Ich denke es ist nicht off Topic, wenn ich einen Schritt zurück mache und mal eine weitere Perspektive für den Diskurs anbiete.
Ich bin kein Soziologe, mein Verständnis zu dieser Wissenschaft stammt zu großen Teilen aus einer Crash Course Serie auf YouTube. In einer Folge wird dargelegt, wie ein Wissenschaftler namens W.E.B. Du Bois schon vor ca. 100 Jahren erste Studien durchgeführt und ausgewertet hat, die den Schluss nahe legen, dass nicht "kriminelle Menschen" dafür verantwortlich sind, dass "arme und/oder kriminelle Milieus" entstehen, sondern genau anders herum - dass (Diskriminierung und die damit einhergehende) Armut von Milieus, zu Kriminalität führen. Diese Kriminalität wird selbstverständlich nicht von der abstrakten Entität 'Milieu' ausgeführt, sondern von individuellen Menschen aus Fleisch und Blut, aus diesem Milieu. Soweit mir bekannt ist, hat sich diese Kausalrichtung im Feedback Loop seit dem stets bestätigt und zählt damit zu den Grundlagen dieser Wissenschaft.
[Anm.: Es wäre der Gesellschaft imho kein Schaden angetan, wenn diese einfache Logik zur grundlegenden Lehrplan jeder Schülerin und jeden Schülers sein sollte, aber das wäre wirklich off topic.]
Ich stelle also folgende Prämisse in den Raum:
Armut und Diskriminierung führen zu Frust, Verbrechen und Gewalt.
Mit diesem Fundament im Hinterkopf möchte ich auf eine Antwort aus einem Interview von der letzten Podcast Folge (#161) 'Lage der Nation' verweisen. Es geht auch um den Terroranschlag in Halle und Interviewt wird Bernd Wagner, ein Mensch, der sich seit fast 20 Jahren mit Extremisten in Deutschland beschäftigt. Er ist Gründer von 'Exit', einer Organisation, die Menschen hilft, sowohl aus rechtsextremen, als auch aus islamistischen Szenen auszusteigen. Er hat geholfen über 700 Menschen da raus zu bekommen.
Auf die Frage, was denn der Staat beitragen kann, um solchen Menschen den Ausstieg zu erleichtern antwortet er in dem Interview:
„[Der Staat muss] positive Funktion schaffen. Das Gericht muss funktionieren, da kann nicht zehn Jahre lang verhandelt werden. Die Polizei muss da sein, wo sie gebraucht wird. Die Opfer müssen präventiv geschützt werden. Die Schulen müssen funktionieren. Sie müssen auch gut aussehen - gut riechen, und nicht nach Urinalen stinken. Alle diese Dysfunktionalitäten wirken wie Katalysatoren für diesen Extremismus.
Heute Propaganda für die Demokratie zu machen, die Demokratie als Religion aufzuführen, halte ich für den größten Hintertreppenwitz der Geschichte - und da macht sich die Demokratie selbst kaputt dadran.“
Mir ist die Gefahr bewusst, dass ich hier Rosinen picke, aber diese Aussage erscheint mir so schlüssig und integer zu dem, was ich die Soziologinnen beschreiben.Und, dass Menschen, die sich von der Gesellschaft und/oder direkt vom Staat isoliert und sogar angegriffen fühlen, empfänglich für die manipulative Rhetorik von extremistischen und gewalttätigen Bewegungen sind, halte ich selbstredend.
Und wenn man das aus dieser Perspektive betrachtet, dann liegt die Macht daran etwas zu ändern tatsächlich direkt in den Händen der Politik. Denn sie definieren die Regeln, in denen wir als Bürgerinnen unseren Alltag Spielen. Das Regelset steht in den Gesetzbüchern und die Entwickler, sind die Regierungs- und Oppositionspolitiker. Wenn z.B. neue Technologien die Meta beeinflussen, dann müssen die Regeln gepatcht werden, weil das Spiel andernfalls zwangsläufig broken ist.
Jeder Politiker, der die Balanceprobleme mit Polizeigewalt und Überwachung lösen will sagt im Grund: „Unser Spiel funktioniert super, das Problem sind nur die Spieler, die es falsch spielen.“ Ich meine, die Forderung nach mehr Überwachung und Polizeigewalt ist doch das direkte Eingeständnis, dass man als Regierung versagt hat, oder nicht?
Und in dem Kontext sollte Seehofers Aussage, imho, betrachtet werden. Gewalt und Extremismus sind Folgen, politischen Handelns. Aber es geht nicht um Polizeigesetze,
[und selbstverständlich geht es nicht um Computerspiele!] sondern es geht um Hartz IV, Renten, Mietpreise, die schwarze Null, eine Loch von einer halbe Milliarde Euro im Sozialsystem weil ein einzelner CSU Politiker irgendwelche Mautverträge unterschreibt, etc. - Es geht um politische Inkompetenz.
Seehofer und seine Kolleginnen sind ganz genau die richtigen Ansprechpartnerinnen. Aber man darf ihnen als Journalisten nicht die Hoheit über das Narrativ überlassen.
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Quellen:
Crash Course Sociology #7 [W.E.B. Du Bois & Race Conflict]:
https://www.youtube.com/watch?v=-wny0OA ... GA&index=8
Lage der Nation #161:
https://youtu.be/1_WXci46CYs?t=994