Andre Peschke hat geschrieben: ↑27. Jan 2021, 16:32
dadadave hat geschrieben: ↑27. Jan 2021, 15:39
Ich hab noch etwas weiter gelauscht und beim Graffiti-Thema finde ich, ist auch eine andere Leseart möglich:
Direkt vorneweg: Finde ich interessant und selbstverständlich sind Interpretationen immer nur eine von etlichen Lesarten. Ich glaube, wir haben in dem Punkt nichtmal eine eigene Theorie innerhalb der Fiktion entwickelt, sondern nur das Fehlen vermerkt, oder?
Jo, ich meinte das mit der Leseart eher im Sinne eines total spekulativen "da wurde vielleicht bewusst nicht derartiges hingemacht" im Gegensatz zu einem "da ist einfach nichts, weil niemand etwas hingemacht hat". Ich dachte, das sei ein Stück weit gemeint gewesen. Wenn's einfach nur eine Feststellung war, dann ist's nicht mal ein Gegensatz.
Andre Peschke hat geschrieben: ↑27. Jan 2021, 16:32
dadadave hat geschrieben: ↑27. Jan 2021, 15:39Cyberpunk ist eine Dystopie, in der Ultra-Kapitalismus sich durchgesetzt und alles andere verdrängt hat. Dass eine von Konsum betäubte Bevölkerung apolitisch wird und sich nicht via rebellischen Graffitis äussert, passt für mich da gut ins Gesamtbild und findet sich auch seit langem in den Ängsten von Kapitalismuskritikern.
Nur als Ergänzung zum Verständnis meiner Bemerkung, dass da "was fehlt" - deine Interpretation finde ich ganz cool: Ich meine nicht nur konkret politische Graffiti, sondern eben auch zB gesellschaftspolitisches. Und das wird im Spiel ja wirklich VIEL thematisiert. Das Problem mit ausgerissenen Cyberpsychos wird in Texten und IIRC in den Nachrichten thematisiert. Aber es gibt keine Graffitis wie "Cyberpsychos raus!". Die Schere zwischen Arm und Reich ist ein Thema. Das Schicksal der "Dolls". Probleme mit Billig-Implantaten.
Es gibt IIRC nichtmal Graffitis, die keine Message per se haben, aber die nur in dieser Welt existieren können (einzige Ausnahme: Medienprodukte). Also, nichtmal zB irgendeine Hassbotschaft gegen die Maelstrom-Truppe, weil sie so weird aussehen. Oder etwas, das generell bezug nimmt auf Implantate, Ripperdocs...
Und wäre die Gesellschaft DERART apathisch, gäbe es wohl nicht so viele Konflikte, würde ich denken. Das müsste man dann vermutlich noch ein wenig weiterspinnen.
Wohlgemerkt: Auf den besuchten Abschnitt bezogen. Wäre jetzt interessant, ob das vllt einfach woanders in der Welt auftaucht?
Der nächste Schritt, jetzt nicht einfach zu sagen: "Da haben die Entwickler auf dieses Detail wohl nicht geachtet", sondern daraus eine Aussage über diese fiktive Gesellschaft abzuleiten ist davon unberührt und generell voll im Sinne des Formats.
Andre
Ich hab mich nie so im Detail auf die Graffiti geachtet, als dass ich da mit grosser Sicherheit etwas dazu sagen könnte. Wenn das so ist, dass da wirklich nichts aus dem Alltag der Menschen dieser Welt aufgegriffen wird (nebst den territorialen Gang-Graffitis), dann ist das schon auffällig, da bin ich bei Dir. Eine verpasste Chance (und ungewöhnlich, weil das ja gerne zum Worldbuilding verwendet wird). Ich dacht, ich hätt auch so Sachen wie "Eat the rich" gesehen, aber vielleicht war das woanders und davon alleine würde der Braten auch nicht fett.
Ich würd aber schon unterscheiden, zwischen den Themen, die das Spiel selbst anspricht (und damit auch die Entwickler) und dem, was die Menschen in der Spielwelt effektiv so beschäftigt, dass es sich in ihrer Kulturschaffen, z.B. in Graffiti niederschlägt. Das sind für mich zwei verschiedene Dinge:
Das Spiel thematisiert die Kluft zwischen Arm und reich, aber das heisst nicht, dass die NPCs im Spiel dies auch tun und sie nicht vielleicht als gottgegeben ansehen. Es ist ja auch eine sehr individualistische Welt. Die Leute, die arm sind, versuchen halt irgendwie, der Armut zu entkommen, aber im Spiel ist bis auf Johnnys Figur iirc kein NPC zu sehen, der das als kollektive Arbeit begreift oder das System hinterfragt. Insgesamt erscheinen mir die Leute in der Welt sehr zynisch, sie haben vor dem Corpo-Kapitalismus kapituliert und richten sich einfach so gut es geht innerhalb dessen Rahmens ein.
Dieses "jeder für sich" schwingt ja stark mit im Spiel. Deshalb kontrastieren die Aldecaldos ja auch sehr stark zu den Stadtmenschen und es fällt mir schwer, sie nicht als wertende Aussage der Entwickler zu verstehen, im Sinne von "Guckt mal, so wär's eigentlich gut, Menschen, die für einander einstehen, das ist der Gegenentwurf". In dem Sinne tauchen zwar Cyberpsychos in den Nachrichten auf, aber ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand im Spiel sagt: da müsste man mal was gegen die Ursachen unternehmen (also in grossem Stil, die Questgeberin ist da etwas eine Ausnahme). Die Probleme der Dolls sind ihre Probleme, niemand interessiert sich für sie. Bei fehlerhaften Billigimplantanten hätte man halt besser aufpassen und nicht knausern sollen, das scheint mir die Attitüde der Bewohner dieser Spielwelt zu sein. Die Maelstorm modifizieren sich bis zur Unkenntlichkeit? Da macht man als Night City Bewohner vielleicht einen lustigen Spruch drüber, aber letztlich ist das deren Bier, nirgends predigen Leute gegen den Verlust der Menschlichkeit dadurch oder sonstwas.
Für mich beisst sich auch eine politische Apathie der Bevölkerung nicht damit, dass es viele Konflikte gibt, weil diese Konflikte "unpolitisch" motiviert sind: Geldgier und Machtgier, bzw. durch die Not, die das System verursacht. Die Hierarchie des Systems ist durchaus konflikt-freundlich, man könnte sogar sagen, sie lebt davon. Alles ist ein Wettstreit und es gilt "the winner takes it all".
Das ist alles etwas zusammengedichtet von mir, ich hab zum Beispiel kaum Texte gelesen, weil es mir relativ bald so vorkam, als hätten die nicht viel zu bieten. Aber dieses schöne Format lädt ja dazu ein.