SebastianStange hat geschrieben: ↑16. Jul 2020, 13:49
Zum Thema "Historisch korrekt" ist der
Kotaku-Artikel über die Kritiken aus Japan recht aufschlussreich und interessant. Witzige Eindrücke da, etwa dass die japannische Synchro für das Szenario zu schnell gesprochen sei. Zu wenige Pausen. Haha...
Ah, das ist nett und erklärt auch'ne Passage im IGN-Artikel, die ich gestern nicht recht verstand. Dort wurde früh in der Einleitung explizit geschrieben, dass die Autoren beim Spielen von "Ghost of Tsushima" kein 違和感 "Unwohlbehagen" verspürten. Offenbar sahen sie es nötig, dies bei einem westlichen Spiel mit Japano-Szenario quasi als Entwarnung zu schreiben weil's keine Selbstverständlichkeit ist.
Das Review auf
Automaton geht kaum auf das eigentliche Spiel ein, sondern setzt sich damit auseinander, dass obwohl ein westliches Spiel, die japanische Sprache authentisch und gut dargestellt wird und man die Kritik diesbezüglich nicht teilt. Die Hälfte des Artikels beschäftigt sich mit der Frage, wie man "New Game" und "Load Game" anständig ins Japanische übersetzt, ... und ... ja. So spannend wie's klingt, ist's auch. Halt eher nicht so.
Spannend finde ich aber, dass auch die bei Kotaku zitierten japanischen Artikel hier doch eine sehr klare Differenzierung vornehmen und den Titel grundweg anders einsortieren, als dies in deutschen Artikeln der Fall ist. 4Players hat passend zur Veröffentlichung des Spiels so etwa ein
Geschichtsvideo bzgl. Mongoleninvasion und Samurai veröffentlicht, und ordnet den Titel damit als Werk ein, das Geschichte abbildet. Gamestar wiederum hat "Ghost of Tsushima" als Anlass für einen kulturellen Rundumschlag genommen, bei dem Nino über
Ghost of Tsushima & Japans Einfluss auf westliche Spiele spricht. Auch hier wird "Ghost of Tsushima" als historische Darstellung begriffen. Von "historischer Korrektheit", o.Ä. wird nicht gesprochen, aber dem Titel wird ein hohes Maß an "Authentizität" zugesprochen.
So gesag: Westliche Journalisten haben den Titel in der Hand und überlegen, ob sie es nun in die "Fiktion"- oder "Geschichte"-Schublade stecken sollen. Derweil stellen sie japanische Journalisten diese Frage gar nicht erst, sondern ordnen es sofort als "Fiktion" ein. Auch der Artikel von
Dengeki Online bezeichnet es nicht als historischen Titel, o.Ä. sondern spricht von einem 時代劇や映画をモチーフに制作したオープンワールドのゲーム "ein auf unter Anderem Theater- und Filminszenierungen basierenden OpenWorld-Spiel." Auch im Kotaku-Artikel heißt es im Lob von Dengeki, dass nicht etwa Geschichte, sondern "historical dramas" von den Entwicklern gut studiert wurden. Auch der
Engagdet-Artikel bezeichnet es als 時代劇 "Historiendrama", wobei der Begriff ein literarisches Genre bezeichnet. Auch die
Famitsu argumentiert so:
"もちろん本物の鎌倉時代は見たことがないので、それが“リアル”なのかは分からないし[...]だが、フィクションである時代劇を見ているという感覚としては、ほぼ違和感はない。"
"Weil ich natürlich nie die Kamakura-Zeit wirklich je mit eigenen Augen gesehen habe, weiß ich nicht, inwiefern das Gezeigte "real" ist. Aber wenn ich es als fiktionalisiertes Historiendrama wahrnehme, so kam fast nie das Gefühl auf, das etwas nicht ganz stimmig ist."
Referenz- und Qualitätsmaßstab in den japanischen Reviews ist nie die Frage bzgl. der historischen Akkuratesse, historischen Korrektheit, o.Ä. sondern es wird sofort als fiktionales Werk eines literarischen Genres - eben der Historiendrama, wie's in Literatur, Film, Theater, u.Ä. existiert - eingeordnet. Die Qualität von "Ghost of Tsushima" liegt laut den Reviews also nicht darin, dass es eine authentische, korrekte, o.Ä. Darstellung von japanischer Geschichte ist, sondern dass es ein stimmiger Vertreter eines
literarischen Genres ist und die Tropes, Stereotype und Stilmittel dieses Genre recht gut erfüllt. In diesem Zusammenhang kommt dann auch die Kritik von Famitsu, dass die Figuren zu schnell sprechen würden: Famitsu sagt also nicht, dass die Menschen in der Kamakura-Zeit langsamer sprachen als heute und in Dialogen immerzu dramatische Pausen einbauten, sondern dass dies ein typisches Stilmittel des 時代劇 "Historiendramas" ist, welches im Spiel fehlt. Es bricht hier eine Genrekonvention, die für'n japanischen Rezipienten halt dazu gehört. Derweil redet man im deutschen Journalismus weitaus häufiger über den historischen Gehalt dieses Titels.
Zwei sehr unterschiedliche Perspektiven und Zugänge, die wohl beide ihre Berechtigung haben.
...
So, jetzt bin ich aber auch ruhig und deraile nicht weiter.
Ist halt nur so'n spannendes Thema.