Axel hat geschrieben:Gestern abend hatte ich mit der Tochter einer guten Freundin eine gleichzeitig lustige, aber irgendwie auch beängstigende Diskussion. Um es mal alterstechnisch einzugrenzen: Ich bin 32 Jahre, Sie ist 16. Da bestehen also nicht wirklich viele Jahre Unterschied, zudem ich mich meist auch noch eher wie Anfang 20 fühle oder so. Und dennoch: Sie hat mir vorgeworfen, dass ich "ziemlich hart technik- und fortschrittsfeindlich wäre".
Wie kam sie zu dieser gar wahnwitzigen Idee? Ich will es mal stichpunktartig aufschreiben, was ihre Meinung nach dafür spricht, dass ich "von gestern" bin.
- Ich habe kein Handy. Mehr noch, ich verabscheue die Tatsache, dass Menschen heute von den Dingern
abhängig sind und scheinbar nichts mehr bewerkstelligen können, ohne auf irgendeine App angewiesen zu sein. Ich habe ein Tablet, ja. Aber: Das ist NUR und wirklich NUR zur Unterhaltung. Spiele, Musik, Podcasts oder wenn ich unterwegs mal nen Film oder ne Serie gucken will - dafür ist so ein Tablet wirklich hübsch. Aber ich würde mit so einem Gerät nie persönliche Daten managen wollen oder sogar damit bezahlen. Ist das wirklich fortschrittsfeindlich, wenn ich erwarte, dass Menschen nicht auf ihre Handys gucken sollen, wenn sie sich mit mir unterhalten? Oder poche ich da eher nur auf Höflichkeit? Denn das ist es für mich, wenn man Handys in Beisein von anderen Menschen nutzt: unhöflich.
- Apropos Geld: Ich liebe Bargeld! Ich finde derzeit wenig beängstigender als eine Gesellschaft ohne Bargeld. Wir wären sowas von abhängig von Banken und Staat, wir wären noch gläserner und es gäbe überhaupt keine Freiheit mehr. PayPal habe ich nur äußerst widerwillig, weil ich das für Bandcamp brauche. Das Geld was ich durch Spenden darauf bekomme, das wandert sofort aufs Bankkonto und dann wird es abgehoben und daheim in den Schrank geschlossen. Das mag vielleicht extrem klingen, aber ich trau der ganzen Technik hier wirklich nicht - denn hier sehe ich die Gefahr für Betrüger viel krasser als die Gefahr draußen überfallen zu werden. Dahingehend bin ich also wirklich technikfeindlich, aber ist es auch fortschittsfeindlich, wenn man auf sowas Wert legt?
- Meine Kritik zu soziale Medien. Ja, ich habe Facebook. Aber auch nur, weil ich das für meine Projekte nutze. Weil man damit gut Werbung machen kann und ich kann sehr einfach mit Musikern Kontakt aufnehmen oder halten wenn man gerade bei einem Projekt was gemeinsam macht. Dafür ist das echt nützlich. Ich würde ins Fratzenbuch aber nie persönliche Dinge ausbreiten. Warum muss man das? Und braucht man denn mehrere Plattformen, reicht denn nicht eines? Wozu braucht es Twitter, Instagram, Snapchat und den ganzen Kram? Bin ich technikfeindlich, weil ich es eher mag mit Menschen persönlich zu kommunizieren? Ich ein echtes Gespräch jederzeit einem chat vorziehen würde?
- Und dann so kulturelle Dinge wie Musik. Ich finde moderne Popmusik meist absolut fürchterlich und scheusslich. Plastisch möchte ich das mal an Roxette erklären:
Hier der Song
It Just Happens aus dem Jahr 2016 und hier
The Rain von 1992.
The Rain hat eine sehr schöne Melodieführung, die Musik wird mit echten Instrumenten erzeugt, der Rythmus unterstützt die Melodielinien und den Gesang von Marie. Zudem gibt es Abwechslung in der Instrumentierung und verschiedene Phasen innerhalb des Songs. Daraus entsteht ein - in meinen Ohren - sehr schöner und vor allem abwechslungsreicher Popsong, wo man merkt, dass sich Per Gessle hier ein paar Gedanken gemacht hat. Zudem ist der Song
handwerklich auf sehr guten Niveau. It Just Happens hat das alles... nicht. Wie in modernen Popsongs üblich steht hier der Rythmus im Vordergrund. Die Melodie blitzt mal kurz im Refrain durch, entwickelt sich aber während des Songs nicht weiter. Der Song hat keine verschiedenen Phasen, sondern bleibt stoisch und gleich. Das macht ihn aus künstlerischer Sicht extrem langweilig. Dadurch, dass auch keine echten Instrumente verwendet werden, bleibt der Song für einen Lovesong auch noch sehr kalt und unverbindlich - Das passt doch nicht zum Text, oder ist heute auch Liebe unverbindlich? Man stelle sich mal vor ein Song wie
Spending My Time hätte keine Melodieführung und nur so elektronisch-kalt, da würde überhaupt keine Emotionen entstehen, wie sie im Song transportiert werden. Ja, die Entwicklung der Popmusik kann man an Roxette schon sehr gut erkennen festmachen, finde ich. Aber vielleicht will Popmusik heute ja auch keine Emotionen mehr wecken, nichts mehr sagen, sondern nur noch auf
Wolke 4 emotionslos den Smartphoneuser als Hintergrundgeräusch dienen. Das Schlimme: Popmusik klingt heute nicht mal mehr schrecklich, sondern einfach nur... bedeutungslos.
- Dann gibt es noch diese ganzen Defizite im Sozialverhalten bei Menschen. Angefangen bei der Unverblindlichkeit vieler Zeitgenossen über solche Phänomene wie "Ghosting" bis hin zur Sprunghaftigkeit. Ich schaue mir so die Beziehungsprobleme im Freundeskreis an und denke - und sage - die ganze Zeit: "Selber Schuld!" Freundschaften und Liebesbeziehungen fußen auf Fundamenten, die man sich natürlich erstmal schaffen muss. Dazu braucht es Vertrauen, ein gehöriges Maß an Selbstreflektion und Kommunikationsvermögen - etwas, was einem kein Smartphone und kein "soziales" Medium abnehmen kann. Ich denke, dass diese Dinge die Menschen nur unsozialer machen, weil sie verlernen im direkten Kontakt mit anderen Menschen miteinander umzugehen, auf Mimik und Gestik zu achten und solche Dinge. Das sehe ich bei besagter 16 Jährigen, wie aber auch bei den Kids im Jugendclub, immer wieder.
Wir haben letztens mal ein Experiement im Club gemacht: Eine ganze Woche lang herrschte Handyverbot. Komplett - es wurde eingesammelt, wenn sie kamen. In den ersten zwei Tagen kam das zum Vorschein, was ich unter Entzugserscheinungen bezeichnen würde. Die Kids waren unruhig, nervös, manche leicht agressiv. Mit dem Verlauf der Woche jedoch änderte sich das sehr schnell: Sie haben angefangen sich mal richtig miteinander zu unterhalten, sich miteinander zu beschäftigen und haben ganz neue Seiten an sich kennengelernt. Seitdem werden diese Dinger von den Kids selbst viel weniger genutzt wenn sie im Club sind, bowohl sie es dürften. Sie haben gemerkt, dass es mehr Spaß macht echte Sozialkontakte zu pflegen.
- Eine weitere Errungenschaft der modernen Welt: Burnout und Depression. Wundert das einem noch, dass beides Volkskrankheiten geworden sind? Ständig lernen ich und meine Freundin Menschen kennen, die ständig im Stress stehen. Dort irgendwelche Termine, hier, da und dort. Die Zahl der Menschen, die auch einfach mal faul sein können, hat sich unserer Beobachtung nach sehr verringert. Es geht ja mittlerweile schon soweit, dass man sich schon beschimpfen lassen muss, wenn man auf die Frage "Was habt ihr die Woche so gemacht" sagt: Nicht viel. Wirklich, die Leute sehen die Zeit als "unproduktiv verschwendet" an, wenn man nichts tut. Dabei ist es doch auch wichtig Zeit für sich zu verbringen, oder? Sie ist auch gut für die Beziehung zwischen mir und meiner Freundin: Würden wir uns auch nur die Hälfte des Stresses anderer Leute aufbürden, dann würde unsere Beziehung wohl stark drunter leiden, weil wir dann keine Zeit mehr füreinander hätten...
Ich frage Euch, liebe Mitforisten, daher mal
frei nach Monty Python: Was hat uns die moderne Welt gebracht, dass man sie irgendwie gut finden sollte?