Runde #317: Cancel Culture?

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Elb356
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Elb356 »

zu Anno und Dom:
Ich teile, dass man da durchaus Kritik an Anno anbringen kann. Die Art und Weise teile ich aber nicht. Besonders schade finde ich, dass Dom im Nachhinein vor allem auf die Reaktionen von Spielern und Entwicklern schaut.
Ich meine das gar nicht despektierlich, aber ich glaube es existieren noch ein paar Leerstellen bei Dom zum Thema Kulturkritik und Kritik im Allgemeinen, zumal er sich ja vom klassischen Produktjournalismus ja abwenden will (was ich sehr gut finde).
Bei einer Kritik an einem Buch oder Film muss es um die Sache an sich gehen. Aussagen der Autoren dürfen keine Rolle spielen, das Werk steht im Mittelpunkt. Es geht auch nicht darum Druck auf jemanden auszuüben und eine Änderung wie in diesem Fall im nächsten Anno herbeizuführen, sondern darum am Großen und Ganzen zu Arbeiten und ein Bewusstsein zu schaffen. Die Vorstellung den Entwickler zu einer Stellungnahme zu bringen, kommt wohl aus einer investigativen Haltung heraus, die hier aber überhaupt nicht greift. Wenn es um den Inhalt des Spiel geht, handelt es sich um etwas rein Interpretatorisches bis hin hin zum Politischen und Philosophischen. Empirisch belegen kann man da allerdings nichts.
Desweiteren hallte ich es für einen Fehler das Historische von dem Medium abzutrennen und gesondert zu behandeln. Ist es nicht viel entscheidender was der Spieler interaktiv macht/nicht macht und wie er auf das Ganze blickt?

Wo ich Jochen noch recht geben würde ist, dass es in einem Spiel wie Anno so wie es sich Dom wünscht nicht umsetzbar wäre bzw nicht wünschenswert wäre.
Es gibt da dieses Beispiel mit McDonalds. Um bei den Kunden kein schlechtes Gewissen zu erzeugen, kann man an der Kasse für die dritte Welt spenden, es gibt gesündere Essens-Alternativen im Angebot, umweltfreundliche Initiativen etc. Wie es aber hinter dieser Fassade aussieht scheint allerdings nur die wenigsten zu interessieren.
Ein Wohlfühl-Anno mit Sklaverei wäre genau das.
Hier ein Baudrillard-Zitat dazu: "Das System produziert eine Negativität als trügerischen Schein, der in die Produkte des Spektakels integriert wird, das ist die effektivste Methode jeder echten Alternative einen Riegel vorzuschieben. Es gibt keinen äußeren Omega-Punkt mehr auf den man sich stützen kann um diese Welt zu denken." man integriert quasi die Kritik am eigenen Spiel mit ein, nur um sich davon zu immunisieren und Kritik mundtot zu machen..


Und ich glaube dass Dom immer noch unterbewusst beim Spiel als Produkt ist. Würde man von einem Stephen King verlangen einen "Cultural Adviser" einzustellen oder sind die Diskussionen dazu nicht viel mehr wert als wenn man textbuchartig so etwas durch einen "Cultural Adviser" unter den Teppich kehrt?
Voigt
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Voigt »

Mhm die gute alte Anno Diskussion mal wieder, werde die Folge sicher demnächst mal anhören, bisher kam ich aber noch nicht dazu.

Aber ich das vor paar Wochen doch mal Anno 1800 probierte vom Kumpel geborgt, und dort die Kampagne spielte.. ehm implizit gibt es doch Sklaven?
Wenn man in die neuen Welt kommt, bekommt man ja Quest die Leute da zu der eigenen Insel zu evakuieren, und die sagen ja dass die beim Konkurenten wie Sklaven gehalten wurden. Die nehmen zwar nicht das Wort Sklave in den Mund, aber beschreiben halt den Zustand.
Im eigenen Reich gibt es halt dann keine Sklaven (nur Lohnsklaven :P). Aber finde das passt auch im 19. Jhr in einem Britisch angehauchten Spiel, Sklaverei ging da schon deutlich zurück. Natürlich war nicht alles paletti, besonders in Indien gab es immernoch sehr starkes Abhängigkeitsverhältnis von indischen "Bediensteten" zu den Briten, aber das machte auch nicht jeder mit und nicht jeder Brite war in Indien.

Nur weil die Amerikaner mit ihren Jim Crow Regeln immernoch stark im Sklavenmindset verhaftet waren, und die Europäer noch Imperialistisch/Rassistisch unterwegs waren, heißt das nicht dass die Europäer im großen Stil noch Sklavenhalter waren.
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Andre Peschke
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Andre Peschke »

Dr_Hasenbein hat geschrieben: 2. Mai 2021, 13:19 Es geht mir insbesondere um Ostdeutsche in Westdeutschland. Und bitte entschuldige, aber diese AfD Argumentation gehe ich nicht mit. Die Mehrheit der Ostdeutschen wählt keine AfD und auch nicht die in Westdeutschland.
Das war kein Argument, es war ein Beispiel für Gestaltungsmacht. Ich stimme dir in dem, was du schreibst, auch zu. Ich schrieb ja selbst, man kann auch für Ostdeutsche schon einen Case machen, wie du es tust. Aber andere Gruppen sind eben nochmal schutzbedürftiger. Es ging mir nur um die Frage, wie vor meiner Antwort zitiert, wieso da Unterschiede überhaupt gemacht werden.

Das die Gesellschaft außerdem sicherlich immer wieder mit zweierlei Maß misst, wird garantiert so sein. „Aber Ostdeutsche müssen sich das auch anhören“ ist dann halt nur kein Argument gegen Kritik an rassistischen Stereotypen gegenüber anderen Gruppen. Wie immer kann man nicht alle Probleme gleichzeitig adressieren und so stehen halt Minderheiten / Frauen derzeit im Fokus, die Benachteiligung von Ostdeutschen eben nicht. Da sollte man eher für die Priorisierung dieser Gruppe argumentieren, nicht gegen die Auseinandersetzung mit den anderen.

André
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Dr_Hasenbein »

Andre Peschke hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:19
Dr_Hasenbein hat geschrieben: 2. Mai 2021, 13:19 Es geht mir insbesondere um Ostdeutsche in Westdeutschland. Und bitte entschuldige, aber diese AfD Argumentation gehe ich nicht mit. Die Mehrheit der Ostdeutschen wählt keine AfD und auch nicht die in Westdeutschland.
Das war kein Argument, es war ein Beispiel für Gestaltungsmacht. Ich stimme dir in dem, was du schreibst, auch zu. Ich schrieb ja selbst, man kann auch für Ostdeutsche schon einen Case machen, wie du es tust. Aber andere Gruppen sind eben nochmal schutzbedürftiger. Es ging mir nur um die Frage, wie vor meiner Antwort zitiert, wieso da Unterschiede überhaupt gemacht werden.

Das die Gesellschaft außerdem sicherlich immer wieder mit zweierlei Maß misst, wird garantiert so sein. „Aber Ostdeutsche müssen sich das auch anhören“ ist dann halt nur kein Argument gegen Kritik an rassistischen Stereotypen gegenüber anderen Gruppen. Wie immer kann man nicht alle Probleme gleichzeitig adressieren und so stehen halt Minderheiten / Frauen derzeit im Fokus, die Benachteiligung von Ostdeutschen eben nicht. Da sollte man eher für die Priorisierung dieser Gruppe argumentieren, nicht gegen die Auseinandersetzung mit den anderen.

André
Das Problem ist für mich nicht, dass man Unterschiede macht sondern folgendes: Auf Twitter werden Ostdeutsche beispielsweise einfach als privilegierte Weiße die mitschuldig sind im besten Fall, oder pauschal als Nazis gelabelt im schlimmsten Fall von genau denjenigen, die sich vermeintlich für Benachteiligte einsetzen. Und das stört mich.
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Elb356 »

Andre Peschke hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:19
Dr_Hasenbein hat geschrieben: 2. Mai 2021, 13:19 Es geht mir insbesondere um Ostdeutsche in Westdeutschland. Und bitte entschuldige, aber diese AfD Argumentation gehe ich nicht mit. Die Mehrheit der Ostdeutschen wählt keine AfD und auch nicht die in Westdeutschland.
Das war kein Argument, es war ein Beispiel für Gestaltungsmacht. Ich stimme dir in dem, was du schreibst, auch zu. Ich schrieb ja selbst, man kann auch für Ostdeutsche schon einen Case machen, wie du es tust. Aber andere Gruppen sind eben nochmal schutzbedürftiger. Es ging mir nur um die Frage, wie vor meiner Antwort zitiert, wieso da Unterschiede überhaupt gemacht werden.

Das die Gesellschaft außerdem sicherlich immer wieder mit zweierlei Maß misst, wird garantiert so sein. „Aber Ostdeutsche müssen sich das auch anhören“ ist dann halt nur kein Argument gegen Kritik an rassistischen Stereotypen gegenüber anderen Gruppen. Wie immer kann man nicht alle Probleme gleichzeitig adressieren und so stehen halt Minderheiten / Frauen derzeit im Fokus, die Benachteiligung von Ostdeutschen eben nicht. Da sollte man eher für die Priorisierung dieser Gruppe argumentieren, nicht gegen die Auseinandersetzung mit den anderen.

André
du bringst das Gegenargument für deinen Punkt ja schon selbst. Frauen haben in deiner Theorie, wie du es nennst, sehr viel "Gestaltungsmacht". Da jede Frau schließlich wie jeder Mann auch eine Stimme bei jeder Wahl hat. Trotzdem sieht die Realität anders aus und es gibt immer noch Ungleichheit.
Glaube der Punkt ist wirklich der, dass man verschiedene Gruppen nicht gegeneinander ausspielen sollte. Jetzt wird auch nur davon geredet dass irgendwo auf Twitter zum Boykott aufgerufen wird und es toxische Gegenreaktionen gibt. Dass es sich bei Genshin um eines der ökonomisch erfolgreichsten Spiele handelt und diese Firma Milliarden damit macht scheint in der Diskussion keine Rolle zu spielen.
ZiggyStardust
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von ZiggyStardust »

Herr Weltschaft hat geschrieben: 2. Mai 2021, 10:36 Oder über Rassismus und Transphobie in Cyberpunk 2077. Da war man dann ganz schnell an dem Punkt, dass jeder, der Cyberpunk keine Transphobie unterstellte, selber transphob ist - oder zumindest kein Verbündeter im Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung.
Das hat mich auch verstört, wie prominent Foren wie ResetEra auf die vermeintliche Transphobie des Spiels hingewiesen haben. Die Transgenderperson in Cyberpunk 2077, eine Barkeeperin, die einen als Fahrer für illegale Rennen anheuert um ihren getöteten Mann zu rächen, wird doch ganz normal dargestellt. Wüsste nicht, was daran problematisch sein soll.

Aktuell beobachte ich beim Thema Rassismus einen starken Fokus auf Schwarze. Vor jedem Champions-League-Spiel wird aus Solidarität für Black Lives Matter gekniet. An vergleichbare Aktionen für Muslime kann ich mich nicht erinnern. In den USA ergibt der Fokus auf Schwarze total Sinn, aber in Deutschland gibt es mehr Muslime als Schwarze und die werden auch stärker diskriminiert, weil ja nicht nur ihr Aussehen, sondern auch ihre Religion rassistisch angegriffen wird.
Zuletzt geändert von ZiggyStardust am 2. Mai 2021, 14:49, insgesamt 1-mal geändert.
Inkognito
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Inkognito »

Bezüglich Geschichtsbild und Sklaven in Anno 1800:
Mir war es nicht bekannt, dass sich zu der Zeit deutsche Staaten sowohl am Sklavenhandel beteiligten noch, dass sie selbst Sklaven hielten. Im Gegenteil, zumindest einige Staaten des Deutschen Bundes missachteten die Abschaffung der Sklaverei durch den Wiener Kongress 1815 noch für Jahrzehnte.
-> Ohne Doms Artikel hätte ich die Darstellung in Anno 1800 für bare Münze genommen
-> Spiele beeinflussen unser Geschichtsbild massiv (genauso wie alle anderen Kukturprodukte mit denen wir Zeit verbringen)

Sehe gerade, dass in der dt. Wiki zu Anno 1800 der größte Absatz zu Doms Artikel geschrieben wurde. 😂
Zuletzt geändert von Inkognito am 2. Mai 2021, 14:55, insgesamt 2-mal geändert.
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Herr Weltschaft
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Herr Weltschaft »

tyr hat geschrieben: 2. Mai 2021, 13:54
Herr Weltschaft hat geschrieben: 2. Mai 2021, 12:06
imanzuel hat geschrieben: 2. Mai 2021, 11:18 Auf Genshin Impact bezogen, die werden explizit vom Spiel als primitiv und unzivilisiert bezeichnet. Deine Beschreibung oben würde ich auch nicht als so problematisch empfinden, die Kombination aus allem anderen macht es aber so heikel.
Aha :!:
Das ist aber eine ganz wichtige Information, die im Podcast nicht vorkam oder die ich überhört habe. Wenn dem so ist, stellt sich die Sache auch für mich schon etwas anders dar.
Ich habe gerade die Folge komplett am Stück gehört, und mir scheint definitiv, dass du das überhört hast, denn bei mir blieb das so haften, wie imanzuel das geschrieben hat.
Möglich. Das wird immer wieder passieren, weil ich beim Podcasthören ständig Sachen nebenher tue. Duschen (Wasser rauscht) oder den Frühstückstisch decken (Geschirr klappert) zum Beispiel.
Davon ab finde ich die Stammestänze als Aufhänger allerdings nach wie vor ungeschickt gewählt, vor allem wenn es da wirklich ein ganzes Bündel an problematischen Darstellungsformen gibt.
Zuletzt geändert von Herr Weltschaft am 2. Mai 2021, 15:01, insgesamt 1-mal geändert.
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ZiggyStardust
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von ZiggyStardust »

Inkognito hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:43 Bezüglich Geschichtsbild und Sklaven in Anno 1800:
Mir war es nicht bekannt, dass sich zu der Zeit deutsche Staaten sowohl am Sklavenhandel beteiligten noch, dass sie selbst Sklaven hielten. Im Gegenteil, zumindest einige Staaten des Deutschen Bundes missachteten die Abschaffung der Sklaverei durch den Wiener Kongress 1815 noch für Jahrzehnte.
-> Ohne Dom's Artikel hätte ich die Darstellung in Anno 1800 für Bare Münze genommen
-> Spiele beeinflussen unser Geschichtsbild massiv
Hat sich nicht Bismarck explizit gegen deutsche Kolonien ausgesprochen? Ich dachte deutsche Kolonien gab es nur zwischen 1880 und 1918 (Ende des 1. Weltkriegs). Ohne eigene Kolonien ist es ja schwer an Sklaven zu kommen.
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Dr_Hasenbein »

Inkognito hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:43 Bezüglich Geschichtsbild und Sklaven in Anno 1800:
Mir war es nicht bekannt, dass sich zu der Zeit deutsche Staaten sowohl am Sklavenhandel beteiligten noch, dass sie selbst Sklaven hielten. Im Gegenteil, zumindest einige Staaten des Deutschen Bundes missachteten die Abschaffung der Sklaverei durch den Wiener Kongress 1815 noch für Jahrzehnte.
-> Ohne Doms Artikel hätte ich die Darstellung in Anno 1800 für bare Münze genommen
-> Spiele beeinflussen unser Geschichtsbild massiv (genauso wie alle anderen Kukturprodukte mit denen wir Zeit verbringen)

Sehe gerade, dass in der dt. Wiki zu Anno 1800 der größte Absatz zu Doms Artikel geschrieben wurde. 😂
Das wesentlich Problem hier ist, dass Du deine Interpretation auf "unser" projezierst. So funktioniert das nicht. Ich habe zu keinem Zeitpunkt dem Spiel irgendeine glaubhafte Darstellung historischer Ereignisse abgekauft. Für mich war zu jedem Zeitpunkt klar, dass dieses Spiel ein Postkartenbild dieser Zeit darstellen sollte.
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Andre Peschke
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Andre Peschke »

Dr_Hasenbein hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:31 Das Problem ist für mich nicht, dass man Unterschiede macht sondern folgendes: Auf Twitter werden Ostdeutsche beispielsweise einfach als privilegierte Weiße die mitschuldig sind im besten Fall, oder pauschal als Nazis gelabelt im schlimmsten Fall von genau denjenigen, die sich vermeintlich für Benachteiligte einsetzen. Und das stört mich.
Auf Twitter wird halt viel Unsinn geschrieben. Deswegen benutze ich es zB gar nicht. Sich groß über den Unsinn dort auszutauschen, macht wenig Sinn.
lovecraftFTW hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:34 du bringst das Gegenargument für deinen Punkt ja schon selbst. Frauen haben in deiner Theorie, wie du es nennst, sehr viel "Gestaltungsmacht". Da jede Frau schließlich wie jeder Mann auch eine Stimme bei jeder Wahl hat. Trotzdem sieht die Realität anders aus und es gibt immer noch Ungleichheit.
Die Frage, auf die ich geantwortet habe, war ja „Warum es andere weniger wert sind, sich für sie einzusetzen“. Und da zielte ich darauf ab, wer sich eher auch aus eigener Kraft helfen kann. Frauen brauchen da per se weniger Unterstützung, aber es ist richtig dass da mein Punkt viel zu simpel ist. Bei Frauen spielt ja zB rein, ob kleine Mädchen quasi durch ihre Erziehung schon zu einem gewissen Grad „entmündigt“ werden etc.

Was ich schrieb war jetzt eher so als grobe Betrachtung gemeint, warum es da Unterschiede geben kann, obwohl die gleiche/ähnliche Art von Ungerechtigkeit zu beobachten ist.
lovecraftFTW hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:34 Glaube der Punkt ist wirklich der, dass man verschiedene Gruppen nicht gegeneinander ausspielen sollte.
Völlig deiner Meinung, s.o.
Inkognito hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:43 Mir war es nicht bekannt, dass sich zu der Zeit deutsche Staaten sowohl am Sklavenhandel beteiligten noch, dass sie selbst Sklaven hielten. Im Gegenteil, zumindest einige Staaten des Deutschen Bundes missachteten die Abschaffung der Sklaverei durch den Wiener Kongress 1815 noch für Jahrzehnte.
-> Ohne Doms Artikel hätte ich die Darstellung in Anno 1800 für bare Münze genommen
-> Spiele beeinflussen unser Geschichtsbild massiv (genauso wie alle anderen Kukturprodukte mit denen wir Zeit verbringen)
Man muss aber unterscheiden ob Anno eine vorhandene Wissenslücke einfach nicht schließt, oder Fehlannahmen erzeugt oder bestärkt. Es hat IMO keinen Bildungsauftrag, insofern finde ich ersteres unkritisch. Zweiteres wäre kritisch zu sehen, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass jemand denkt „Es gab um 1800 keinen Sklavenhandel in Europa, sonst hätte ich das in Anno 1800 ja gesehen“.

Es erscheint sinnvoller Doms lehrreichen Artikel zu loben, als Anno zu kritisieren. Anno also eher als Sprungbrett für Wissensvermittlung zu nutzen, anstatt dem Spiel diese Aufgabe aufzuerlegen.

André
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Herr Weltschaft
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Herr Weltschaft »

ZiggyStardust hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:36
Herr Weltschaft hat geschrieben: 2. Mai 2021, 10:36 Oder über Rassismus und Transphobie in Cyberpunk 2077. Da war man dann ganz schnell an dem Punkt, dass jeder, der Cyberpunk keine Transphobie unterstellte, selber transphob ist - oder zumindest kein Verbündeter im Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung.
Das hat mich auch verstört, wie prominent Foren wie ResetEra auf die vermeintliche Transphobie des Spiels hingewiesen haben. Die Transgenderperson in Cyberpunk 2077, eine Barkeeperin, die einen als Fahrer für illegale Rennen anheuert um ihren getöteten Mann zu rächen, wird doch ganz normal dargestellt. Wüsste nicht, was daran problematisch sein soll.
Mhm, Deine Antwort könnte man auch ironisch lesen. Meinst Du vermutlich nicht so, aber ich frage besser trotzdem mal nach.

Fakt ist doch, dass CDPR mit den Geschlechteroptionen im Charaktereditor der Transgender-Community weiter entgegengekommen ist als die meisten anderen Entwickler. Das wiederum hat Begehrlichkeiten erst geweckt und die Unvollständigkeit der Optionen wurde so negativ wie möglich ausgelegt. Einfach irre.
ZiggyStardust hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:36 Aktuell beobachte ich beim Thema Rassismus einen starken Fokus auf Schwarze. Vor jedem Champions-League-Spiel wird aus Solidarität für Black Lives Matter gekniet. An vergleichbare Aktionen für Muslime kann ich mich nicht erinnern. In den USA ergibt der Fokus auf Schwarze total Sinn, aber in Deutschland gibt es mehr Muslime als Schwarze und die werden auch stärker diskriminiert, weil ja nicht nur ihr Aussehen, sondern auch ihre Religion rassistisch angegriffen wird.
Nanu, der Absatz wird mir im Forum gar nicht angezeigt. Erst nach dem Klick auf Zitieren kann ich das lesen. :?:
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Terranigma
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Terranigma »

Langer Post auf dem Durchflug, darf man auch gerne überlesen! :D

Ich nehme den bisherigen Diskussionsverlauf zur Kenntnis, gehe aber einmal auf den letzten Themenpunkt des Podcasts ein. Weil ich diesen Teil der Folge verdammt spannend fand! Jochen und Dom sprachen dabei über folgende Aussage von Dr. Zimmerer bzgl. der Wirkung von Geschichtsdarstellungen auf das Geschichtsbild von Spielern. Im Artikel von Dom (2018) wird er wie folgt zitiert:
„Ich finde das hochproblematisch. Weil dadurch, dass Anno 1800 als historische Simulation daherkommt, erhebt es ja den Anspruch, die Geschichte abzubilden. Das heißt, gerade die Spieler, die nicht zufällig Geschichte studieren oder nicht Geschichtslehrer sind, die vermuten ja, so war das damals. Und wenn dann so ein entscheidender Faktor, der zum Wohlstand und zur Industrialisierung beigetragen hat, wie die transatlantische Sklaverei und die Sklavenwirtschaft fehlt, dann „lernen“ sie daraus, dass es das nicht gab. Und damit wird im Grunde, diese gesamte Aussage, worauf der Erfolg der europäischen Wirtschaft und Industrialisierung beruht, komplett verzehrt.“
Jochen gab an, dass es diese Aussage paternalistisch fände, weil sie allen Menschen, die weder Geschichte studiert haben oder es unterrichten, den gesunden Menschenverstand absprechen, und er diese Aussage mit Evidenz begründen oder ergebnisoffen als Annahme darstellen solle. Dom reagiert darauf mit dem Hinweis, dass anekdotische Evidenz im eigenen Umfeld - Anmerkung: ich vermute (!), dass dies Erwachsene mit ordentlichen Bildungsniveau sind - kein Gegenbeweis ist. Er führt weiter aus, dass man diese Annahme plausibel finden könne oder auch nicht, es hierzu aber keine Wirkungsforschung gäbe. So! An diesem Punkt wollte ich nun ansetzen, denn diese gibt es im gewissen Maße durchaus, nur ggf. nicht an der Stelle, wo man sie vermutet. Medienpädagogik ist da eine Adresse, es gibt allerdings eine weitere: nämlich die Geschichtsdidaktik.


Bildungsforschung - und die Didaktik eingeschlossen - war in Deutschland traditionell stark geisteswissenschaftlich orientiert, sodass evidenzbasierter Forschung eine vergleichsweise geringe zukam. Das hat sich u.a. seit dem PISA-Schock der 2000er mittlerweile erheblich geändert und auch in der Geschichtsforschung setzte sich die Erkenntnis durch, dass man Wände mit Büchern zur Geschichtsdidaktik, Geschichtsbewusstsein, Geschichtsvorstellungen, u.Ä. füllen kann, es allerdings vergleichsweise wenig evidenzbasierte Forschung zum Status Quo gibt. Der Befund, dass die Forschungslage dazu weiterhin dürftig ist, gilt immer noch. Aber im Bereich der Geschichtsdidaktik wird sich konzeptionell über den Begriff der "Geschichtskultur" seit vielen Jahren mit der (medialen) Darstellung von Geschichte in der Gesellschaft beschäftigt. Ebenso auch damit, welche Vorstellungen von Geschichte Menschen haben. Da dies vom Fachbereich her noch zumeist der Geschichtsdidaktik zugeordnet ist, sind die Probanten von Umfragen, u.Ä. zumeist Kinder und Jugendliche, keine Erwachsenen. Das bietet sich für die Diskussion zwischen Jochen und Dom allerdings auch insofern an, als das insb. Kinder und Jugendliche aufgrund ihres Entwicklungsprozesses im besonderen Maße für die Internalisierung von äußeren Einflüssen empfänglich sind. Positiver gesprochen: Sie sind formbar, einerseits zielgerichtet durch Erziehung und Bildung, ebenso auch nicht-zielgerichtet im Sinne der allgemeinen Sozialisierung. Das Alter ist relevant, und an dieser Stelle gehe ich nicht mit Jochens Argumentation mit, wenn er sinngemäß sagt: "Für wie blöd hält uns dieser Professor eigentlich?"

Die Frage ist, wer das "Wir" ist. Wenn wir mit "Wir" überdurchschnittlich gebildete Erwachsene meinen, die Teil von kulturellen Diskursen sind und somit eine Sensibilität diesen Themen gegenüber mitbringen, so sehe ich es ähnlich wie Jochen. Wir dürften ein solides Orientierungswissen über den Kolonialismus haben und die Darstellung in Anno 1800 eingermaßen kontextualisieren können. Anno 1800 hat allerdings eine Altersfreigabe von "Ab 6 Jahren." Anekdotische Evidenz: Ich habe Anno 1602 erstmalig im Alter von 10 Jahren gespielt und weiß noch, wie ich meinem Vater erzählte, dass ich da etwas über Geschichte lernen kann. Weil's ja ein "Geschichtsspiel" ist. Hier im Forum - auch in anderen Foren - haben viele User berichtet, wie sie mit Age of Empires und Co für den Geschichtsunterricht gelernt haben. Ich meine mich zu erinnern, dass auch einzelne Podcaster (?) sich in diese Richtung äußerten. Diese Spieler sind nicht fähig Geschichtsdarstellungen als Darstellung zu dekonstruieren. Gleichzeitig prägen aber insb. audiovisuell vermittelte Darstellungen das Geschichtsbild von Heranwachsenden im hohen Maße, weil sie - anders als etwa Bücher - Geschichte sicht- und hörbar machen, und somit der Darstellung ein hohes Maß an Authentizität zukommen lassen. Selbst wenn man rational weiß, dass es nur eine Darstellung ist und einzelne Elemente nicht historisch sind, benötigt es ein entsprechendes Orientierungswissen um zu erkennen, welche Elemente fiktiv sind. Anekdotische Evidenz: Ich unterrichte Geschichte und beginne den Unterricht als neues Fach i.d.R. damit, dass ich mir einen Überblick über die historischen Präkonzepte von Schüler*innen einhole, u.a.: "Was ist Geschichte?" oder "Was ist der Unterschied zwischen Geschichte und Vergangenheit?" Beim Einstieg in konkrete Themen mache ich das Vorwissen sichtbar. Und hier ist evident erkennbar, dass die Vorstellungen von Schüler*innen medial vermittelt sind. Heranwachsende kennen das, was in der Pop-Kultur angesagt ist: Steinzeit, Antike und Mittelalter. Insbesondere die Vorstellungen zum Mittelalter sind zumeist romantisch übermalt, teilweise vermengen sie Elemente aus Phantastik (Videospiele, Filme, u.Ä.) und Historie.

Nun könnte man sagen, dies träfe nur auf Kinder zu und der Geschichtsunterricht sei derart professionell, dass alle Jugendlichen nach der 9. oder 10. Klasse ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein besitzen. Dem ist nicht so. Anekdotische Evidenz: Ich ließ dieses Jahr in meinem Kurs der Oberstufe mal "Germanen" malen. Meine Intention war, dass ich anhand der Zeichnung sehen wollte, inwiefern diese popkulturelle Darstellungen reproduzieren. Die Aufgabenstellung war bewusst geschlechtsneutral formuliert, dennoch zeichneten fast alle nur bewaffnete Männer. Größtenteils blonde Haare. Viele trugen auch "Wikingerhelme", weil die Unterscheidung zwischen Germanen und Wikinger teils nicht gegeben war.


Um nicht nur anekdotische Evidenz zu nennen, u.a. Günther-Arndt und Thünemann. Beides renommierte Geschichtsdidaktiker. Hier stellt Günther-Arndt (2019) in "Geschichtsdidaktik. Praxisbuch" die Ergebnisse einer empirischen (!) Studie zur historischen Vorstellungen bei Jugendlichen vor:
Lernende entwickeln kaum oder nur rudimentäre Vorstellungen zur nature of history, also dazu, wie historisches Wissen 'ensteht'. Sie betrachten Quellen, bildliche und schriftliche, gleichermaßen "in der Regel als Abbild [...] der historischen Wirklichkeit", Quellen zeigen, "wie es früher gewesen ist." Dieses Abbildverständnis gilt auch für Darstellungen zur Geschichte, wobei schon die Unterscheidung von Quelle und Darstellung von Schülern kaum vorgenommen wird. MARTEN (2010) identifziert eine von Kl. 8 bis zum Leistungskurs in Kl. 12 vorhandene Basisorientierung von Jugendlichen: Geschichte hat sisch nur in einer einzigen Weise ereignet und deshalb lässt sie sich nur auf eine Weise als richtig und 'wahr' darstellen. Diese Basisorientierung hat dramatisch negative Auswirkungen, praktisch bis zum Abitur. [...]
Weiterhin:
Im Zentrum aller Erklärungen und Deutungen von Geschichte mit Alltagserfahrungen und lebensweltlichen Konzepten steht ein undifferenzierter Gegenwartsbezug. [...] Unterschiede werden damit erklärt, dass die Menschen früher nicht so viel wussten wie wir heute. Verstärkt wird dieses allmächtige Gegenwartsdenken durch ein Zusammenschrumpfen aller Vergangenheit zu einer, zu "früher." [...] Implizite Theorien reichen in der Regel (auch Erwachsenen) aus, um über Geschichte 'mitreden' zu können, aber sie ermöglichen kein historisches Verstehen.

Die Ergebnisse einer empirischen Studie zum Kenntnis- und Fähigkeitsstand von Abiturienten (!) mit u.a. Thünemann (2010) schließt sich dem ein. Basale Grundfähigkeiten wie die Unterscheidung von Quelle und Darstellung, sowie Geschichte und Vergangenheit sind bei Prüflingen kaum vorhanden. Für den Podcast relevant, wird dies anschließend weiter generalisiert:
Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der drei Autoren sind ernüchternd, wenn auch nicht unbedingt überraschend. So wird beispielsweise festgehalten, dass eine „grundlegende Differenz zwischen Quelle und Darstellung […] den Prüflingen insgesamt kaum bewusst“ (S.37) sei. [...] Die Problematik dürfte aber noch tief gehender sein. Schülerinnen und Schüler, die bereits Defizite darin zeigen, eine schriftliche Quelle von Sekundärliteratur zu unterscheiden, sind vermutlich mit medialen Darstellungen im Fernsehen oder im Internet ebenso überfordert. Die im Rahmen von Infotainment zunehmende Verwischung von Fiktion und Dokumentation stellt dabei umgekehrt zunehmende Anforderungen an einen sicheren Umgang mit vielfältigen Arten von Quellen und dies nicht nur für ausgesprochen bildungsorientierte Gymnasiast/innen.

Inwiefern "wir" - den Begriff müsste man bei einem FSK6-Titel durchaus näher operationalisieren - also fähig sind, einen Titel wie Anno 1800 zu spielen und überhaupt zu realisieren, dass dies (a) eine Darstellung von Geschichte ist, dass (b) diese fiktionale Elemente enthält bzw. historische Elemente nicht beinhaltet und diese (c) auch zu benennen, dies stellt sehr hohe Anforderungen an das historische Denken. Ziehe ich meine anekdotischen Erfahrungen als Lehrkraft sowie die Forschungsergebnisse der Geschichtsdidaktik heran, so kann man sagen: Schüler*innen besitzen diese Fähigkeit im Durchschnitt nicht. Nicht kurz vor ihrem regulären Schulabschluss (Sekundarstufe 1) und auch nicht nach dem Abitur, auch weil der Unterricht diese Fähigkeiten bis in die jüngere Vergangenheit nie explizit geschult hat. Ich erachte es somit als sehr unwahrscheinlich, dass sich das historische Denken von Erwachsenen nach ihrer Schulzeit quasi von alleine derart entwickelt, dass sie zu einer differenzierten Auseinandersetzung fähig sind, zu welcher Schulabsolventen es nicht sind. Damit will ich Erwachsenen umgekehrt nicht die per se Fähigkeit absprechen, etwa bei Anno 1800 darüber zu stolpern, dass hier was fehlt. Das wäre in der Tat paternalistisch. Ich habe aber sehr große Zweifel daran. Das Forum, in dem - meines Eindrucks nach - ein eher hohes Bildungsniveau gilt und man sich auch vorsätzlich intellektuell mit Videospielen beschäftigt, ist nicht repräsentativ in der Breite. Auch Jochen, der - wie er sagt - sich in seinem Studium mit (Post-)Kolonialismus beschäftigt und in dem Thema firm ist, ist es nicht.


Was den Kenntnisstand zum Thema "Kolonialismus" eher entsprechen dürfte, wäre dies: Ich habe für das Thema "Kolonialismus/Imperialismus" in der 9. Klasse (G8) exakt drei Schulstunden gehabt. Industrielle Revolution ist namentlich gefallen, für mehr war keine Zeit. Das ist mies, aber leider nicht unüblich. Wenn man Geschichtslehrer zum Stand des Faches fragt, ist die Antwort uni sono zumeist: "Zu viel Stoff, keine Zeit. Es fällt viel unter den Tisch." Kolonialismus ist wie die Industrielle Revolution klassischerweise so'n Thema, wo alle Kollegen einem bestätigen, dass es wichtig sei, sie aber auch zugeben, dafür nicht mehr als so'n paar Einzelstunden zu haben. Wenn ein Schüler in der Woche mal krank war oder aus'n Fenster schaute, kann er auch leicht die Hochzeit des Kolonialismus (Imperialismus) im 19. Jhd. verschlafen haben und sich beim Spielen von Anno 1800 absolut gar nichts denken, auch weil ihm das notwendige Orientierungswissen fehlt, um überhaupt auf die Idee zu kommen, dass etwas fehlen könne. Das Thema "Industrielle Revolution" ist typischerweise eine Doppelstunde, in der eine Dokumentation geschaut wird. Je nach Alter des Kollegen und der Dokumentation wird dabei nicht von Sklaven gesprochen.


Das abschließend nur gesagt: Ich bin in der Konsequenz dennoch bei Jochen in der Hinsicht, dass ich derartige Romantisierungen im Sinne einer "Eisenbahnromantik" für legitim halte. Nicht nur, weil ich die Forderungen nach einer adäquaten Darstellunge der Geschichte nicht für praktikabel umsetzbar halte, sondern weil ich die Forderung nicht teile. Aber ich stimme nicht zu, dass die Aussage von Dr. Zimmerer paternalistisch sei. Ich würde ihm mit Blick auf meine eigene Lehrtätigkeit und den Stand der Geschichtsdidaktik zustimmen. Wenn im Internet, u.a. auch im Forum, die These vertreten wird, Videospiele seien ein gutes Mittel um Geschichte zu lernen - sprich: Erwerb von deklarativen (Fakten-)Wissen - dann lese ich das als Bestätigung für diese Annahme. Das Problem sehe ich allerdings nicht beim Videospiel, denn dies will Unterhaltungsprodukt und nicht Bildungsroman sein will. Ich denke, das kann das Boot aber ab. ;)
Zuletzt geändert von Terranigma am 2. Mai 2021, 23:16, insgesamt 2-mal geändert.
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Voigt
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Voigt »

Was isn der Unterschied zwischen Vergangenheit und Geschichte?
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Flo
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Flo »

Das war eine ganz wunderbares Gespräch, thumbs up.

Zum Thema würde ich mal eine steile Hypothese in den Raum werfen: In der Computerspiele Branche Herrscht eine immense chronische Inkompetenz in Sachen Worldbuilding. (Sowohl bei Fiktiven als auch bei Historischen Settings)

Um das klar zu stellen, es scheint mir offenkundig, dass es enorme Kompetenzen im Bereich Design gibt. Also die Arbeiten, bei der man anfängt mit Style Recherche über Bücher, Filme, Internet, etc. um Inspirationen zu sammeln, wo man mood boards zusammen stellt, vielleicht auch Kollagen, wo man viele Ideen Skribbelt um dann ein paar davon auszuwählen, wo man Farbpaletten zusammenstellt (und die Farbpsychologischen Aspekte berücksichtigt), vielleicht auch eine kleine Design Fibel zusammen stellt. All das sind Aspekte typische Design Prozesse, die man in entsprechenden Bildungseinrichtungen vermittelt bekommt.

So kann man prima Lampen, Homepages und Kleidung designen. Aber Kultur kann man damit nicht designen. Kulturen sind das (temporäres) Ergebnis einer viele Generationen langen Evolution von auf Entwicklungen, die auf materialistischen Zwängen aus der Umwelt und sozialen Dynamiken basieren. All diese Dinge basieren nicht auf Optik. Die Optik wächst aus der Kultur. Ich glaube um eine überzeugende Welt zu designen, muss man eine spezifische kulturelle Entwicklung erspinnen. Und daraus kann man sich dann die visuellen Aspekte ableiten.

Wie so etwas gehen kann zeigt ein YouTube Kanal namens 'Worldbuilding Notes' gut. (siehe: https://www.youtube.com/watch?v=1zwh9kW ... VSUIcDhQjq) Ich denke es ist ein Prioritätsproblem. Welches Entwicklungsstudio würde sich denn für schlechtere Grafik oder geringeren Spielumfang entscheiden, um eine Person einzustellen, die sich nur um's worldbuilding kümmert.

Und ebenso wie es ein eigenes Wordbuilding Department beim Entwickler braucht, wenn er fiktive Kulturen möchte, braucht er entsprechend auch ein eigenes Department, wenn er eine reale oder historische Gesellschaft darstellen möchte - also natürlich nur, wenn man da Kompetenz einbringen möchte. Ein Department von entsprechenden Kulturexperten. Mir scheint es jedoch, dass sich die Entwickler auf der Inkompetenz ihrer Konkurrenz ausruhen.


Ich denke, falls diese Hypothese stimmen sollte, dann sind alle Diskussionen darüber, ob, und wenn ja wie Achtsam ein Entwickler gegenüber rassistischen Stereotypen oder sonstigen Fragwürdigkeiten zu sein habe, albern. Das ganze System ist fundamental Unfähig zuverlässig das notwendige zu leisten. Das wäre wie eine Diskussion darüber, wie viele Paletten Blumenerde ein Motorradfahrer mindestens Transportieren solle.
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Maestro84 »

Nun könnte man sagen, dies träfe nur auf Kinder zu und der Geschichtsunterricht sei derart professionell, dass alle Jugendlichen nach der 9. oder 10. Klasse ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein besitzen. Dem ist nicht so. Anekdotische Evidenz: Ich ließ dieses Jahr in meinem Kurs der Oberstufe mal "Germanen" malen. Meine Intention war, dass ich anhand der Zeichnung sehen wollte, inwiefern diese popkulturelle Darstellungen reproduzieren. Die Aufgabenstellung war bewusst geschlechtsneutral formuliert, dennoch zeichneten fast alle nur bewaffnete Männer. Größtenteils blonde Haare. Viele trugen auch "Wikingerhelme", weil die Unterscheidung zwischen Germanen und Wikinger teils nicht gegeben war.
Sähe das in anderen Bereichen so viel anders aus? Die selbe Aufgabe mit Römern und du bekommst Römer und Gallier wie in Asterix vorgelegt, bei Japanern erhältst du Samurai und Ninja. Am Ende sieht es nur mal so aus, dass sich eine große Mehrheit für Geschichte in etwa so viel interessiert wie für Chemie, Musik oder Kunst. Schulen bilden Grundlagen, auf die man aufbauen kann, aber nicht muss. Meine ersten Schritte mit Geschiche waren Es war einmal...-Serien und Spiele wie Colonization und dennoch habe ich mit nur Fachabitur heute das Verständnis dafür, dass Sklaverei wohl nicht sehr dufte war und die Unterdrückung meiner bäuerlichen Vorfahren - die in Anno 1602 oder 1404 ganz schön verharmlost wird! - ganz sicher nicht lustig war. Ach ja, warum gabst du als Aufgabe auch nicht die, Germaninnen zu zeichen? Dann hätte es wohl Bilder blonder Frauen mit großen Brüsten und vielleicht noch Waffen gegeben. Das Klischee in diesme Bereich durchdringt halt Alles ;) .

Ansonsten hat das Fach Geschichte halt allgemein das Problem, dass zu viel Stoff in zu wenig Stunden gepackt werden muss. Von Ägypten über Griechenland und Rom weiter zu Karl und den Sachsenn über Luther und Reformation zum Dreißigjährigen Krieg und der Franz. Revolution und danach noch schnell 1848/49 und die Reichsgründung 1871 behandeln, um noch ein Jahr im Zweiten Weltkrieg herumzuhängen und fertig. Und das in, bei mir in den 90ern, zwei Stunden Geschichte die Woche. Auf einem Gymnasium in Hessen. Läuft.

Letzten Endes sollten wir aber junge Menschen - auch unstudierte ohne Abitur, lieber Dom - nicht für dümmer halten, als wir selbst sind. Wer bei einem Anno 1602 ein Grundinteresse an Geschichte entdeckt, kann sich über grobes Wissen bei Wikipedia und ggfls. weiteren Medien informieren und fortbilden. Ubisoft hat in etwa eine solche Verpflichtung für die Vermittlung von Wissen wie Filmstudius wie 20th Centauri Fox oder Romanautoren wie Bernard Cornwell.
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Fährmann
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Fährmann »

Ich bin ganz ehrlich: Ich hadere sehr mit mir, ob ich die Folge anhören soll oder nicht. Andere hier haben ja schon ihre Skepsis ausgedrückt, die sie durch den Titel der Folge empfunden haben. An dem Punkt bin ich auch gerade.

Ich wehre mich sehr gegen eine Normalisierung des Begriffes Cancel Culture, der in meinen Augen ein ziemlich rechtskonservativer Kampfbegriff ist.

Ignorieren wir mal, dass 90% aller Menschen, die behaupten, gecancelt zu werden, gar nicht wirklich gecancelt werden, weil sie allein durch diese Behauptung eine enorme Medienreichweite bekommen. Und ignorieren wir auch, dass der Begriff zu 90% aus der rechten Richtung kommt. Zumindest habe ich noch keinen Linken gehört, der von sich behauptet, gecancelt zu werden. (Die Prozentzahlen habe ich mir übrigens gerade ausgedacht.)

Selbst wenn man diese beide Dinge ignoriert, um den Begriff für den Mainstream zu retten, haben wir immer noch das extrem problematische Framing, das durch die Wortwahl erzeugt wird. Jedes Mal, wenn irgendjemand öffentlich dafür gerügt wird, z.B. das N-Wort benutzt zu haben und dieser Mensch daraufhin "Cancel Culture" ruft, framed er diese Angelegenheit zu einem kulturellen Problem um. Die Wortwahl impliziert: "Ich bin Opfer einer kulturellen Bewegung." Kulturellen Bewegungen sagt man nach, dass sie eine große Wirkmacht haben, weswegen sie ein großartiges Feindbild abgeben. Der Schritt zu einer AfD-Argumentation wie: "Hier ist der aggressive Mainstream, der unsere Meinungsfreiheit einschränkt" ist damit nicht mehr weit.

Der Begriff vergiftet damit jede Debatte, in der er auftritt. Ein gegenseitiges Verhandeln, welche Werte man hochhalten möchte und wo z.B. eine rassistische, sexistische oder transphobe Beleidigung anfängt, wird mit ihm unmöglich gemacht.

Die Tatsache, dass hinter dem Begriff im Folgentitel ein Fragezeichen vorkommt, macht seinen Einsatz imho nicht weniger problematisch. Die Verwendung führt zur Normalisierung. Und eine Überschrift "Cancel Culture?" über einem Bild von Genshin Impact ist bereits ein ziemlich hartes Framing, das durch seinen Aufbau das Spiel in Schutz nimmt.
(Disclaimer: Ich habe keine Ahnung, was der Zusammenhang zwischen Genshin Impact und Cancel Culture ist, weil das Spiel außerhalb meiner Sphäre stattfindet. Ich mag nur generell diese Art des Framings nicht.)
SunshineBob
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von SunshineBob »

Sehr interessantes Thema der Folge, finde den ersten Teil auch sehr gut gelungen.

Den zweiten Teil finde ich aber leider einen Tiefpunkt bisheriger The Pod-Folgen: gar nicht wegen des Inhalts, sondern wegen des Diskussionsformats. Was mir an euren Podcasts so gefällt, ist dass es (Wertschätzungen eines bestimmten Spieles mal ausgenommen) immer abstrakt um ein Thema geht, dass dann von allen Seiten versucht wird zu beleuchten, natürlich auch mit Rückgriff auf passende Spieletitel.
Hier ging es aber nur explizit um Doms Artikel und Jochens Kritik daran. Dies führte logischerweise dazu, dass Dom in eine Verteidigungshaltung getrieben wurde und es nur noch darum ging, sich zu rechtfertigen.
Hierbei ein Lob an Dom, dass er sich dabei nicht von Jochen hat einschüchtern lassen. Und ja, ich weiß, dass war ja von Jochen nicht böse gemeint, allerdings neigt er halt dazu, nicht locker zu lassen bis das Gegenüber der einzig richtigen Meinung (also seiner eigenen ;P ) zugestimmt hat; wenn man dabei auch noch das Talent hat, jedes Gegenargument rhetorisch zu seinen Gunsten zu verwandeln und zurückzugeben, dann hat es das Gegenüber halt schwer (kein Angriff an Jochen, bin leider selber oft so).
Auch hier im Forum geht es jetzt zum großen Teil weiter um die Frage, ob denn Dom mit seiner Aussage recht hat oder nicht...sollte es wirklich hauptsächlich darum in der Folge gehen? Der Teil macht über die Hälfte der Folge aus...das geht für mich halt irgendwie am Thema "Cancel Culture" vorbei...
Voigt
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von Voigt »

Finde auch man sollte Unterscheiden zwischen Nicht-Darstellung und Falsch-Darstellung.
Als Kind wurde ich sicherlich von Falsch Darstellungen in Medien beeinflusst, was anderes ist aber nßsie Nicht Darstellung.
Wenn Sklaven nicht dargestellt werden, bin ich nich überzeugt dass es keine gab. Ich bin damit bloß noch nich konfrontiert gewesen und neue Aussagen können dsher mein Wissensstand gut formen.
Falsche Infos die ich früher bekommen habe zu korrigiern ist da eher aufwendiger.
ZiggyStardust
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Re: Runde #317: Cancel Culture?!?

Beitrag von ZiggyStardust »

Herr Weltschaft hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:59
ZiggyStardust hat geschrieben: 2. Mai 2021, 14:36
Herr Weltschaft hat geschrieben: 2. Mai 2021, 10:36 Oder über Rassismus und Transphobie in Cyberpunk 2077. Da war man dann ganz schnell an dem Punkt, dass jeder, der Cyberpunk keine Transphobie unterstellte, selber transphob ist - oder zumindest kein Verbündeter im Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung.
Das hat mich auch verstört, wie prominent Foren wie ResetEra auf die vermeintliche Transphobie des Spiels hingewiesen haben. Die Transgenderperson in Cyberpunk 2077, eine Barkeeperin, die einen als Fahrer für illegale Rennen anheuert um ihren getöteten Mann zu rächen, wird doch ganz normal dargestellt. Wüsste nicht, was daran problematisch sein soll.
Mhm, Deine Antwort könnte man auch ironisch lesen. Meinst Du vermutlich nicht so, aber ich frage besser trotzdem mal nach.

Fakt ist doch, dass CDPR mit den Geschlechteroptionen im Charaktereditor der Transgender-Community weiter entgegengekommen ist als die meisten anderen Entwickler. Das wiederum hat Begehrlichkeiten erst geweckt und die Unvollständigkeit der Optionen wurde so negativ wie möglich ausgelegt. Einfach irre.
Nein, war nicht ironisch gemeint.

Für mich waren die Anno-Spiele immer Feel-Good-Titel und keine realistischen Simulationen. Das Leben war damals für 95% der Bevölkerung sehr beschwerlich. Die Kindersterblichkeit war auf einem Niveau, das man sich heute nicht mehr vorstellen kann. In Irland sind zwischen 1845 und 1849 aufgrund einer Hungersnot mal eben eine Millionen Menschen gestorben und weitere zwei Millionen Menschen ausgewandert. Frauen waren ständiger häuslicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. Kinder mussten arbeiten, statt zu spielen oder zur Schule gehen. Die medizinische Versorgung war mangelhaft und wenig wissenschaftlich.

Hätte Anno 1800 Sklaverei eingebaut, dann in einer stark romantisierten Version, in der die Sklaven immer gut drauf sind und wie selbstverständlich mit großer Hingabe alle Aufgaben erledigen. Weiß nicht, ob das am Ende nicht mehr Schaden angerichtet hätte als wenn man es im Spiel ausklammert.

Warum gab es die Diskussion eigentlich nicht bei Age of Empires 3? Das blendet doch den Sklavenhandel genauso aus.
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