Fachleute sehen den medialen und politischen Diskurs rund um die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) kritisch, weil sie nicht die Aussagekraft hat, die ihr von Politiker*innen und Medien oft zugeschrieben wird.
Hier äußert sich beispielsweise der
Kriminologe Martin Thüne im Interview mit der Frankfurter Rundschau:
Warum ist die Polizeiliche Kriminalstatistik aus Ihrer Sicht problematisch?
Die PKS ist hochgradig kompliziert, und sie wird Jahr für Jahr komplizierter, weil die Erfassungsmodalitäten umgestellt werden. Man muss quasi Kriminologie studiert haben, um mit der PKS umgehen zu können. Sie hat außerdem systematische Probleme. Ein Leitsatz lautet: Die PKS ist unvollständig, verzerrt, potenziell manipulierbar und ungewichtet. Die PKS ist unvollständig, weil sie die tatsächliche Kriminalität zuweilen nicht ansatzweise abbildet. Sie ist verzerrt, das heißt, bestimmte Phänomene werden stärker abgebildet als andere. Sie ist potenziell manipulierbar, das heißt, man kann durch bestimmte polizeiliche Maßnahmen die Fallzahlen aktiv beeinflussen und man kann Aufklärungsquoten aktiv beeinflussen und damit ein Bild suggerieren, das mit der Realität nichts zu tun hat.
Muss die Kriminalstatistik reformiert werden?
Ich würde stark dafür plädieren, dieses PKS-System radikal in Frage zu stellen, sich zusammenzusetzen und etwas Neues zu entwickeln. Vorschläge dazu gibt es seit Jahrzehnten. Wir sehen ja, dass sie in der Öffentlichkeit polarisiert und Maßnahmen aus der PKS abgeleitet werden, die auf dieser Datengrundlage besser nicht abgeleitet werden sollten.
flix hat geschrieben: ↑6. Jul 2024, 06:40
Ich habe nichts davon geschrieben, dass die Taten nicht geahndet werden,
Du schreibst Folgendes:
flix hat geschrieben: ↑6. Jul 2024, 06:40
wenn islamistische Taten hier weiterhin in einer sehr hohen Frequenz verübt werden muss man halt irgendwo (hart) ansetzen. Eine Lösung dafür habe ich allerdings auch nicht. Die derzeitige Lage ist aber schlicht inakzeptabel.
Da steckt erstens die Behauptung drin, dass islamistische Taten in einer sehr hohen Frequenz verübt werden und zweitens implizieren "(hart) ansetzen" und die "derzeitige, schlicht inakzeptable Lage" meinem Verständnis nach, dass man erst damit beginnen muss, hart dagegen vorzugehen, weil es eben noch nicht passiert.
Das sind jetzt generell Messerangriffe, aber islamistisch? Islamismus als Motiv wird lediglich im Monitor-Beitrag zum Mannheimer Mordanschlag nahegelegt. Gleichzeitig betrachtet der Beitrag aber die massive politische Instrumentalisierung des Anschlags und insbesondere die Verquickung mit dem Thema Migration und bspw. Forderungen nach einer härteren Abschiebepraxis äußerst kritisch.
Zu Messerangriffen generell ist kürzlich
dieses Interview mit dem Kriminologen Dirk Baier, der u.a. zu Gewaltprävention forscht, erschienen. Auch hier wird die Aussagekraft der PKS insgesamt problematisiert, aber auch nochmal spezifischer auf das konkrete Thema Messerangriffe eingegangen. Das ganze Interview ist lesenswert, aber ich picke mal ein paar Aussagen heraus, die besonders mit unserer Diskussion hier zusammenhängen.
Aber die Zahlen in den Polizeilichen Kriminalstatistiken zeigen ja schon einen Anstieg – bundesweit und auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Die Zahlen zu Messerangriffen werden erst seit 2021 systematisch erhoben. Die Zahlen der Jahre 2020 und 2021 sind daher aus meiner Sicht mit Unsicherheiten behaftet, weil sich überall erst eine einheitliche Routine bei der Erfassung dieser Delikte etablieren musste.
Die aktuellen Zahlen könnten zudem auch deshalb höher ausfallen, weil wir seit einiger Zeit intensiver über den Messereinsatz reden und daher auch möglicherweise mehr solche Delikte zur Anzeige kommen. Ich wäre daher noch vorsichtig, von einem Trend zu sprechen. Nicht vorsichtig muss man aber bezüglich der Einschätzung sein, dass Messergewalt ein relevantes Problem ist und niedrigere Zahlen eindeutig wünschenswert wären.
Inwieweit das Gefühl zutrifft, dass Messerangriffe zunähmen, ist aus der Sicht dieses Experten also nicht erwiesen. Nichtsdestotrotz stellt die Gewalt ein ernstzunehmendes Problem dar.
Generell gilt: Was die Staatsangehörigkeiten mit einem Messer-Einsatz zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Es hat eher was mit den Lebenslagen der Menschen zu tun.
Welchen Einfluss hat die Lebenslage?
Schauen wir doch mal auf Geflüchtete, die in diesem Bereich auffällig werden, wie diese Menschen in Deutschland untergebracht sind: ohne Bleibeperspektive, meist in größeren Asylunterkünften, meist ohne Tagesstruktur. Es ist nicht so überraschend, dass man sich in diesen Umwelten mit Messern ausstattet, weil es auch eine ein Stück weit gefährliche Umwelt ist. Es ist nicht gut, wenn so viele Männer miteinander untergebracht sind.
Dann dauern die Asylverfahren ewig und diese Menschen leben am Rand der Gesellschaft, den deutschen Wohlstand vor Augen, an dem sie nicht teilnehmen können. Das macht etwas mit Menschen, keine Perspektive zu haben, keine Ausbildung, keine Arbeit, keine Struktur.
Das liest sich für mich deutlich plausibler als der leider viel zu häufig vorkommende Verweis auf Herkunftsländer und -kulturen. Die Forderung von xfrog nach besserer psychologischer Versorgung scheint mir in eine Richtung zu gehen, die der interviewte Experte gutheißen könnte.
Wie blicken Sie denn auf den Umgang von Medien und Politik mit dem Thema Messergewalt?
Es ist ein Problem der politischen Kultur geworden, dass zumindest bestimmte Parteien solche Delikte, die es auch schon vor 20 Jahren gab, instrumentalisieren und damit bestimmte Erklärungsmuster und Forderungen verbinden. Eine einzelne Tat wird dann sofort zum Versagen der jetzigen Politik hochstilisiert. Und das macht etwas mit den Menschen, gerade bei so schweren Taten, die enorm emotionalisieren. Dann werden Vorurteile, die in der Bevölkerung gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen bestehen, befeuert und davon abgeleitet, dass unsere Gesellschaft auf dem völlig falschen Weg wäre.
Genau in diesem Zusammenhang ist aus meiner Sicht auch in Diskussionen im kleineren Rahmen (wie hier im Forum) Vorsicht geboten. Ein Gefühl, dass alles immer schlimmer wird und "die Politik ja nichts tut!" stellt sich angesichts schockierender Nachrichten und Bilder schnell ein. Aber dabei muss man immer hinterfragen, ob wirklich etwas schlimmer wird und ganz besonders muss man darauf achten, Vorurteile nicht zu befeuern.
Als Gaming Community können wir uns auch einfach vor Augen halten, wie überzeugend die Behauptung "Killerspiele machen Kinder zu Mördern!" für weite Teile von Politik und Gesellschaft auf den ersten Blick erschien. Ungleich gefährlicher ist es, wenn derart voreilige Schlüsse und Vorurteile sich auf Bevölkerungsgruppen beziehen, die ohnehin schon deutlich mehr Diskriminierung ausgesetzt sind als der gemeine Gamer und außerdem deutlich heftigere Maßnahmen gefordert werden als (ebenso abzulehnende) Videospielverbote.
Es ist ein soziales Problem und das muss man mit sozialen Maßnahmen angehen.
So lautet Dirk Baiers Fazit zu den Messerangriffen, dem ich voll und ganz zustimme.