Runde #141: Zensur

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Terranigma
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Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von Terranigma »

meisterlampe1989 hat geschrieben:Denn auch ich sage: Kunst darf alles, aber nicht alles ist Kunst.
Die Aussage ist banal, aber wahr - was ich nicht negativ meine. In der Tat ist natürlich nicht alles Kunst, gleichwohl kann alles Kunst sein. Die Frage wäre sicherlich, was Kunst ist. Dieses Fass kann man aufmachen, gleichwohl sehe ich dafür im Kontext dieses Forums - wo es um Videospiele geht - dazu keinen Anlass, weil man Pi mal Daumen wohl sagen kann: Videospiele sind Kunst, das schließt a priori auch jedes einzelne Videospiele ein.
meisterlampe1989 hat geschrieben:Kunst und Satire, von der ja auch gesagt wird sie dürfe alles, müssen eine Aussage haben. Etwas vermitteln, zum denken anregen.
Sehe ich nicht so. Vieles von dem, was heute als Kunst gilt, war es zum Zeitpunkt der Entstehung nicht. Ein schönes Beispiel sind Ukiyo-e aus Japan. Zum Zeitpunkt des Aufkommens in Japan wurde diese Art des Drucks nicht als Kunstform, sondern als praktisches Handwerk begriffen. Es waren zumeist Auftragsarbeiten, die u.a. als Illustrationen dienten. Europäer wiederum sahen darin Kunst und bezahlten teures Geld für etwas, das für Japaner nicht mehr war als ein Alltragsgut. Selbiges ließe sich auch über Postkarten oder Briefmarken sagen, denen teilweise ein Kunstwert zugesprochen wird - vorausgesetzt, sie sind alt genug. Hinter all dem steht keine Autorenintention, insb. weil das Ukiyo-e keinen einzigen Autoren oder Urheber besitzt. Selbiges kann man für andere Arten von kunstvollen Alltagsgütern sagen, wie z.B. Werbeplakaten im Jugendstil aus den 1920ern. Die fand man damals wohl auch schön, aber man sah Werbeplakata für eine Theatervorstellung wohl nicht als Kunstobjekt. Heute werden sie teilweise als solche gehandelt.

Dass das, was ein anerkannter (!) Künstler tut, häufig a priori als Kunst wahrgenommen wird, spricht eigentlich eher dafür, dass es überhaupt kein Verständnis davon gibt, was Kunst "an sich" überhaupt ist. Darum wird für die Definition so häufig die Person des Künstlers aufgezogen, weil man einem Werk selbst zumeist überhaupt nicht ansehen kann, ob es nun Kunst oder ein Fall für die Mülltonne sei. "Kunst" ist als Begriff derart wischiwaschi, dass ich mich damit begnügen werde zur Kenntnis zu nehmen, dass Videospiele Kunst sind. Selbst wenn hinter ihnen kaum eine andere Intention steht außer halt eben solide Unterhaltung zu gutem Geld zu machen. Aber das war beim Ukiyo-e oder beim Jugendstil-Werbeplakat wohl auch nicht viel anders.
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toxic_garden

Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von toxic_garden »

snoogie hat geschrieben:Moderne Kunst überfordert ja schon viele.
ich finde, das klingt ein bisschen herablassend. Zwischen "ich habe dazu keinen Zugang" und "es überfordert mich" liegen Welten. Ich würde auch behaupten, 99% der hier anwesenden Menschen würden sich auf experimental harsh noise Konzerten nicht wohl fühlen. Weil sie einfach keinen Zugang dazu haben. Und das ist auch ein essentieller Punkt: in wiefern muss man Kunst überhaupt als solche "verstehen" können, um sie wahr zu nehmen?
Ich denke da sofort an Christopf Schlingensief und seine U300-Sendungen. Die waren sicherlich Kunst. Hatten Sozialkritik, waren laut und ganz sicher nicht für jeden zugänglich. Andere dürften darin, gerade weil es auf MTV lief, lediglich die nächste, trashige Unterhaltungsshow gesehen haben. Da verschwimmen die Grenzen, wahrscheinlich auch wegen der Subtilität, die Schlingensief neben seinen sehr lauten und überdrehten Momenten einsetzt. Der Interpretationsspielraum des Kunst-Aspektes ist einfach so weit, dass man alleine mit der Ansage "das ist Kunst, das darf das" sicher nicht weit kommt. Es muss genug Rezipienten geben, die sie als solche anerkennen. Erst durch den gemeinsamen Konsens einer gewissen Masse entsteht Kunst. Vorher ist sie lediglich persönlicher Ausdruck und als solcher an leicht andere rechtlichen und moralischen Vorgaben gebunden.
zackzackab
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Re: RE: Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von zackzackab »

Wolfgang Walk hat geschrieben: Ich verweise noch mal auf das Urteil, das ich weiter oben zitiert habe, und das genau eines belegt: "Soziale Adäquanz" ist ein Bewertungskriterium, bei dem es historische Belege (NACH WK2!) gibt, dass auch das BVerfG massiv daneben liegen kann.
Korrigier mich, wenn ich Deine Absicht falsch darstelle: Du willst belegen, dass das Bundesverfassungsgericht im Anbetracht seiner Vergangenheit auch heute nicht oder nur eingeschränkt geeignet sei, Grundrechte zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen.

Sorry, Wolfgang, aber das eine Urteil, das Du nennst, ist aus dem Mai 1957. Wir sprechen von einer Zeit, als die juristische Praxis und Lehre in erheblichem Maße von Menschen durchsetzt war, die im Rahmen des 3. Reichs sehr, diplomatisch formuliert, unglückliche Rollen gespielt haben, in der Schwulenfeindlichkeit in weiten Teilen der Gesellschaft Konsenz war.

Wer historische Argumente für die Gegenwart nutzbar machen möchte, trägt nach meiner Auffassung die Darlegungslast, darzulegen, dass die Vorgänge der Vergangenheit auch im Heute Bedeutung entfalten. Denn wenn sich eine Vielzahl relevanter Rahmenbedingungen geändert haben, genügt es eben nicht, ein Urteil über eine Verfassungsbeschwerde aus dem 6. Sammelband zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu zitieren; im Jahr 2016 waren wir bei Nr. 142 angelangt, nur um das mal ins Verhältnis zu rücken.

Abgesehen davon: Wenn das BVerfG nicht unter Heranziehung von Expertisen für die Abwägung von Grundrechten kompetent ist, wer denn bitte dann? Wer sorgt dafür, dass die Grundrechte als Abwehrrechte nutzbar gemacht werden können? Wer wacht über die übrige Staatsgewalt? Eine Gruppe von Künstlern, die in dem Verdacht stehen wird, der Kunstfreiheit im Zweifel den Vorrang zu geben? Vertreter der Personengruppe, der die Beschwerdeführer angehören und die verdächtig sind, das mit der Kunstfreiheit kollidierende Grundrecht zu bevorteilen? Oder vielleicht doch ein in Abwägungen geschulter Spruchkörper hochklassiger Juristen, die sich die Argumente für und die Expertise zu beiden aufeinanderprallenden Idealen anhören und dann nüchtern abwägen?

Dass das einfache Recht Anwendungsvorrang vor dem Verfassungsrecht genießt, bestreitet übrigens niemand. Das ändert aber nichts daran, dass im öffentlichen Recht bei Kollision von Grundrechten regelmäßig eine Abwägung von staatlicher Seite vorzunehmen ist, um die Grundrechte zum Ausgleich zu bringen und zwar, weil das jeweilige Parlamentsgesetz oder seine Konkretisierung durch im Rang niedriger stehende Normen das verlangt. Dass es, wie Du selbst richtigerweise angemerkt hast, gilt, im Einzelfall genau hinzuschauen, bedeutet nämlich auch, dass der Gesetzgeber auf der hohen Abstraktionsebene, auf der er zwangsläufig operieren muss, nicht jede Konstellation bis ins letzte durchnormieren kann. Letztendlich ist deshalb zuerst Aufgabe der Verwaltung und im Falle der Beschreitung des Rechtswegs dann der Fachgerichte , die Abwägung vorzunehmen bzw zu überprüfen und das natürlich mit Hilfe von Experten auf Gebieten, wo es den Richtern selbst an ausreichendem Sachverstand fehlt. Selbst eine Expertise ändert aber nichts daran, dass letztendlich der Richter entscheidet, ob und inwieweit er die Einordnung des Sachverständigen überzeugend findet und wie er sie im Rahmen der immer noch ihm überlassenen Abwägung gewichtet.

Ich finde, Du machst es Dir bei einer komplexen Gemengelage schlicht zu einfach, wenn Du die Kompetenz des heutigen Verfassungsgerichts in Frage stellt, das mit Leuten besetzt ist, die keine NS-Vergangenheit haben, die eine juristische Ausbildung genossen haben, die es in vergleichbarer Qualität in wenigen anderen Ländern gibt, in Anbetracht eines Spruchkörpers, der Minderheitenschutz und Freiheitsrechte global betrachtet so groß schreibt, wie wahrscheinlich kein Spruchkörper in der Geschichte der Menschheit zuvor.

Niemand bestreitet, dass eine Gesellschaft nicht wieder in moralische Abgründe stürzen kann. Eine freiheitliche, demokratische Gesellschaft aufrecht zu erhalten, erfordert einen ständigen Kampf gegen Einflüsse, die sie vernichten wollen. Jetzt und heute dem BVerfG die Kompetenz absprechen zu wollen, halte ich aber für so unangebracht, wie noch nie zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Und zum hier im Thread immer wieder verwendeten Satz, dass Kunst alles dürfe: Aus verfassungsrechtlicher Sicht darf Kunst NICHT alles. Kunst- und ggf. auch Meinungsfreiheit sind nicht von höherem Rang als andere Grundrechte. Und ob die Veröffentlichung eines konkretes Kunstwerks, ggf. im Nachhinein, im Falle einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage verboten werden kann oder nicht, erfordert immer ein genaues Hinschauen und Abwägen im Einzelfall; dabei hilft aus meiner Sicht dieser plakative, abgedroschene Satz wenig weiter.
Zuletzt geändert von zackzackab am 19. Dez 2017, 18:07, insgesamt 6-mal geändert.
meisterlampe1989

Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von meisterlampe1989 »

Terranigma hat geschrieben: Sehe ich nicht so. Vieles von dem, was heute als Kunst gilt, war es zum Zeitpunkt der Entstehung nicht. .
Das finde ich wiederum recht schwierig. Sicherlich gab es viele Beispiele, wo etwas erst zur Kunst herangereift ist. Das allerdings zu einer allgemeinen Aussage abzuleiten finde ich vorschnell. So schafft man auch ein Alibi einfach alles zur Kunst zu erklären, irgendwann wird es der Pöbel schon verstehen.
toxic_garden hat geschrieben:
snoogie hat geschrieben:Moderne Kunst überfordert ja schon viele.
ich finde, das klingt ein bisschen herablassend. Zwischen "ich habe dazu keinen Zugang" und "es überfordert mich" liegen Welten..
Ich habe z.B. zu abstrakter Kunst keinen Zugang, aber überfordern tut sie mich nicht. Mich überfordert eher das Prätentiöse an denen, die diese "Kunst" ernsthaft rezipieren. Ich glaube, und das ist jetzt sicher provokant, dass abstrakte Kunst zu einem großen Teil alleinig zur intellektuellen Masturbation benutzt wird.
Abstrakte Kunst leidet an chronischer Überinterpretation und ist eine reine Projektionsfläche, für die Gedanken der Rezipienten.

Jetzt kann man sagen, dass daraus die Kunst entsteht, also dass das Kunstwerk erst zu diesem wird, wenn die Menschen es interpretieren. Wie angemerkt, benötigt man ja auch den Künstler selbst, um abstrakte Kunst überhaupt als Kunstwerk anzuerkennen, denn was das Kunsthandwerk betrifft, wird hier nichts geleistet. Ein schwarzes Quadrat (https://de.wikipedia.org/wiki/Abstrakte ... adrat.jpeg" onclick="window.open(this.href);return false;) oder wild durcheinander geworfene Farben, kann ja jeder malen.

Und was das Entlarven von einer prätentiösen Haltung angeht, gibt es längt ein Meisterwerk dazu: https://www.youtube.com/watch?v=iyGi5SEI9RI" onclick="window.open(this.href);return false;

Nunja, vielleicht bin ich ja einfach nur intolerant, aber mit einem Pinsel wild Farben auf ein Blatt zu schmieren, damit Leute daraus die Dialektik von Gut und Böse erkennen, halte ich weit weniger für Kunst als z.B. Videospiele.
Zuletzt geändert von meisterlampe1989 am 19. Dez 2017, 18:37, insgesamt 4-mal geändert.
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DieTomate
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Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von DieTomate »

lolaldanee hat geschrieben:Mich würde es ja schon mal jucken ein Spiel zu entwickeln in dem man wirklich einem Zensor aus jedem möglichen Staat auf die Füße tritt bei dem es nur irgendwie geht. Quasi ein Spiel zu entwickeln, das in sovielen Ländern verpönt wird wie möglich, um ein bisschen auf die Dämlichkeit diverser Regeln hinzuweisen.
Ich stelle mir das dann in etwa so vor:
Man spielt einen schwulen (Russland) Menschenrechtler (Türkei, und noch viele andere), der in einer Naziuniform mit Hakenkreuz (Deutschland) von Pakistanisch-Kashmir aus (Indien) aufbricht um Tibet zu befreien (China) indem er dort fleißig mit Drogen dealt (Australien). Der Auftraggeber im Spiel ist Mohammed (Diverse Staaten) der einem im Namen von Jehova (Israel) seine Aufträge gibt. :violin:
Würde ich vorbestellen.
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Terranigma
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Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von Terranigma »

meisterlampe1989 hat geschrieben:So schafft man auch ein Alibi einfach alles zur Kunst zu erklären, irgendwann wird es der Pöbel schon verstehen.
Mein Punkt war eher das Gegenteil: "der Pöbel", um im Bild zu bleiben, waren hier die Kunstschaffenden - eben weil sie überhaupt keine Kunst im eigenen Bewusstsein erschufen. Wer in den 1920ern ein Werbeplakat im Jugendstil machte, der machte halt eben ein Werbeplakat, keine Kunst. Heutzutage gelten diese aber als Kunstwerke. Wenn Handwerker in Japan Holzdrucke anfertigten, waren das alltägliche Gebrauchsgüter und schnöde Illustrationen, keine Kunst. Ebenso wenig wie Werbeprospekte oder ALDI-Broschüren für uns "Kunst" sind. Später hat man aber Kunst darin gesehen. Also im Ukiyo-e, nicht in ALDI-Broschüren. Insofern scheint mir die Frage, was Kunst sei, für den Thread hier unerheblich. Die Definition ist wischiwaschi und spiegelt lediglich ein zeitgenössisches Urteil wieder. Aktuell ist der Konsens wohl, dass Videospiele Kunst sind. Das liegt nicht daran, dass man nun etwas verstanden hat, sonder eben eine andere Perspektive hat. Die Entwickler von PacMan, Mario oder Tetris haben sich wohl nicht als Künstler gesehen, ihre Spiele nicht als Kunstwerke. Heute sind es wohl - zumindest für einige Rezipienten. Das genügt als Definition denke ich, ohne tiefer in die "Was ist Kunst?"-Debatte einsteigen zu müssen.
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Wolfgang Walk
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Re: RE: Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von Wolfgang Walk »

zackzackab hat geschrieben:
Wolfgang Walk hat geschrieben: Ich verweise noch mal auf das Urteil, das ich weiter oben zitiert habe, und das genau eines belegt: "Soziale Adäquanz" ist ein Bewertungskriterium, bei dem es historische Belege (NACH WK2!) gibt, dass auch das BVerfG massiv daneben liegen kann.
Korrigier mich, wenn ich Deine Absicht falsch darstelle: Du willst belegen, dass das Bundesverfassungsgericht im Anbetracht seiner Vergangenheit auch heute nicht oder nur eingeschränkt geeignet sei, Grundrechte zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen.
Muss ich dich korrigieren. Das habe ich nirgendwo geschrieben. Ich habe die Anwendbarkeit einer einzelnen Methodik angezweifelt, den Rechtsanspruch der Kunstfreiheit mit anderen Grundrechtsansprüchen herzustellen, weil historisch belegt ist, dass diese Methodik (nämlich Sozialadäquanz) zu verheerenden Ergebnissen führen kann. Und ja, um eine Methodik zu widerlegen, reicht ein einziges Gegenbeispiel. DIE Methodik nennt sich Widerspruchsbeweis.

Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, wie man meine Argumentation anders lesen kann.
zackzackab
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Re: RE: Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von zackzackab »

Wolfgang Walk hat geschrieben: Muss ich dich korrigieren. Das habe ich nirgendwo geschrieben. Ich habe die Anwendbarkeit einer einzelnen Methodik angezweifelt, den Rechtsanspruch der Kunstfreiheit mit anderen Grundrechtsansprüchen herzustellen, weil historisch belegt ist, dass diese Methodik (nämlich Sozialadäquanz) zu verheerenden Ergebnissen führen kann. Und ja, um eine Methodik zu widerlegen, reicht ein einziges Gegenbeispiel. DIE Methodik nennt sich Widerspruchsbeweis.

Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, wie man meine Argumentation anders lesen kann.
Wolfgang Walk hat geschrieben:- Und: dürfte man die teilweise durchaus verheerende bundesdeutsche Rechtsgeschichte in dem Fall als Beleg vor Gericht anführen, dass dem BVerfG in solchen Fragen die notwendige Kompetenz nur mit erheblichen Zweifeln zusprechbar ist?
Dann kann ich die Daseinsberechtigung dieses letzten Satzes in Deiner Argumentation leider nicht nachvollziehen.

Bevor wir weiter (offenbar) aneinander vorbeireden: Ich bin im Ergebnis bei Dir, dass "Sozialadäquanz" vollkommen ungeeignet ist, einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung oder die Kunstfreiheit zu rechtfertigten.

Im von Dir zitierten Urteil kommt der Begriff übrigens nicht vor. Die Grundrechtsschranke, um die es dort im Wesentlichen geht, ist das "Sittengesetz", was man freilich so ähnlich verstehen kann, wie Du den Begriff Sozialadäquanz. Und ja, das Sittengesetz ist vollkommen einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung zu rechtfertigten. Deswegen werden Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 GG heute im Wesentlichen an der gesetzmäßigen Ordnung und nicht mehr an dem dort erwähnten Sittengesetz gemessen. Das wird gerade wegen seiner Unbestimmbarkeit vom Verfassungsgericht und wahrscheinlich gerade auch unter Rücksichtnahme auf das von Dir zitierte Urteil, inzwischen als eigene Grundrechtsschranke gleichsam ausgeblendet.

Im Hinblick auf die Kunstfreiheit gilt die Grundrechtsschranke des Sittengesetzes (Art. 2 Abs. 1 GG), um die es in "Deinem" Urteil geht, ohnehin nicht, weil sie sich systematisch nur auf Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) bezieht. Es sind auch schwerlich Fälle vorstellbar, in denen jemand sein bloßes, von Art. 2 Abs. 1 GG geschütztes Grundrecht, das Teil der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne von die Wahrnehmung eines Kunstwerks zu vermeiden, gegen die Kunstfreiheit erfolgreich "in Stellung bringt" und damit zu einer Art "Sozialadäquanzprüfung" gelangt.

ABER: Eine gesellschaftliche Ächtung bestimmter Verhaltensweisen lässt sich in der Regel immer auf einen (vermeintlichen) Eingriff in konkrete Grundrechte oder Verfassungsgüter (zB elterliches Erziehungsrecht, Jugenschutz, usw) runterbrechen und auf der Ebene bestünde für das Verfassungsgericht wieder die Möglichkeit, dem allgemeinen gesellschaftlichen Unbehangen zerlegt in seine Bedeutung für die Wahrnehmung einzelner, mit der Kunstfreiheit kollidierender Grundrechte und Verfassungsgüter am konkreten Grundrecht oder Rechtsgut ein Gewicht beizumessen.

Die Debatte würde also nicht nebulös und abstrakt geführt, wie im von Dir und mir kritisierten Urteil, sondern am Schutzgehalt konkreter Grundrechte orientiert und das BVerfG wäre nach dieser heutigen Grundrechtsdogmatik gezwungen, sehr viel genauer zu benennen, warum der gesellschaftliche Konsenz am Maßstab konkreter Grundrechte einen legitimen, gewichtigen Einwand gegen das in Rede stehende Verhalten darstellt. Der gesellschaftliche Konsenz, das bestimmte Praktiken der Allgemeinheit unzumutbar sind, würde also heruntergebrochen auf seine einzelnen Hintergründe und daher sachorientierter und unter Berücksichtigung des sehr viel offeneren Zeitgeistes im Rahmen einer sehr viel differenzierten Betrachtung in die Abwägung eingeführt. Scheinargumente und gefühlte Sittenwidrigkeit würden als Argumente sofort auffallen.

Die Gefahren, die Du hier ins Spiel bringst, sehe ich im Rahmen einer Diskussion in Anwendung der aktuellen Grundrechtsdogmatik nicht mehr. Daher mein Unverständnis dafür, dass Du das Wirken des Verfassungsgerichts, nach meinem Eindruck, auch heute mit Argwohn betrachtest. Ich hoffe, jetzt verstehen wir einander besser und Du kannst etwas besser nachvollziehen, warum mich Deine Argumentation zunächst verwundert hat. Und sorry für die vielen Edits. ;)
Zuletzt geändert von zackzackab am 19. Dez 2017, 19:30, insgesamt 15-mal geändert.
toxic_garden

Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von toxic_garden »

meisterlampe1989 hat geschrieben:Mich überfordert eher das Prätentiöse an denen, die diese "Kunst" ernsthaft rezipieren. Ich glaube, und das ist jetzt sicher provokant, dass abstrakte Kunst zu einem großen Teil alleinig zur intellektuellen Masturbation benutzt wird.
/signed

Ich habe in meinem Umfeld (jaja, mal wieder eine subjektive Anekdote) auch einige Kunst Schaffende und habe mich überreden lassen, an zwei Ausstellungen teil zu nehmen. Diese völlig hochgestochene Überinterpretation von trivialen Installationen ging mir nach 20 Minuten dermaßen auf den Zeiger, dass ich mich zum Sektempfang flüchten musste. Gefühlt standen 80% der Besucher so vor den Werken:

Bild
Abstrakte Kunst leidet an chronischer Überinterpretation und ist eine reine Projektionsfläche, für die Gedanken der Rezipienten.
grundsätzlich kann Kunst gerne und immer Projektionsfläche für eigene Interpretation sein, das ist ja einer ihrer Hauptziele. Aber ich habe das Gefühl, dass sie gerade bei "moderner" Kunst zu sehr in scheinbare Objektivität abdriftet. "Wer das nicht wie ich interpretiert, ist wohl nicht hell genug". Eine ganz wunderbare Form der Arroganz, die mit sehr hoher Effektivität dafür sorgt, dass ich das Gespräch mit jemandem beende.
Wolfgang Walk
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Re: RE: Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von Wolfgang Walk »

zackzackab hat geschrieben:
Wolfgang Walk hat geschrieben: Muss ich dich korrigieren. Das habe ich nirgendwo geschrieben. Ich habe die Anwendbarkeit einer einzelnen Methodik angezweifelt, den Rechtsanspruch der Kunstfreiheit mit anderen Grundrechtsansprüchen herzustellen, weil historisch belegt ist, dass diese Methodik (nämlich Sozialadäquanz) zu verheerenden Ergebnissen führen kann. Und ja, um eine Methodik zu widerlegen, reicht ein einziges Gegenbeispiel. DIE Methodik nennt sich Widerspruchsbeweis.

Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, wie man meine Argumentation anders lesen kann.
Wolfgang Walk hat geschrieben:- Und: dürfte man die teilweise durchaus verheerende bundesdeutsche Rechtsgeschichte in dem Fall als Beleg vor Gericht anführen, dass dem BVerfG in solchen Fragen die notwendige Kompetenz nur mit erheblichen Zweifeln zusprechbar ist?
Dann kann ich die Daseinsberechtigung dieses letzten Satzes in Deiner Argumentation leider nicht nachvollziehen.
Du hättest natürlich beim zweiten Zitat auch noch den Satz, den ich EXAKT davor geschrieben habe mit reinnehmen können, dann wäre klar, auf was sich das "dabei" bezieht (kleiner Tipp: fängt mit "S" an und hört mit "ozialadäquanz" auf) - und Dein Unverständnis wäre dir selbst unverständlich geworden ... :-)
zackzackab hat geschrieben:Bevor wir weiter (offenbar) aneinander vorbeireden: Ich bin im Ergebnis bei Dir, dass "Sozialadäquanz" vollkommen ungeeignet ist, einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung oder die Kunstfreiheit zu rechtfertigten.

Im von Dir zitierten Urteil kommt der Begriff übrigens nicht vor.
Was auch daran liegt, dass Sozialadäquanz vor allem dazu genutzt wird, ansonsten gesetzlich verbotenes Verhalten mit sozialer Adäquanz zu entschuldigen und - früher - straffrei bzw. - heute - eher strafmildernd zu bewerten. Korrigiere mich, wenn ich da falsch liege. In besagtem BVerfG-Urteil wurde dagegen das Sittengesetz herangezogen (bis zurück zum Alten Testament), um eine Strafbarkeit zu verargumentieren, die nach den allgemeinen Rechtsnormen des GG nicht verargumentierbar war. Vielleicht etwas polemisch formuliert, aber dem Urteil liest man das Entsetzen der Richter vor der eigenen Erkenntnis an, dass Homosexualität womöglich von den Menschenrechten gedeckt sein könnte. Und daraus schloss man messerscharf ...
zackzackab hat geschrieben:Die Grundrechtsschranke, um die es dort im Wesentlichen geht, ist das "Sittengesetz", was man freilich so ähnlich verstehen kann, wie Du den Begriff Sozialadäquanz. Und ja, das Sittengesetz ist vollkommen einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung zu rechtfertigten. Deswegen werden Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 GG heute im Wesentlichen an der gesetzmäßigen Ordnung und nicht mehr an dem dort erwähnten Sittengesetz gemessen. Das wird gerade wegen seiner Unbestimmbarkeit vom Verfassungsgericht und wahrscheinlich gerade auch unter Rücksichtnahme auf das von Dir zitierte Urteil, inzwischen als eigene Grundrechtsschranke gleichsam ausgeblendet.
Was man der jüngeren Rechtsprechung anmerkt und gut für das Land und das Gericht ist.
zackzackab hat geschrieben:Im Hinblick auf die Kunstfreiheit gilt die Grundrechtsschranke des Sittengesetzes (Art. 2 Abs. 1 GG), um die es in "Deinem" Urteil geht, ohnehin nicht, weil sie sich systematisch nur auf Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) bezieht. Es sind auch schwerlich Fälle vorstellbar, in denen jemand sein bloßes, von Art. 2 Abs. 1 GG geschütztes Grundrecht, das Teil der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne von die Wahrnehmung eines Kunstwerks zu vermeiden, gegen die Kunstfreiheit erfolgreich "in Stellung bringt" und damit zu einer Art "Sozialadäquanzprüfung" gelangt.
Da verlief ein Teil der Diskussion hier allerdings anders - und nur dagegen habe ich mich gewehrt: gegen die hier geäußerte Anmutung, dass letzten Endes bei der gerichtlichen Bewertung eines Kunstwerks ein solches Sittengesetz zur Anwendung kommen darf. Darum mein Hinweis auf das Urteil von 57 mit dem Hinweis: das ginge schief. Wobei ich immer davon ausging, dass die jetzige Besetzung des BVerfG dies genauso sähe. Aber solche Besetzungen sind halt Veränderungen unterworfen, und mit 52% AfD in Bund und Ländern ändern sich auch die Besetzungskommissionen. Soweit sind wir uns - denke ich - einig. Hier wird's interessant:
zackzackab hat geschrieben:ABER: Eine gesellschaftliche Ächtung bestimmter Verhaltensweisen lässt sich in der Regel immer auf einen (vermeintlichen) Eingriff in konkrete Grundrechte oder Verfassungsgüter (zB elterliches Erziehungsrecht, Jugenschutz, usw) runterbrechen und auf der Ebene bestünde für das Verfassungsgericht wieder die Möglichkeit, dem allgemeinen gesellschaftlichen Unbehangen zerlegt in seine Bedeutung für die Wahrnehmung einzelner, mit der Kunstfreiheit kollidierender Grundrechte und Verfassungsgüter am konkreten Grundrecht oder Rechtsgut ein Gewicht beizumessen.
Was genau IST denn Kunst für eine Verhaltensweise? (Und es können doch nur Verhaltensweisen grundrechteinschränkenden Charakter haben, oder?) Und inwiefern kann die dann grundrechteinschränkend sein. Kunst im öffentlichen Raum geht ja in aller Regel durch Gremien. Kein Künstler kriegt einfach so einen Freibrief: "Stell da mal was hin. Hier hast du ne halbe Millionen." Sprich: in dem Fall gab es vorher einen nachvollziehbaren Beschluss, das Kunstwerk aufzustellen. Natürlich kann man dann immer noch klagen, aber es kann doch von einem allgemeinen gesellschaftlichen Unbehagen dann nicht mehr ernsthaft gesprochen werden, wenn das Kunstwerk als Ergebnis eines kompetenten Mehrheitsbeschlusses aufgestellt wurde, oder?
zackzackab hat geschrieben:Die Debatte würde also nicht nebulös und abstrakt geführt, wie im von Dir und mir kritisierten Urteil, sondern am Schutzgehalt konkreter Grundrechte orientiert und das BVerfG wäre nach dieser heutigen Grundrechtsdogmatik gezwungen, sehr viel genauer zu benennen, warum der gesellschaftliche Konsenz am Maßstab konkreter Grundrechte einen legitimen, gewichtigen Einwand gegen das in Rede stehende Verhalten darstellt. Der gesellschaftliche Konsenz, das bestimmte Praktiken der Allgemeinheit unzumutbar sind, würde also heruntergebrochen auf seine einzelnen Hintergründe und daher sachorientierter und unter Berücksichtigung des sehr viel offeneren Zeitgeistes im Rahmen einer sehr viel differenzierten Betrachtung in die Abwägung eingeführt. Scheinargumente und gefühlte Sittenwidrigkeit würden als Argumente sofort auffallen.
Soweit bin ich bei Dir. Aber der ganze Fall kann ja nur für Kunst im öffentlichen Raum gelten. Ein Game als kommerzielles Gut fiele also sicher raus, weil ja niemand gezwungen wird, es zu kaufen oder zu spielen. Auch, wenn es in einem Museum ausgestellt würde, läge keine erzwungene Rezeption vor. Solange das also nicht auf der großen Leinwand am Potsdammer Platz gezeigt wird, gäbe es letzten Endes auch keine Argumentation für ein Verbot, weil die sich ja (vorausgesetzt es liegen keine anderen Grundrechtsverletzungen vor) ausschließlich auf den gesellschaftlichen Konsens stützt, der für privat Gezeigtes unerheblich sein müsste - nach meinem Rechtsverständnis. Liege ich da falsch?
zackzackab hat geschrieben:Die Gefahren, die Du hier ins Spiel bringst, sehe ich im Rahmen einer Diskussion in Anwendung der aktuellen Grundrechtsdogmatik nicht mehr. Daher mein Unverständnis dafür, dass Du das Wirken des Verfassungsgerichts, nach meinem Eindruck, auch heute mit Argwohn betrachtest. Ich hoffe, jetzt verstehen wir einander besser und Du kannst etwas besser nachvollziehen, warum mich Deine Argumentation zunächst verwundert hat. Und sorry für die vielen Edits. ;)
Ich beargwöhne nicht das Wirken des BVerfG im Allgemeinen, ich beargwöhne die Methodik, die zum Urteil von 57 führte - und dies denke ich mit gutem Recht. Ich fürchte bzw. habe Angst davor, dass die Zeiten uns womöglich wieder Richter nach Karlsruhe schicken könnten, die (denn das ist das ganze Denkmodell der Neuen Rechten) genau dieses Sittengesetz wieder aus der Truhe hervorholen und dazu nutzen, unsere Verfassung auszuhöhlen. Denn mit dem Alten Testament kann man alles rechtfertigen. Schon mal Sonntags gearbeitet?
zackzackab
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Re: RE: Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von zackzackab »

Wolfgang Walk hat geschrieben: Du hättest natürlich beim zweiten Zitat auch noch den Satz, den ich EXAKT davor geschrieben habe mit reinnehmen können, dann wäre klar, auf was sich das "dabei" bezieht (kleiner Tipp: fängt mit "S" an und hört mit "ozialadäquanz" auf) - und Dein Unverständnis wäre dir selbst unverständlich geworden ... :-)
Na ja, meine Verwirrung beruhte ja auch darauf, dass der Begriff der Sozialadäquanz meines Wissens nach ein einfach-rechtlicher ist; es handelt sich um keine Kategorie, die dem Grundgesetz als solchem bekannt wäre. Um das besser verständlich zu machen:

Im Grundgesetz taucht der Begriff nicht auf. Da nur in der Verfassung geregelte Rechte und Rechtsgüter dazu taugen, eine Einschränkung dort konstutierter Rechte und Rechtsgüter zu rechtfertigen, spielt der Begriff für das Bundesverfassungsgericht erstmal überhaupt keine Rolle. Vor dem Hintergrund wollte mir wegen meines juristischen Backgrounds nicht ganz einleuchten, was der Begriff der Sozialadäquanz im Zusammenhang mit dem Bundesverfassungsgericht soll. Deshalb habe ich auch darauf hingewiesen, dass im von Dir zitierten Urteil auf das Sittengesetz abgestellt worden ist.

Soweit ich das Urteil beim Überfliegen richtig verstanden habe, hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung im Zusammenhang mit der Strafbarkeit der Homosexualität folgende Überlegungen angestellt:

Sexuelle Handlungsfreiheit sei Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit / freien Entfaltung der Persönlichkeit, die von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird.
Art. 2 Abs. 1 GG lässt es zu, dass die allgemeine Handlungsfreiheit aufgrund der Sittengesetze eingeschränkt wird, was eine ziemlich nebulöse Sache ist, wie Du zutreffend festgestellt hast. Diese Schranke wird heute unangewendet gelassen und das BVerfG stellt eigentlich nur noch auf die ebenfalls in Art. 2 Abs. 1 GG genannte verfassungsmäßige Ordnung ab. Denn dogmatisch erfordert diese Grundrechtsschranke sehr viel mehr Begründungsaufwand und differenzierte Prüfung als die des Sittengesetz. In der damaligen Entscheidung hat das BVerfG aber noch dankbar auf das Sittengesetz zurückgegriffen, weil es eine sehr einfache Möglichkeit bot, mit wolkigem, schwulenfeindlichen Geschwätz den Anschein einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Strafbarkeit zu erwecken.

Dem verfassungsrechtlichen Begriff des Sittengesetzes gegenüber ist der Begriff der Sozialadäquanz bei der Anwendung des einfachen Rechts durch die drei Staatsgewalten häufig Schauplatz für von zB einem Strafgericht oder einer Behörde anzustellenden grundrechtliche Abwägungen. Ich finde ihn im Zusammenhang beispielsweise mit § 86 Abs. 3 StGB auch ungenau. Man spricht zwar von der Sozialadäquanz-Klausel, der Begriff der Sozialadäquanz taucht aber im Gesetz nirgends auf. Vielmehr heißt es dort: "Satz 1 gilt nicht, wenn das Propagandamittel oder die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient." Das Gesetz wird dort also viel plastischer als der Begriff der Sozialadäquanzprüfung: Es soll eben eine Grundrechtsabwägung erfolgen. Und wenn dem Fachgericht dabei Fehler passieren, zB, wenn es die Prüfung ganz unterlässt (OLG Frankfurt lässt grüßen) oder einfach aus Sicht des Verfassungsgerichts wesentlicher verfassungsgerichtliche Gesichtspunkte übersehen hat, kann es eingreifen. Selbst prüft es die "Sozialadäquanz" streng genommen nicht, weil es kein einfaches Recht anwendet; tatsächlich entspricht die Grundrechtsabwägung, die das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung etwa einer Urteilsverfassungsbeschwerde aber dem, was auch das Fachgericht macht.

Vielleicht wird jetzt deutlich, dass meine Verwirrung durch eine Mitzitierung des vorangegangenen Satzes wahrscheinlich auch nicht beigelegt worden wäre. Eine Sozialadäquanzprüfung des BVerfG gibt es eigentlich nicht. Ich denke vielleicht einfach zu juristisch als für unsere Diskussion zuträglich war; und das, obwohl es (auch) um juristische Themen geht. Für uns beide vielleicht ein bisschen frustrierend, aber, jedenfalls für mich, trotzdem interessant. :D
Wolfgang Walk hat geschrieben: Was auch daran liegt, dass Sozialadäquanz vor allem dazu genutzt wird, ansonsten gesetzlich verbotenes Verhalten mit sozialer Adäquanz zu entschuldigen und - früher - straffrei bzw. - heute - eher strafmildernd zu bewerten.
Im Strafrecht sind sich die meisten, aber nicht alle, darüber einig, dass die Sozialadäquanz eines Verhaltens dafür sorgt, dass ein Straftatbestand bereits nicht erfüllt ist. Man unterscheidet im materiellen Strafrecht Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld. Der Tatbestand sagt, was grundsätzlich verboten ist; da sozialadäquates Verhalten dafür sorgt, dass der Tatbestand nicht erfüllt ist, ist also zB ein Kunstwerk, dass § 86 III StGB unterfällt bereits nicht verboten. Wenn eine Norm regelt, dass etwas gerechtfertigt ist, bedeutet das, dass das gegen das strafrechtlich sanktionierte Verbot verstoßen worden ist, aber Gründe vorliegen, die das begangene Unrecht wieder aufwiegen, so dass der Verbotsverstoß gerechtfertigt war. Auf Schuldebene sagt man, Du hast zwar rechtwidrig Unrecht begangen, es gibt aber besondere Gründe, die es rechtfertigen, dass Du nicht für das begangene Unrecht bestraft werden sollst. Sozialadäquates Verhalten führt also dazu, dass ein Verhalten nicht verboten ist, also kein Unrecht verübt wurde und DESHALB das Verhalten straflos bleibt. Sorry für die Langfassung. Wenn ich es sauber erklären will, muss ich etwas ausholen. ;)
Wolfgang Walk hat geschrieben: Da verlief ein Teil der Diskussion hier allerdings anders - und nur dagegen habe ich mich gewehrt: gegen die hier geäußerte Anmutung, dass letzten Endes bei der gerichtlichen Bewertung eines Kunstwerks ein solches Sittengesetz zur Anwendung kommen darf. Darum mein Hinweis auf das Urteil von 57 mit dem Hinweis: das ginge schief. Wobei ich immer davon ausging, dass die jetzige Besetzung des BVerfG dies genauso sähe. Aber solche Besetzungen sind halt Veränderungen unterworfen, und mit 52% AfD in Bund und Ländern ändern sich auch die Besetzungskommissionen. Soweit sind wir uns - denke ich - einig.
Jup, sind wir. Schön, dass wir das jetzt auch beide gemerkt haben. Sorry! ;)

Hier wird's interessant:
Wolfgang Walk hat geschrieben: Hier wird's interessant: Was genau IST denn Kunst für eine Verhaltensweise?
Ich deute Deine Frage so, dass Du nicht danach fragst, wie man Kunst definiert, sondern auf welches Verhalten ich konkret Bezug nehmen wollte. Verhalten ist in der Juristerei der Oberbegriff für Tun oder Unterlassen. Mir ging es mit meiner Formulierung um die Bereiche, die durch die Kunstfreiheit konkret geschützt werden: Werken (Erstellung des Kunstwerks) und Wirken (Vermittlung des Kunstwerks an Dritte). Sowohl der Prozess der Erstellung des Kunstwerks, als auch seine wie auch immer gearteten Präsentation können ja mit anderen Verfassungswerten (Grundrechten, onstige Verfassungsgüter) in Konflikt geraten. Darum ging es mir.
Wolfgang Walk hat geschrieben: (Und es können doch nur Verhaltensweisen grundrechteinschränkenden Charakter haben, oder?)
Das ist eine gute Frage: Im juristischen Sprachgebrauch ist Verhalten jedes Tun, Dulden oder Unterlassen. Auch ein Unterlassen einer Person in Wahrnehmung eines Grundrechts kann mit dem Grundrecht eines anderen in Konflikt geraten.
Nehmen wir zB einen schweren Autounfall, bei dem ein Beteiligter schwer verletzt ist und zu versterben droht, wenn ein unbeteiligter Dritter potentieller Ersthelfer nicht eingreift. Dass Recht des Unbeteiligten, nichts zu tun, ist durch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) im Grundsatz geschützt. Andererseits ist auch das Grundrecht auf Leben des Unfallopfers bedroht, wenn der Unbeteiligte nicht hilft. Diesen Konflikt grundrechtlicher Positionen im Miteinander Privater hat der Gesetzgeber durch die Schaffung des § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung) zu einem Ausgleich gebracht.
Weiteres Beispiel: Ein Künstler will seine Gemälde auf einem Markt auf einem öffentlichen Platz aufstellen (Vermittlung des Kunstwerks an Dritte) und beantragt eine Zulassung zum Markt. Die Verwaltung tut: nichts. Sie erlässt einfach keinen Verwaltungsakt über die Zulassung oder deren Ablehnung. Dann kann der Künstler auf Zulassung klagen, ggf. auch einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch nehmen, weil die Untätigkeit der Verwaltung ihn in seiner Kunstfreiheit verletzt, wenn der Markt ohne ihn stattzufinden droht.
Wolfgang Walk hat geschrieben:
Und inwiefern kann die dann grundrechteinschränkend sein. Kunst im öffentlichen Raum geht ja in aller Regel durch Gremien. Kein Künstler kriegt einfach so einen Freibrief: "Stell da mal was hin. Hier hast du ne halbe Millionen." Sprich: in dem Fall gab es vorher einen nachvollziehbaren Beschluss, das Kunstwerk aufzustellen. Natürlich kann man dann immer noch klagen, aber es kann doch von einem allgemeinen gesellschaftlichen Unbehagen dann nicht mehr ernsthaft gesprochen werden, wenn das Kunstwerk als Ergebnis eines kompetenten Mehrheitsbeschlusses aufgestellt wurde, oder?
Wenn ich den "Schlagabtausch" zwischen Dir und André richtig verstanden habe, ging es André um Extremfälle, in denen ein weit überwiegender Teil der Bevölkerung nicht haben wollen würde, dass das Kunstwerk errichtet wird. Und in der Regel wird dann auch die Verwaltung, in weiser Voraussicht (oder vorauseilendem Gehorsam ;) ) um einen Skandal zu vermeiden auch keine Erlaubnis erteilen und der Künstler hat den schwarzen Peter, sich die Vermittlung seines Kunstwerks zu erstreiten. Aber, um bei meinem Beispiel oben zu bleiben, es gibt ja eben auch Performancekünstler oder Leute, die ihre klassische Kunst (Skulpturen, Gemälde, etc.) öffentlich und ggf. auch nur vorübergehend ausstellen wollen. Da wird ja dann kein elaboriertes baurechtliches oder auch sonst einschlägiges Verfahren durchgeführt, sondern es geht ganz normal um eine Genehmigung zur Nutzung eines öffentlichen Platzes, einer Straße, etc. zur Ausstellung der Kunst. Und auch dort kann es natürlich zu Konflikten kommen, wenn Motiv oder Darbietung nicht dem entsprechen, was öffentlich gewollt ist. In München muss man als Musiker glaube ich auch bei der Behörde erst vorspielen, um überhaupt eine Chance auf eine Genehmigung zu haben. Da fängt es ja schon an. ;)

Im Endeffekt wird also auch bei Behördenentscheidungen im Kleinen über Wohl und Wehe eines Kunstprojektes entschieden.

Zum Rest mache ich mir zu morgen Gedanken.

Einen schönen Abend!
chrisinger
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Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von chrisinger »

Das war einer Eurer besten Podcasts!
1) Wolfgang hat seine besten Stellen nicht in seinen eigenen Monologen, sondern wenn er sich mit Euch Jochen und André unterhält! Das bringt einen deutlichen Mehrwert und birgt weniger die Gefahr in geisteswissenschaftliche Theorie völlig ohne Praxisbezug abzudriften, sondern wird zwischendurch immer mal wieder geerdet. Das gefällt mir sehr gut! Bitte podcastet mehr zusammen!
2) Bleibt bitte so autentisch, wie in diesem Podcast! Man könnte sagen ein "Ich muss zum Tierarzt" könnte man herausschneiden. Aber ich finde es da drin genau so wie es ist super. Denn es zeigt, dass ihr nicht nur die Stimmen aus dem Podcast seid, sondern Menschen wie Du und ich - und wenn der Hund zum Tierarzt muss, dann ist das jetzt eben so.
3) Wenn Ihr als Podcast jemals die Gelegenheit haben wolltet noch deutlich mehr Aufmerksamkeit auf Euch zu ziehen, dann ist das jetzt, wenn es darum geht das Spiel zu entwickeln und zu publishen, was dafür sorgt, dass Spiele als Kunstform nicht mehr per se abgeschrieben werden, dann bitte macht das! Und wenn ihr dafür von den Spiele-Verbänden nicht genug Unterstützung bekommt, lasst uns ein Crowdfunding-Projekt machen, was euch finanziell absichert! Wenn Ihr so ein Projekt startet, sind die ersten 100€ von mir!
chrisinger
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Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von chrisinger »

Zum Thema: "Was ist Kunst? Und was darf Kunst?" Kann ich die Simpsons empfehlen: Folge Mom and Pop Art (Staffel 10 Folge 19).
Diese Folge endet damit, dass Homer für Marge die Straßen von Venedig in Springfield nachbaut, indem er alle Kanäle verstopft und alle Hydranten auf dreht. So setzt er die Stadt unter Wasser. Bart fragt ihn dann:
"Are you sure this is art- [ Coughs ] and not vandalism?"
Und Homer antwortet: "That's for the courts to decide, Son."
https://www.springfieldspringfield.co.u ... ode=s10e19" onclick="window.open(this.href);return false;
Also: Ist das Kunst? Das muss ein Richter entscheiden! ;)
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Desotho
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Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von Desotho »

http://www.pcgames.de/Kurioses-Thema-20 ... s-1255869/
Attentat 1942 ist eines dieser Videospiele, die das Medium als ernstzunehmende Kunst adäquat vertreten. Doch obwohl der Titel auf der A MAZE in Berlin gerade frisch ausgezeichnet wurde, ist er hierzulande nicht erhältlich. Der Grund: Er setzt sich mit dem Dritten Reich auseinander und beinhaltet zahlreiche Hakenkreuze. Dabei verherrlicht der Titel die damalige Zeit ganz und gar nicht, sondern setzt sich kritisch mit ihr auseinander.
"nicht erhältlich" heißt aber wohl nur, dass es erst gar nicht probiert wurde.
El Psy Kongroo
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Andre Peschke
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Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von Andre Peschke »

Desotho hat geschrieben: 6. Mai 2018, 18:56 "nicht erhältlich" heißt aber wohl nur, dass es erst gar nicht probiert wurde.
Es gibt Gerüchte, dass man die derzeitige Rechtslage bzgl. Hakenkreuze hierzulande mit dem Spiel als Steilvorlage mal auf die Probe stellen will. Dazu passend geben auch die Entwickler an, sie würden derzeit "daran arbeiten" ihr Spiel nach Deutschland zu bringen und hätten zahlreiche Angebote zur Unterstützung bekommen, u.a. auch von diversen Anwälten.

Oh, ich merke gerade, das Zitat bezog sich eher auf die "Beziehbarkeit" in Deutschland - ja, klar, mit VPN kein Problem.

Andre
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Re: Runde #141: Zensur, Kunst und Gesellschaft

Beitrag von Rince81 »

Andre Peschke hat geschrieben: 6. Mai 2018, 23:10 Es gibt Gerüchte, dass man die derzeitige Rechtslage bzgl. Hakenkreuze hierzulande mit dem Spiel als Steilvorlage mal auf die Probe stellen will. Dazu passend geben auch die Entwickler an, sie würden derzeit "daran arbeiten" ihr Spiel nach Deutschland zu bringen und hätten zahlreiche Angebote zur Unterstützung bekommen, u.a. auch von diversen Anwälten.
Das wäre super! Einerseits für das Spiel, da bin ich wirklich neugierig drauf und zum anderen generell um alleine mal einen "Präzedenzfall" zu haben...
Die "Gesendet von meinem HTC11 Life mit Tapatalk"-Signatur
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