Jon Zen hat geschrieben: ↑18. Mär 2024, 23:52
Gemeinsam mit den USA, Kanada, Mexiko und den ganzen Rest von Amerika + noch viele weitere Länder.
Ich würde jetzt vorsichtshalber vermuten, dass die Kolonialschiene nur ein kleiner Teil der amerikanischen Linken fahren. Dafür muss man ja völlig verstrahlt sein, um nicht schon bei der Behauptung laut loszulachen.
Aber man hört leider immer nur die Lautesten.
Ich dachte es war eigentlich unmöglich, diesen Diskurs nicht mitzubekommen. In den USA tobt seit Jahren eine intensive Debatte um die koloniale Vergangenheit. Nur als Beispiel die Debatten um Feierlichkeiten wie den "Kolumbustag" in den USA genannt.
https://www.youtube.com/watch?v=eKEwL-10s7E (hier bei Last Week Tonight von vor 9 Jahren)
https://www.youtube.com/watch?v=0LyJrwHzx70 (Trevor Noah vor 3 Jahren)
Die BLM Proteste in England richteten sich gegen koloniale Symbole und das koloniale Erbe des Landes. In Kanada gab und gibt es Debatten und eine Aufarbeitung des Boarding School Systems und man redet heute von den First Nations, wenn die eigene indigene Bevölkerung gemeint ist.
Nun ist die Gründung Israels ein Ergebnis der zionistischen Bewegung - primär angetrieben von europäischen Auswanderern/Geflüchteten und Holocaust Überlebenden. Ob man da "Kolonialisierung" reinlesen kann - keine Ahnung, das halte ich persönlich für Quatsch - und selbst wenn, dann ist es "nur" Geschichte.
Nur drängt sich heute der Vergleich bei der Situation im Westjordanland oder der Negev aber geradezu auf. Radikale Siedler, die teils mit Waffengewalt "Outposts" auf palästinischem Gebiet errichten und dort dann Palästinenser vertreiben oder ihre Lebensgrundlage zerstören. Oder Beduinen, die in der Negev Opfer von Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen wurden und werden. In dem Fall ist das aber nicht irgendwann Achtzehnhundertirgendwas geschehen, sondern passiert seit den 50er Jahren bis heute.
https://www.rosalux.org.il/artikel/nege ... ndpolitik/
Nach dem Krieg von 1948 und der Gründung des Staates Israel wurde die Mehrheit der Negev-Beduinen vertrieben oder floh. Sie fanden Zuflucht im Gazastreifen, in Jordanien und im Sinai. Von den nunmehr 95 Stämmen angehörenden 75.000 bis 90.000 Beduinen, die im Jahre 1948 im Negev lebten, blieben lediglich 11.000 aus 19 Stämmen in Israel, während die übrigen zu Flüchtlingen wurden. Anfang der 1950er Jahre siedelte die israelische Armee darüber hinaus gewaltsam elf der verbliebenen Stämme aus ihren Wohnplätzen im südlichen und westlichen Negev in ein geschlossenes Gebiet im Norden des Negev um, das unter dem Namen Sijag oder Sajag bekannt wurde und wo auch die anderen acht Stämme lebten. Der Sijag umfasst acht Prozent des Negev-Gebiets. Die Neuansiedler im Sijag errichteten ihre Lager und Dörfer an Plätzen, die ihnen von der israelischen Armee zugewiesen wurden.[...]
Die israelische Führung stand nunmehr vor drei Optionen: generelle Vertreibung der Beduinen aus Israel, Umsiedelung in Städte weiter im Norden oder Umsiedelung und Konzentrierung in den drei Negev-Städten. Sie entschied sich für die Umsiedelung in die Negev-Städte. Zu den ursprünglich drei Großsiedlungen kamen in den 1990er Jahren weitere sieben urbane Ortschaften hinzu. Aktuell (im Jahre 2015) leben etwa 220.000 beduinisch-arabische Bürger Israels im Negev. Etwa die Hälfte wohnt in den vom Staat errichteten Städten, die andere Hälfte in Dörfern und Ortschaften, die als «nicht anerkannt» gelten und damit in den Augen des Staates illegal sind. Die «Illegalität» bezieht sich insbesondere auf die regionale Planung und die Grundbesitzfrage. Beim Entwurf der Pläne für die Besiedlung des Negev wurden die bestehenden 46 Beduinendörfer von den israelischen Planungsbehörden weitgehend ignoriert, mit der Begründung, die Territorien seien als militärische, industrielle oder ökologische Standorte und nicht als Wohngebiete vorgesehen. Diese Argumentation ermöglichte es der israelischen Regierung, die betreffenden Ortschaften als «illegal» zu klassifizieren, da ihre Planung nicht genehmigt war. Den Beduinen ist heute dennoch bewusst, dass ihre historische Präsenz an diesen Plätzen einen Trumpf im aktuellen Kampf um ihre Bodenrechte darstellt.[...]
Die «anerkannten» Städte sind überbevölkert und verarmt. Die hier lebenden Beduinen leiden unter hoher Arbeitslosigkeit und steigender Kriminalität. In den nicht anerkannten Dörfern und Ortschaften, in denen in der Regel zwischen 500 und 5.000 Menschen wohnen, mangelt es an grundlegendster technischer und sozialer Infrastruktur, seien es Strom, fließendes Wasser, befestigte Straßen, öffentliche Transportmittel oder Schulen. Nach zahlreichen Petitionen an den Obersten Gerichtshof, eingereicht vor allem von Menschenrechtsorganisationen, begann die israelische Regierung Ende der 1990er Jahre zögerlich, den Bewohnern der betreffenden Dörfer bedingt Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Da die Ortschaften vonseiten der israelischen Regierung jedoch weiterhin als illegal angesehen werden, sind ihre Bewohner häufig Opfer von Zwangsräumungen. Manchmal werden ihre Häuser einfach abgerissen.
https://www.medico.de/innere-kolonialisierung-16120
Viele Beduinenfamilien ließen über Jahre ihre Söhne in der israelischen Armee dienen - oft in der Hoffnung, durch diesen Loyalitätsbeweis irgendwann doch als gleichwertige Staatsbürger akzeptiert zu werden, nachdem viele von ihnen in den 1950er Jahren durch die damalige israelische Militärregierung von ihrem Land vertrieben und dahin beordert worden waren, wo sie noch heute leben: auf Staatsland, das ihnen zwar zugewiesen, jedoch nie übereignet wurde.
Dieser Umstand bildete über Jahrzehnte die Grundlage dafür, dass ihre Dörfer vom Staat nicht anerkannt wurden. Der Zugang zu Strom und Wasser wurde verwehrt oder erschwert. Staatliche Dienstleistungen wie die Gesundheitsversorgung hinken in ihrer Qualität und Verfügbarkeit dem nationalen Standard bis heute weit hinterher. Die Kindersterblichkeit ist unter den Beduinen die höchste landesweit und liegt deutlich über dem israelischen Durchschnitt. In einem widersinnigen Urteil erkannte der Gerichtshof jetzt zwar an, dass die Menschen in Um al-Hiran keine Landbesetzer seien, weil schließlich die Regierung selbst ihnen das Staatsland zugewiesen habe. Trotzdem sollen die Beduinen zwangsumgesiedelt werden, weil der Staat das Recht habe, das Land jederzeit einer anderen Nutzung zuzuführen. Das soll nun geschehen - fast 60 Jahre nach ihrer Ansiedlung durch den Staat. Aus dem palästinensischen Um al-Hiran in Israel soll eine Stadt für die jüdische Mehrheitsgesellschaft werden: Hiran.
Im Negev vollzieht sich damit ein Prozess der Landnahme - eine Art innere Kolonialisierung -, der nach dem gleichen Muster wie die Vertreibungs- und Ansiedlungspolitik in der Westbank abläuft. Seit Jahren gibt es in unmittelbarerer Nähe zum Beduinendorf einen von Siedlern gegründeten Außenposten. Im Gegensatz zu Um al-Hiran wurde dieser Vorposten sofort mit Strom und Wasser versorgt - und seine Bewohner warten nur darauf, dass der Staat seine widerspenstigen palästinensischen Bürger räumen wird. Ähnlich wie in der Westbank trägt die Existenz der Siedler nun zur Legitimation der Gründung einer israelisch jüdischen Stadt auf den Ruinen eines arabisch israelischen Dorfes bei. So weist der medico-Partner Adalah darauf hin, dass der Oberste Gerichtshof in seinem Urteil die Frage ignoriere, warum eine neue jüdische Stadt ausgerechnet an der Stelle eines bestehenden arabischenDorfes errichtet werden müsse - ein Platzproblem gebe es in der Negev-Wüste nun wahrlich nicht.
Es gibt in der Geschichte und der Gegenwart von Israel Muster, beispielsweise in der Vertreibung von indigener Bevölkerung, die sich mit Mustern vergleichen lässt, die sich in der kolonialen Geschichte Europas und Amerikas wiederfinden.
Darüber kann man diskutieren, "völlig verstrahlt" ist die Diskussion aber ganz sicher nicht.