Hegelkant hat geschrieben: ↑8. Okt 2019, 10:23
Mir geht es hauptsächlich um einen anderen Aspekt, nämlich Eskapismus *ohne* Anlass (sozusagen den Anfangspunkt dieser Schleife). Angenommen, das Leben ist völlig intakt, der Job ist stressfrei, aber es gibt halt Sachen im Haushalt zu tun oder Freunde, bei denen man sich schon lange mal wieder melden wollte. Oder eine Vereinssitzung, in der man sich engagieren könnte. Aber es gibt eben auch den Fernseher mit Netflix und den PC mit einem Steam-Account. Und dass *an dieser Stelle* immer mehr Fernseher und PC gewinnen, dass man immer mehr prokrastiniert, das ist für mich der zentrale Punkt der Eskapismuskritik (oder Medienkonsum allgemein). Das Überangebot führt dazu, dass es immer ein Spiel oder eine Serie gibt, die gerade unmittelbar dein Belohnungszentrum im Hirn antriggert. Eskapismus ist dann keine rationale Entscheidung, die ein menschliches Bedürfnis befriedigt, sondern mangelnde Impulskontrolle. Man fühlt sich auch nicht wohler dadurch, sondern man hat am Ende ein schlechtes Gewissen, und man kann dem nur durch ein immer größeres Maß an Selbstdisziplin entgegenwirken.
Die Frage ist jetzt nur: Sprichst Du von einem direkten Fall? Oder einem hypothetischen Fall?
In jedem Fall: Nur weil etwas perfekt zu sein
scheint, heißt es nicht, dass es auch
ist. Und am Ende ist es auch einfach nur eine Charakterfrage. Es gibt einfach auch Menschen, die schlicht nicht so viel Kontakt suchen. Es gibt auch Menschen, die einfach unordentlich sind. Aber sie sind glücklich dabei. Ist es nicht das was zählt? Da schwingt mir ein wenig zu sehr eine Vorstellung mit, wie das Leben eines anderen Menschen auszusehen hat. Mal ein ganz simples Beispiel dafür: Ich kann meinen Aufwasch eine Woche lang stehen lasse - juckt mich nicht. Meine Freundin hält es nicht mal aus, dass ihr Aufwasch auch nur drei Stunden steht. Das muss SOFORT, am besten gestern noch, gemacht werden. Und das ist ja auch okay so. Jeder Mensch ist da einfach sehr unterschiedlich. Gehen wir also mal Deine Punkte durch:
- Haushalt: Irgendwann wird es diese eine Grenze geben, wo sich jemand unwohl fühlt. Er wird spätestens dann tätig. Sollte es nicht so sein, dann liegt ein tieferes Problem vor. Aber definitiv nicht der Eskapismus. Denn: Auch eine gerade sauber gemachte Wohnung befriedigt das Belohnungszentrum ungemein.
- Kontaktpflege: Hier muss man schauen. War der Mensch mal anders? Hat er früher mehr Kontakte gepflegt? Oder war er schlicht schon immer eher einzelgängerisch? Auch letzteres gibt es sehr häufig und muss nicht Zeichen irgendeiner Krankheit sein. Kann einfach auch nur Charakter sein. Die Frage ist: Wie fühlt er sich dabei? Und wie fühlt er sich dabei, wenn man ihn drauf anspricht? Das ist enorm Komplex alles und von Fall zu Fall radikal unterschiedlich!
- Hang zum Aufschieben: Auch das kann, nicht muss, eine Charaktereigenschaft sein. Es gibt ja so Leute, die sind ein wenig vergesslich, ein wenig dusselig. Und die einfach danach leben: Was ich heute nicht muss besorgen, kann ich auch morgen. Das hat es ganz unabhängig vom Medienkonsum auch schon immer gegeben. Auch hier: Führt es zu Problemen? Oder ist es einfach nur ein sehr gemütlicher Mensch? Beim letzteren sollte da ja kein Problem sein, oder?
Außerdem beachtest Du etwas nicht: Belohnungen sind in Dauerschleife nicht mehr Reizvoll. Also wenn ich ne Serie binge ist das geil. Ja, es belohnt mich. Aber: Danach habe ich dann auch erstmal genug. Genauso wenn ich in ein Spiel vertieft bin: Irgendwann verliert auch das tollste Spiel seinen Reiz. Die Belohnungsmechaniken wirken irgendwann nicht mehr. Und dann mache ich irgendwas anderes.
Was Du beschreibst sind viel mehr klassische Aspekte einer
Mediensucht ganz allgemein. Und die gibt es, seit es Unterhaltungsmedien gibt. Das gibt es seit Jahrzehnten, spätestens seit es Fernsehgeräte gibt. Der Mensch wird immer irgendeine Sucht finden: Alkohol, Shopping, Putzen. Irgendwas. Eine Sucht ist aber nicht die Folge der Existenz des Dings wonach man süchtig ist. Sondern auch hier: Suchterkrankung hat in erster Linie tiefere Gründe. Und sei es irgendwas aus der Kindheit. Oder vielleicht ist doch nicht alles so perfekt wie es oberflächlich scheint.