Voigt hat geschrieben: ↑1. Jul 2020, 14:15
Asphyx hat geschrieben: ↑1. Jul 2020, 14:00
Wie gesagt, ich will gar nicht abstreiten, dass die eine oder andere Szene oder Figur originalitätsmäßig keine Bäume ausreißt, aber
es ist immer noch TLOU2, nicht Tolstoi.
Ist nich gerade das nun der Punkt worüber wir reden? Es ist nunmal kein Tolstoi Meisterwerk, sondern einfach nur gut.
Mein Ansatz geht eher in die Richtung: ist es fair, jedes Buch an Tolstoi zu messen (wobei ich den Namen jetzt einfach mal exemplarisch rausgegriffen habe, ich behaupte nicht, dass das der beste Autor aller zeiten war
), auch wenn es weder Tolstoi sein will noch sein kann?
Ich muss da an einen Filmjournalisten meiner Jugend denken, bei dem selbst der beste Horrorfilm der Welt maximal 3 Sterne bekommen hat, weil er offenbar das ganze Genre als minderwertig betrachtet hat. Diese Einstellung will ich Andre und Sebastian auf gar keinen Fall unterstellen, nicht falsch verstehen! Mein Punkt ist: wenn ich z.B. "Der Exorzist" an Fellini und Truffaut messe, kann er im Vergleich nur verlieren. Bloß hat weder der Film den Anspruch, noch sein Publikum die Erwartung, er sei daran zu messen.
Die eigentliche Frage ist doch aber: wie gut funktioniert das Werk als das, was es sein will, und wo steht es im Kontext seiner Peers, d.h. seines Genres? Um wieder auf TLOU2 zu kommen: besser geht zumindest in der Theorie immer, trotzdem würde ich behaupten, dass das Spiel im Kontext seines Genres, seiner Ambitionen und seiner Mitbewerber sehr weit oben anzusiedeln wäre. Wäre es ein vorrangig narratives Spiel (eine Edith Finch meinetwegen), dann ließe ich den Vorwurf mangelnder Originalität oder nicht optimalen Writings eher gelten. Mir fehlt bloß der Hinweis auf ein anderes Spiel, das in diesen Punkten signifikant besser wäre. Wären z.B. die Figuren in RDR2 deutlich glaubhafter und vielschichtiger, oder die Story origineller, und man würde darauf zeigen und sagen: "Da, dieses Spiel hat vorgemacht, wie es besser geht!", dann käme von mir kein Einspruch. Solange dieses Beispiel aber fehlt, ist die Forderung, es müsse besser sein, m.E. eine rein akademische.
Um Andres Beispiel "The Irishman" aufzugreifen: es mag ja sein, dass die digitale Verjüngung der Schauspieler (noch) nicht hundertprozentig glaubwürdig ist (auch wenn sie mir, obwohl ich darum wusste, so gut wie gar nicht aufgefallen ist, bzw. ich sie problemlos ausblenden konnte - anders als z.B. die grauenvolle Nachbildung von Peter Cushing in einem der letzten Star Wars Filme), aber ob man sie so störend findet, dass sie die Wertschätzung für den Film als Gesamtwerk beeinträchtigt, ist bestenfalls subjektiv. Tatsache ist, dass ein Film wie dieser noch vor wenigen Jahren gar nicht machbar gewesen wäre. Früher hat man sich damit beholfen, die jüngere Version eines Darstellers mit einem anderen Schauspieler zu besetzen, der in diesem Kontext mal mehr und mal weniger glaubhaft war (z.B. DeNiro als junger Brando in "Der Pate"). Sowas kann ich aber nur machen, wenn die Zeitsprünge im Narrativ 15 oder 20 Jahre groß sind. Wenn sie aber, wie bei "The Irishman" teils deutlich kürzere Intervalle haben, laufe ich mit dieser Vorgangsweise notgedrungen in Probleme. Wann wäre da der Moment, wo ich von einem Darsteller zum anderen wechsle? Wie jung kann ich einen 77jährigen De Niro schminken, damit er noch glaubhaft wirkt?
Bei einem Film wie "Jurassic Park" konnte man sich mit entsprechend cleveren Kameraeinstellungen und raschen Schnitten an vielen Stellen mit Modellen behelfen, wo das CGI noch nicht so weit war, und bei z.B. "Der weiße Hai" hat man aus der Not des nicht funktionierenden Haimodells eine Tugend gemacht und ihn einfach möglichst wenig gezeigt, aber in einem Film, wo Charaktere ständig miteinander interagieren müssen, funktioniert das so schlicht nicht. Was hätte also Scorsese machen sollen? Den Film komplett anders (d.h. mit viel größeren Leerstellen) erzählen? Ihn gar nicht machen? Nochmal 10 Jahre damit zuwarten, obwohl er selbst und alle seine Hauptdarsteller allesamt um die 80 sind? Und wo wäre da ein vergleichbarer Film, der dieselbe Ambition deutlich besser umsetzt? Für mich persönlich ist "The Irishman" ein Meisterwerk, weil seine vielen Stärken für mich seine wenigen Schwächen mehr als aufwiegen (und auch der war mir übrigens nicht zu lang
), und dasselbe gilt für mich bei TLOU2.
Das verkommt jetzt aber langsam wirklich zu einer spitzfindigen philosophischen Diskussion, die wir an dieser Stelle nicht weiter treiben müssen. Ich hoffe dennoch, ich konnte zumindest ein bisschen nachvollziehbar machen, woher meine Kritik kommt. Wie gesagt, ich kann gut damit leben, wenn jemand TLOU2 nicht als so hervorragend empfunden hat wie ich es tat. Mir geht keiner dabei ab, die Kritikpunkte von Andre und Sebastian zu zerpflücken, und ich habe ihre Besprechung keinesfalls als durch die Bank unfair oder schlecht empfunden. Es war mehr so ein Gefühl, dass mir die Messlatte an einigen Stellen willkürlich hoch gelegt wurde, ohne zugleich ein konkretes Beispiel zu benennen, wo es schon mal besser gemacht worden wäre. Ich fühlte mich zuweilen ein bisschen an die legendäre Anekdote über Jörg Langer erinnert, der ihm zum Redigieren vorgelegte Artikel mit dem Vermerk "Nochmal anders und besser" zurückgegeben haben soll. Das mag ein ehrlich empfundener Anspruch sein, es ist aber auch ein schmerzhaft unkonkreter.