Love
2015; Regisseur: Gaspar Noé; DarstellerInnen: Karl Glusman, Aomi Muckum, Klara Kristin; Genre: Erotikdrama
Der US-Amerikaner Murphy will unbedingt Filmemacher werden und studiert in Paris. Er lernt dort die Kunststudentin Elektra kennen und die beiden starten eine sehr leidenschaftliche und wilde Beziehung mit viel Sex und viel Drogen. Mit ihrer jungen und attraktiven Nachbarin Omi kommt es zu einem Dreier. Murphy schläft allerdings hinter dem Rücken von Elektra nochmal mit ihr und dabei platzt das Kondom und Omi wird schwanger. Einige Zeit später lebt Murphy mit Omi und dem kleinen Gaspar zusammen. Er bekommt einen Anruf von Elektras' Mutter, die ihm unter Tränen sagt, dass Elektra – mit der er seit Monaten keinen Kontakt mehr hatte – verschwunden sei. Murphy beginnt sich zu sorgen, dass sie sich etwas angetan hat und er dabei nicht ganz unschuldig wäre.
Gaspar Noé ist neben Lars von Trier wahrscheinlich der größte Provokateur des europäischen Kinos. Und so überrascht es nicht, dass auch dieser Film radikal ist. Radikal in seiner Darstellung von Sex, denn die Schauspieler haben wirklich miteinander den Akt vollzogen und das wird auch in aller Ausführlichkeit gezeigt. Wobei man hier sagen muss, dass das männliche Geschlechtsteil und dessen... wie soll man sagen... "Lebenssaft" häufiger und deutlicher ausstaffiert wird, als das weibliche Geschlechtsorgan. Provokateur hin oder her, Vorwürfen ein geiler Bock und Sexist zu sein, der hier eine Herrenfantasie dreht – Vorwürfe die heutzutage bei viel Nacktheit und Sex unweigerlich kommen -, wollte er sich anscheinend nicht aussetzen.
Der Film wurde als 3D-Film vermarktet wegen einer einzigen Szene und zwar der erste POV-Cumshot der Filmgeschichte. Ihr habt richtig gelesen: An einer Stelle ejakuliert der Hauptdarsteller in die Kamera. In den "Genuss" das in 3D zu erleben bin ich hier bei mir zu Hause leider...*hust*... nicht gekommen. Und diese Szene kann man Noé wirklich vorwerfen, weil sie inhaltlich nichts beiträgt und reine Provokation ist... ein Gimmick um den Film in die Medien zu bringen mit der Hoffnung, dass sich irgendjemand aufregt.
Und auch generell stellt sich natürlich die entscheidende Frage: Ist das Kunst oder ein glorifizierter und prätentiöser Porno? Noé sagt es durch seinen Hauptdarsteller in einer Szene vielleicht etwas plump selber: Das wahre Leben besteht aus Blut, Schweiß und Sperma und deswegen sollten Filme das auch abbilden. Außerdem will Murphy einen Film drehen, in dem Sex und Liebe gleichwertig sind, sich bedingen und auseinander entstehen. Sowieso ist Murphy semi-autobiografisch angelegt und eine Mischung aus Erinnerungen von Noé selbst und seinem Avatar, über den er immer wieder direkt zum Zuschauer spricht und Intentionen erklärt.
Es sollen Sehgewohnheiten verändert werden: In den meisten Filmen gibt es vielleicht eine angedeutete Sexszene oder ein bisschen Gefummel unter der Decke und dann ist die sexuelle Komponente der Beziehung abgehakt. Dann wird ein romantisches Essen gezeigt, das Paar geht über eine Kirmes, in den Zoo, Fallschirmspringen oder fährt in Venedig mit der Gondel durch den Kanal. Außerhalb der Handlung in "Love", wenn unser Pärchen mal nicht streitet, wird als "Freizeitaktivität" ausschließlich der Sex gezeigt. Und zwar Sex manchmal als reine Triebbefriedigung, aber zumeist als Ausdruck von Zärtlichkeit, Liebe und Romantik. Und das unterscheidet sich sehr von dem, was uns in Pornos gezeigt wird.
Damit wird auch in den Sexszenen selbst gespielt, denn immer wieder mal sehen wir die DarstellerInnen in der für das prüde Hollywood typischen Einstellung von knapp über den Brüsten der Frau aufwärts, nur um das dann aber zu brechen und uns alles zu zeigen.
Man kann natürlich immer die Frage stellen, ob diese Sexszenen denn so lange gehen müssen und der Film macht sich dadurch angreifbar – und ist mit 135 Minuten sehr lang - , aber es soll einfach gezeigt werden, dass Sex einen großen Teil der Beziehung aus macht. Sex ist (meist) kürzer als ein romantisches Abendessen, aber eben auch intensiver. Und das soll verbildlicht werden.
Noé glaubt hier einen ehrlicheren Film über eine Beziehung zu machen als das, was uns meistens so präsentiert wird. Und ich kann ihm da größtenteils folgen.
Dass es sich hier natürlich nicht um einen Porno handelt zeigt auch die Problematisierung von Drogen, die hier wie in allen Werken von Gaspar Noé, der als Ex-Junkie selber genug Erfahrungen gemacht hat, als großer Beziehungs- und Lebenszerstörer gezeigt werden.
Auch formal hat der Film ordentlich Anspruch und ist gewöhnungsbedürftig, denn ähnlich zu seinem Meisterwerk und Magnum Opus "Irreversibel" wird er nicht chronologisch erzählt. Der Aufbau erinnert ein wenig an "Memento", wo der Film rückwärts abläuft, es aber immer wieder auch Sequenzen gibt, die vorwärts laufen und die Hauptfigur über sich reflektiert. In "Love" schließen die Szenen in umgekehrter Chronologie aber nicht nahtlos aneinander an, sondern haben Zeitsprünge... was es in gewisser Weise noch komplizierter macht. Hier könnte man zu dem Schluss kommen, dass das unnötig kompliziert ist. Aber am Ende des Films und besonders beim letzten Bild ergibt sich ein ähnliches Gefühl wie bei "Irreversibel". Nicht ganz so zerstörerisch, aber ich würde "Love" als die zärtliche Variante bezeichnen. Er endet auf einer ganz bitteren, depressiven Note und es bleibt die Botschaft, dass man seine Augen nicht vor Liebe und Zuneigung verschließen darf, denn es kann sein, dass einen das erst klar wird, wenn es schon zu spät ist.
Allerdings hat er hier vielleicht seine größte Schwäche, denn einige Sequenzen in denen Murphy über sich und Elektra sinniert nehmen hin und wieder etwas zu viel Tempo raus und sind teilweise redundant.
Atmosphärisch ist der Film meiner Meinung nach eine Wucht, denn er wirkt irgendwie entrückt. In welche Farben sich die Bilder hüllen wird immer von der Gefühlswelt der Charaktere bestimmt; begleitet von einer durchaus hypnotischen Musik. Auf audiovisueller Ebene kann man sich durchaus in "Love" verlieren. Die Musik besteht übrigens immer mal wieder aus Stücken, die aus Filmklassikern stammen und die Wohnung von Murphy ist tapeziert mit Filmpostern. Ein kleines Augenzwinkern an die Cineasten.
Was einen geradezu nerven kann sind die ständigen Schwarzblenden. In der Kinosprache bedeutet eine Schwarzblende normalerweise, dass eine etwas längere Zeit vergeht, aber Noé nutzt sie durchgehend in direkt aufeinanderfolgenden Szenen und sogar in Dialogen. Er wird sich etwas dabei gedacht haben... ich konnte es nur schwer nachvollziehen. Vielleicht will er damit zeigen, dass den Charakteren etwas länger vorkommt, als es eigentlich ist. Man gewöhnt sich irgendwann daran, aber ich kann mir gut vorstellen, dass das manche richtig nerven wird.
Also ob der Film überhaupt etwas für einen ist, ob er einem gefällt, ob er gut oder schlecht ist, das ist alles subjektiv. Eins steht aber eigentlich wie bei allen Filmen von Noé außer Frage: Er ist interessant.
3,5 von 5 Sternen
(man sei gewarnt vor den pornografischen Szenen; wer das nicht mag, sollte die Finger davon lassen)
https://letterboxd.com/film/love-2015/
Trailer:
https://www.youtube.com/watch?v=h6dbr_E-Yl8