Nicht nur du. Sick'scher Präskriptivismus ist in seiner reinsten Form Ausdruck linguistisch-konservativer Positionen: Es geht darum, dass das vermeintlich "korrekte", das vermeintlich "beste" Deutsch bewahrt wird; faktisch lediglich das Deutsch, das man kennt und liebt, mit dem man aufgewachsen ist; Protektionismus eines romantisch-idealisierten Abbilds der eigenen Muttersprache. Sprache ist vielmehr eigentlich ephemer, denn niemand spricht mehr wie Goethe und schon gar niemand mehr wie Walther von der Vogelweide oder will das wirklich. Und ist etwa Niederländisch eine minderwertige Sprache, weil deren Grammatik im Vergleich zum Deutschen simpler ist -- nicht eher sogar ein potentieller Vorteil?Master_Studie_Anne hat geschrieben: ↑8. Feb 2022, 15:10 Ich finde solche Sprachkritik á la Bastian Sick und was nun "Original" ist und was nicht, bei einem derart wandelbaren und durchlässigen Medium wie Sprache immer etwas seltsam.
Sicherlich darf Kritik angebracht werden, wo es als sinnvoll empfunden wird. Manche Entwicklungen sind grammatikalisch widersprüchlich im Hinblick auf das allgemein intersubjektivierte Regelwerk (des Rats für deutsche Rechtschreibung und ferner des Dudens); ein allgemeiner Konsens, wie im Regelfall zu schreiben ist, ist eine Kulturerrungenschaft und erleichtert oder ermöglicht erst effektive Kommunikation; diese Regeln manchmal (bewusst) zu brechen, hat seinen eigenen Reiz und ist nur möglich, solange es überhaupt Regeln gibt; und vielleicht "macht Sinn" in der gängigen Nutzung weniger Sinn im Deutschen als im Englischen -- das entsprechende Essay von Belles Lettres kann ich nicht falsifizieren, falls diese Frage ohnehin falsifizierbar ist, soweit es überhaupt "richtig" und "falsch" bei linguistischen Fragen geben kann: Ich vertrete eine linguistisch anti-realistische Position. Argumente für die "Korrekte" Sprachverwendung sind niemals "richtig" oder "falsch", sie sind fundamental nicht "truth-apt"; was hier "richtig" oder "falsch" ist, ist fundamental arbiträr, denn a) niemand (auch nicht die Mehrheit) hat eine legitime Hegemonie darüber zu entscheiden, was endgültig sprachlich objektiv richtig oder falsch ist, b) es ist nicht zu verifizieren, dass irgendeine Sprachanwendung wirklich besser ist, und c) Sprache ist ohnehin permanent im Flux, also why stop here? Analog zum metaethischen Konzept des Emotivismus gehe ich davon aus, dass es im Kern bei linguistischen Fragen immer darauf hinausläuft, dass nicht beurteilt wird, was "richtig" oder "falsch" ist, sondern was persönlich gefällt.
Die heutige Standard-Sprache wird sich noch weiter wandeln, je nach Sichtweise verfallen, und irgendwann werden vielleicht alle Sprachen
zu Gunsten einer einzelnen Zentralsprache des Menschen verschwinden, je nach Sichtweise aussterben. Keine Sprache ist inhärent erhaltenswert, nichts ist inhärent erhaltenswert, allem wird ein arbiträrer sentimentaler Wert zugeteilt, den wir Kultur nennen, und wir lamentieren wenn selten gesprochene Varianten einer Sprache ganz aussterben, keine nativen Sprecher indigener Sprachen mehr existieren und damit Kulturgüter verloren geht und das ist zu einem gewissen Grad lamentierenswert, aber es ist auch normal in seiner allgemeinen Form, solange Homo Sapiens den Niedergang der Sprachvielfalt nicht beschleunigt oder bedingt durch chauvinistisches Verhaltens (Kolonialismus/Imperialismus). Analog wird lamentiert, wenn Tierarten aussterben, aber auch das ist im Kern ein natürlicher Zustand oder trauert jemand, weil es keinen Allosaurus mehr gibt oder kein Mammut? Gäbe es keine wilden Tiger mehr, fänden wir dies schade, weil wir eine emotionale Verbindung zu Tigern haben, aber was würde sich ändern, für das Ökosystem kaum etwas, es gibt ja eh nur noch sehr wenige Tausend in der Natur, die können keinen riesigen Impact haben, also ist es ein sentimentaler Wert. (Die Sapir-Whorf-Hypothese halte ich zumindest in der starken Variante für unzutreffend, also wenn argumentiert werden soll, dass mit dem Verlust ganzer Sprachen singuläre Zugänge zum Denken aussterben: So sind doch vergleichbare Denkleistungen, also kulturelle/technische/wissenschaftliche Errungenschaft, in fundamental verschiedenen Sprachräumen teils von einander unabhängig entstanden und eher würde sich die Sprache akkommodieren. Wäre dann Niederländisch doch eine schlechtere Sprache als die Deutsche?)