kann man so lesen, muss man aber nicht.
Das ist aber ein individuelles Problem - wenn Du alles zu "Joker" liest, was so veröffentlicht wird, wirst Du Häufungen erleben, ganz klar. Mir war der Film bislang völlig egal - und der ZEIT-Artikel ist der erste (und vermutlich auch einzige), den ich dazu lese. Und für viele ZEIT-Leser dürfte das ebenfalls das einzige Mal sein, wo sie sich mit dem Film beschäftigen. Insofern befürworte ich durchaus, dass sich jedes Feuilleton mit dem Thema beschäftigt. Ich muss ja nicht jeden Artikel zu dem Thema lesen.
Andreas29 hat geschrieben: 8. Okt 2019, 10:51 Wenn ich jetzt Anno spiele und den Spaß meines Lebens habe, muss ich dann damit rechnen als Befürworter von Imperialismus zu gelten? Solche Fragen beschäftigen einen und beeinträchtigen die Spiel- bzw. bei Filmen die Seherfahrung.

Intellektuelle Debatten über Popkultur und Kunst sind immer Willkommen. Aber man muss immer im Hinterkopf behalten, dass man sich nicht ÜBER den Konsumenten stellen darf.
Die Frage sollte der Thread eigentlich selbst beantworten - da hier einige geschrieben haben, dass sie mit dem Spiel sehr viel Spaß hatten und trotzdem die Kritik für berechtigt halten. Genauso wie auch geschrieben wurde, dass man mit "Rambo 3" seinen Spaß haben kann und trotzdem genau weiß, dass der Film ein Stück menschenverachtender Dreck ist. Vielleicht würde es der gesamten Diskussion gut tun, wenn weniger schwarz-weiß/entweder-oder gedacht werden würde?

Niemand hier, wenn ichs richtig überblicke, sagt, dass Anno selbst oder die, die Anno spielen, böse sei(en). Es geht ausschließlich darum, dass das in Anno vermittelte Geschichtsbild in der Auswirkung problematisch sein könnte. Nichts anderes sagt auch Doms Artikel, wenn ichs recht verstehe. Daraus Verbote oder "Bin ich jetzt ein böser Mensch?" ableiten tun eigentlich nur diejenigen, die mit dem Artikel nicht einverstanden sind. Und bis zu einem gewissen Grad kann ich ja noch nachvollziehen, dass da vermutlich wirklich das "Killerspiel"-Trauma eine Rolle spielt. Aber es wäre doch hilfreich (und das hab ich schon weiter vorn geschrieben), wenigstens kurz zu realisieren, dass dieser Artikel von keinem geifernden Unions-Politiker, von keinem "hart aber fair", von keinem Pfeiffer stammt - sondern von einem begeisterten Spieler. Der absolut unverdächtig sein dürfte, irgendwas per se verteufeln oder verbieten zu wollen.
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Stuttgarter »

DexterKane hat geschrieben: 8. Okt 2019, 11:04
Echt?
Ich hab mich ja absichtlich rausgehalten, aber da muss ich doch mal nachfragen. :)
Ich hab ebenfalls 99 Abi gemacht (Allerdings Geschichts-GK in NRW) und bei uns war das eins der 4 Schwerpunktthemen (Kolonialismus, Fr. Revolution, 1. WK und Weimar, 2. WK).
Unsere Sternchenthemen waren praktisch komplett auf "20 Jahre Mauerfall" ausgelegt - "Deutschland nach '45/zwei deutsche Staaten/Internationale Bündnisse nach '45/Mauerfall". Dazu (vermutlich als Gegenüberstellung gedacht) noch fr. Revolution und russische Revolution. Es war aber absolut klar, dass im Jubiläumsjahr eine der zur Wahl stehenden Abi-Klausuren sich komplett mit dem kalten Krieg bis zu seinem Ende beschäftigen wird.
DexterKane hat geschrieben: 8. Okt 2019, 11:04 Ähnlich wie bei Jochen stört mich bei diesem Kritikansatz ebenfalls massiv, dass mir da implizit die Abstraktionsfähigkeit abgesprochen wird.
Das ist aus meiner persönlichen Sicht nichts anderes als zu sagen, die „Killerspiele“ verleiten mich dazu im echten Leben leichter zu Gewalt zu neigen.

Es mag ja sein, dass die meistens Leute weniger Detailwissen über Geschichte haben als ich, weil das halt ein Hobby von mir ist (Ich recherchiere bei historischen Serien auch gerne mal die „realen“ Hintergründe.).
Aber sorry, das ist Allgemeinwissen! Das wissen auch Leute außerhalb der geisteswissenschaftlichen Filterblase (zu der ich selbst auch nicht gehöre). Und das Anno hier Leute verdummt, ach bitte!
Du kannst es ja trotzdem kritisieren, aber dann doch bitte nicht unter dieser „Denk doch einer an den dummen Plebs!“ Prämisse.
Dass der zitierte Professorensatz absolut saudumm ist, darüber herrscht hier ja Einigkeit. Jetzt hab ich aber auch keinerlei Geschichte studiert - und beziehe den Satz trotzdem nicht automatisch auf mich. Auch einen Satz wie "Jazz-Musiker sind ja immer unpünktlich und unorganisiert" kann ich problemlos als Allgemeinplatz akzeptieren, der selbstverständlich nicht jeden einzelnen Jazzer als weltfremden Chaoten abstempelt. Was der Satz bei mir allerhöchstens auslöst ist ein Hinterfragen, "Hm, bin ich in dem Spital auch krank?". Dann komm ich für mich zu dem Ergebnis, "manchmal schon - aber wenns drauf ankommt, bin ich absolut zuverlässig". Und weiß trotzdem, dass ich massenhaft Kollegen habe, denen man besser eine frühere Anfangszeit als die eigentliche sagt. (Edit: Wenn mich im direkten Gespräch jemand mit so einem Satz konfrontiert, dann reagiere ich natürlich drauf - und weise darauf hin, dass es eine unzulässige Verallgemeinerung ist. Aber wenn ich ihn in einem Artikel lesen würde, hätte ich jetzt keinerlei Motivation, mich sofort mit dem Autoren anzulegen. Maximal würd ich einen sachlichen Kommentar drunterschreiben, "So stimmt das nicht mehr - der Jazz hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten sehr professionalisiert, was das angeht".)

Auf das Geschichts-Spiele-Thema übertragen wäre meine Antwort: "Ich persönlich brauch kein Anno, das mir den Kolonialismus zeigt - aber ein MoH (und auch James Ryan etc), das die Landung in der Normandie realistischer gezeigt hätte, wär für mein historisches Wissen cooler gewesen." Jetzt kann man sich sicher streiten, wie wichtig es ist, vom D-Day ein möglichst realistisches Bild zu haben - ich würd in dem Fall auch sagen, das entscheidende ist zu wissen, dass es ihn gab und mit welchem Ergebnis. Wenn ich jetzt aber für mich mir vorstelle, beim D-Day wäre mein Wissen schon vor MoH ausreichend gewesen, um zu wissen, dass er "falsch" dargestellt wird, bei Anno aber nicht - dann seh ich eben eine problematische Darstellung in dem Fall.

Mein Appell ist letztlich, sich von diesem idiotischen Zitat zu lösen - und sich nicht automatisch selbst oder das eigne Umfeld angesprochen zu fühlen.

Und wie sehr es um das "Allgemeinwissen" bestellt ist - wie geschrieben, seit 2015 lese ich verdammt oft die Frage, warum "wir Europäer" eigentlich Verantwortung für Afrika haben sollen. Zum Teil steckt da sicher bewusstes Ignorieren dahinter, zum Teil vermutlich wirklich Unwissen - aber so oder so kann man ein Spiel halt problematisch finden, das diese Denkweise unbewusst! unterstützt. Ja, "unbewusst" - ich unterstelle den Entwicklern nämlich in keinster Weise, absichtlich ein Spiel zu produzieren, das die Geschichte verfälscht. (Anders als seinerzeit bei KC:D - da hielt ich das sehr wohl für möglich, was aber vor allem an Vavra lag. Wenn so ein Typ ein Spiel entwickelt, das von allen historischen Möglichkeiten immer ausgerechnet die nimmt, die seiner Ideologie entsprechen, dann tu ich mir eben schwer, das als "Zufall" anzusehen.)

Edit: Ganz kurz kanns man vermutlich so zusammenfassen: Kaum jemand fordert, dass Spiele aktiv Bildung betreiben. Es wird nur kritisiert, wenn sie so gestaltet sind, dass sie das Gegenteil bewirken können. Phazonis hat dazu alles wesentliche in meinen Augen ausgeführt - samt dem wieder und wieder vorgebrachten Punkt, dass jedes Spiel diese Klippe ganz einfach umschiffen kann, in dem es sich einen deutlichen nicht-historischen Anstrich gibt. Was aber zumindest die Werbekampagne für "Anno" definitiv nicht getan hat.
Zuletzt geändert von Stuttgarter am 8. Okt 2019, 11:47, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von xaan »

DexterKane hat geschrieben: 8. Okt 2019, 11:04Echt?
Ich hab mich ja absichtlich rausgehalten, aber da muss ich doch mal nachfragen. :)
Ich hab ebenfalls 99 Abi gemacht (Allerdings Geschichts-GK in NRW) und bei uns war das eins der 4 Schwerpunktthemen (Kolonialismus, Fr. Revolution, 1. WK und Weimar, 2. WK).
Ich bin zwar nicht Stuttgarter, aber habe ähnliche Erfahrungen. In unserem Geschichts-LK stand es uns frei zumindest einige der Themen selbst zu wählen und die Wahl fiel auf Brandenburg-Preussen. Das wurde dann auch in wundervollem Tiefgang behandelt. Aber es hat auch dazu geführt, dass andere Themen zurücktreten mussten. Und da dem 2. WK allein aus historischer Verantwortung heraus angemessen viel Zeit gewidmet werden muss, war es dann eben der Kolonialismus, der eher stiefmütterlich behandelt wurde. Wichtige Ereignisse und Persönlichkeiten, wie z.B. Rudolf Manga Bell, kenne ich eben gerade nicht aus dem Geschichtsunterricht weil sie dort schlicht nicht vorgekommen sind.

Mag sein, dass der insbesondere in einem Grundkurs anders ist weil da auch nicht die Möglichkeit der Themenwahl angeboten wird.
DexterKane hat geschrieben: 8. Okt 2019, 11:04Ähnlich wie bei Jochen stört mich bei diesem Kritikansatz ebenfalls massiv, dass mir da implizit die Abstraktionsfähigkeit abgesprochen wird.
Das ist aus meiner persönlichen Sicht nichts anderes als zu sagen, die „Killerspiele“ verleiten mich dazu im echten Leben leichter zu Gewalt zu neigen.
Ich finde den Vergleich unpassend, denn da werden Wirkmechanismen gleich gesetzt die nicht zwingend gleich sind.

Davon abgesehen frage ich mich schon woher z.B. Reichsbürger denn eigentlich kommen, wenn denn nicht gerade dadurch, dass eine verzerrte Geschichtsdarstellung innerhalb der Filterbubble einiger Leute so stark vertreten war, dass es deren Bild der Geschichte so sehr geprägt hat, dass sie dieses Bild sogar gegen den durch Quellen belegbaren gesellschaftlichen Konsens verteidigen.

So ein Effekt entsteht natürlich nicht durch ein einziges Anno. Aber er kann entstehen, wenn unsere gesamte mediale Wahrnehmung nur noch eine verzerrte Realität enthält und gleichzeitig keine aufklärenden Artikel existieren, die das richtig stellen. Artikel wie der von Dom Schott. Der erfüllt seine Funktion allein schon dadurch, dass er existiert und über Google auffindbar und verlinkbar ist.
oilrumsick
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von oilrumsick »

xaan hat geschrieben: 8. Okt 2019, 11:46
DexterKane hat geschrieben: 8. Okt 2019, 11:04Ähnlich wie bei Jochen stört mich bei diesem Kritikansatz ebenfalls massiv, dass mir da implizit die Abstraktionsfähigkeit abgesprochen wird.
Das ist aus meiner persönlichen Sicht nichts anderes als zu sagen, die „Killerspiele“ verleiten mich dazu im echten Leben leichter zu Gewalt zu neigen.
Ich finde den Vergleich unpassend, denn da werden Wirkmechanismen gleich gesetzt die nicht zwingend gleich sind.
Kannst du das bitte erläutern? Auch wenn mich das Thema interessiert, habe ich leider keine Zeit mir die 100 Studien von Peninsula durchzulesen. Gibt es gesicherte Ergebnisse zu beiden Wirkmechanismen (Die Auswirkung von Gewalt in Spielen und von Geschichtsdarstellung in Spielen), anhand derer man ablesen kann, dass sie funktionieren, wie sie funktionieren und dadurch auch, wie sie sich unterscheiden? Das würde mich tatsächlich sehr interessieren.

Grüße,
Rico
Stuttgarter
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Re: Runde 235: Eskapismus

Beitrag von Stuttgarter »

xaan hat geschrieben: 8. Okt 2019, 11:46
Mag sein, dass der insbesondere in einem Grundkurs anders ist weil da auch nicht die Möglichkeit der Themenwahl angeboten wird.
Danke für Deinen Erfahrungsbericht - zu dem Satz nur noch der Zusatz, dass zumindest zu meiner Zeit noch auch jedes Bundesland seine eigenen Lehrpläne und Regeln hatte. Grade BaWü und NRW waren 1999 zwei unterschiedliche Planeten, was das Abitur anging. Weiß ich, weil meine damalige Freundin ebenfalls '99 in NRW gemacht hat. Und deren Erzählungen ließen mich mit den Ohren schlackern...

Das wurde mittlerweile wohl verbessert - aber selbst einheitliche Abi-Klausuren sind noch kein Garant für gleiche Bedingungen. Letztes Jahr wurde in BaWü beispielsweise über das Englisch-Abi geklagt. Unser Ministerpräsident verwies darauf, dass die in Sachsen das gleiche Abi und kein Problem hatten. Stimmt, was die Klausur anging - aber nicht, was die Umstände betraf: Sachsen durfte ein "englisch-deutsch"-Wörterbuch benutzen, BaWü nur ein "englisch-englisch".

Sorry für den OT-Exkurs. (Und bevor sich jemand sorgt, keine Angst - bin demnächst für einige Stunden offline..)
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