Es gibt ja nun nicht gerade wenige renommierte Verfassungsrechtler, die exakt das monieren. Nämlich dass Karlsruhe in der gesamten Pandemie ein trauriges Bild abgäbe. Und es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass ein solches Gesetz gegen den Widerstand der Länder eine völlig andere Form der ohnehin schon massiven Verfassungsbeschwerden ausgelöst hätte, die auch für ein nominell unabhängiges Verfassungsgericht eine ganz andere Situation geschaffen hätten als die Klagen von Opposition oder einzelnen Personen/Organisationen. Die Darstellung, das wäre ohne explizite Zustimmung der Länder gegangen, halte ich juristisch eventuell gerade noch so für möglich, politisch aber für nahezu vollkommen ausgeschlossen. Der Bund kann hier de facto nicht ohne Zustimmung der Länder agieren und hat das auch nicht ein einziges Mal getan.
Alleine die Vorstellung, der Bund hätte - mal etwas übertrieben formuliert - "Infektionsschutzgesetz, baby, Bundesrecht bricht Landesrecht, bitches!" gesagt, würde hier nicht nur schon seit Monaten eine veritable Verfassungskrise brennen, ich glaube sogar, das hätte selbst Merkel nicht überlebt - und die überlebt ja sonst eigentlich alles
Erstens habe ich das grundsätzlich nicht, zweitens ist es eben keine rein juristische Frage. Zumindest nicht in der Realität. Dass Paragraph 74 überhaupt einen massiven Bundeseingriff in viele Länderkompetenzen erlaubt, ist mindestens umstritten, weil der Verfassungstext inhaltlich nicht viel Konkretes hergibt und enormen Raum für Interpretationen lässt. Deshalb sagt die Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes auch: Wenn wir das möglichst vage formulieren, könnten wir damit durchkommen. Das alleine spricht schon Bände. Nichts daran ist juristisch eindeutig, und wenn dann noch die potenziellen politischen Dimensionen einer Bundesgesetzgebung in mögliche Länderhoheiten bei massivem Widerstand der Länder hinzukämen, ist es überhaupt kein Wunder, dass sich das alles so abgespielt hat, wie es sich eben abgespielt hat. Das war ja zunächst meine These: Dass wir es hier nicht mit dem Versagen einer oder mehrerer Personen zu tun haben, sondern mit dem Versagen eines Systems, das für diesen konkreten Fall nicht gedacht oder vorbereitet war. Sieht man auch hübsch an der Formulierung von 74, der der Seuchenbekämpfung nicht mal einen eigenen Absatz einräumt (wie etwa dem Jagdwesen oder den Vertriebenen), sondern das munter-oberflächlich zusammen mit Apothekern und Giften und Betäubungsmitteln unter einen Hut wirft. Dass das dann in einem Fall wie jetzt auch Dinge wie die Bildungshoheit der Länder (Stichwort Schulen und Maskenpflicht usw) berührt, ist strukturell nie vorgesehen oder auch nur gedacht gewesen.Nein, du hast dem Bund grundsätzlich die Gesetzgebungskompetenz abgesprochen, das ist eine rein juristische Frage
Weder noch. Du trennst zwei Dinge, die auf dem Papier getrennt sind, in der Realität aber untrennbar miteinander verknüpft. Du gehst davon aus, dass der Bund juristisch eine Notbremse auch gegen den Widerstand der Länder beschließen könnte. Alleine das ist heftig umstritten und keineswegs eindeutig. Ich wiederum sage: Selbst wenn das juristisch durchgewunken werden würde - was die Bundesregierung ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann - wäre es ein politisches Ding der Unmöglichkeit, das ohne Erlaubnis der Länder zu machen. Und das hat Angela Merkel auch nicht gemacht - aus gutem Grund. Die Darstellung, der Bund habe hier im April das Heft in die Hand genommen, ist imho faktisch nicht haltbar. Der Bund hat so lange gebettelt und gemahnt und gedroht und appeliert, bis er für zwei Monate seinen Willen bekam - und den auch nur, weil es den Ländern ziemlich lieb war, in einer katastrophalen Situation und unter hohem öffentlichen Druck nicht der Sündenbock für unpopuläre Maßnahmen zu sein.Entweder reden wir thematisch aneinander vorbei und reden von unterschiedlichen Sachverhalten oder du irrst dich
Du sagst dann: So funktioniert doch juristisch kein Gesetzgebungsverfahren. Und ich sage: Juristisch vielleicht nicht, politisch aber sehr wohl, wenn man sich einfach anschaut, was tatsächlich geschehen ist
Dass sich die SPD aus politischen Gründen der Gesetzgebung verweigern würde, ändert nichts daran, dass die Regierung eine parlamentarische Mehrheit ist. Die ist bloß politisch handlungsunfähig. Das ist jetzt natürlich eher spitzfindig, aber es geht eben auch hier um eine politische Handlungsunfähigkeit, obwohl in diesem Fall die juristischen Optionen extrem eindeutig sind und eine geschäftsführende Bundesregierung exakt die selben Rechte hat wie eine ordentliche.Die Regierung und das Parlament sind aber zweierlei, Exekutive und Legislative. Die geschäftsführende Regierung in der Form hat keine Mehrheit mehr im Bundestag. Klar, die Parteien sind die selben. Aber die Bundesregierung wird in keinem Fall mehr ein Gesetz mit den Stimmen von CDU und SPD durchprügeln können, da die SPD Fraktion sich dem komplett verweigern würde, allein weil ihnen Grüne und FDP damit ganz sicher die kommende Koalition aufkündigen.