Jenseits der Zeit
3. Band der Trisolaris Triologie von Liu Cixin
Terranigma hat geschrieben: ↑5. Jul 2020, 14:10
Parasite ist entlang einer 4-Akt-Struktur aufgebaut, die man im Japanischen kishôtenketsu bzw. im Koreanischen "giseungjeongyeol" bezeichnet. Meinet dasselbe und ist quasi - China sei dank - Kulturgut innerhalb der ostasiatischen Erzähltradition. Denn Parasite hat - ich spoiler nichts! - einen Twist, aber eben nicht am Ende. Das ist, wo wir in westlichen Erzählungen normalerweise einen Twist erwarten würden, eben dass sich im letzten Akt oder kurz vor dem letzten Akt eine neue Erkentnis ergibt, welche die finale Konfrontation in einem anderen Licht erscheinen lässt. Der Twist von Parasite findet aber etwa zur Hälfte des Films statt, nämlich im dritten der vier Akte. Und das hat System, und dieses System findet man insb. auch in vielen J-RPGs wieder, wo sich die Prämisse, Zielsetzung, o.Ä. nicht am Ende, sondern teils nach der Hälfte oder im letzten Drittel wendet.
(1) ki: Entspricht der Exposition in westlichen Erzählungen, d.h. Figuren, Welt, Plot, usw. werden etabliert
(2) shô: Entspricht etwa dem zweiten/dritten Akt in westlichen Erzählungen, d.h. Figuren, Welt, usw. werden weiterentwickelt, neue Facetten und Aspekte dem Plot hinzugefügt, es werden Nebenhandlungen eröffnet und die Handlung entfaltet sich
(3) ten: Und hier ist nun die große Abweichung! Der dritte Akt ist ein Bruch innerhalb der Erzählung, d.h. der Plot macht quasi eine 97% Wendung und fährt scheinbar eine völlig andere Richtung. Während westliche Erzählungen relativ geradlinig sind und man von Anfang an recht gut weiß, was eigentlich der zu erreichende Endpunkt ist und was man unterwegs leisten muss ihm ihn zu erreichen, bauen auf kishôtenketsu basierende Erzählungen einen Bruch ein. Das sind typischerweise die Momente, wo die Erzählungen auf die Bremse treten.Beispielsweise wird eine ganz neue Situation eingeführt, wie z.B. der quasi-Weltuntergang in Final Fantasy 6. Oder das Erwachen der Menschheit in Terranigma. Es ist auch der Akt, in dem den Antagonisten - was in westlichen Erzählungen sehr unüblich ist - viel Zeit gewidmet wird, und man den Antagonisten als Persönlichkeit besser kennenlernt.
(4) ketsu: Die Erzählung geht wieder auf die Zielgerade, aber mit den narrativen Entwicklungen des dritten Aktes im Gepäck. Häufig haben die Protagonisten und Antagonisten eine Wandlung durchlaufen.
Dicker hat geschrieben: ↑5. Jul 2020, 19:02
Jon Zen hat geschrieben: ↑5. Jul 2020, 18:13
Zum Punkt der asiatischen Handlungen: Ich habe gerade den 3. Band der Trisoloris Triologie durchgelesen (vom Chinesen Liu Cixin). Dazu passt diese 4 Akt Kategorisierung perfekt.
Magst du diesen Aspekt im Bücher Thread etwas ausführen?
Okay, ich mag es versuchen, aber es kann natürlich sein, dass ich jetzt Schwachsinn schreibe, weil ich nicht mit dem ostasiatischem Vierakter näher vertraut bin.
Außerdem hatte ich die ersten zwei Akte zum deutschen Release gelesen, das Buch dann weggelegt, weil Liu Cixins Verständnis über menschliche Handlungen und Gesellschaften wesentlich beschränkter ist, als sein Wissen über Physik und Astronomie.
Trotzdem wollte ich wissen, wie die Triologie endet, deshalb las ich die letzten beiden Akte von "Jenseits der Zeit" doch noch.
Die erste Buchhälfte wurde auch bei Jochen und Falkos Buchpodcast besprochen. Die Folge ist ihnen sehr gelungen!
Nach Terranigmas 4 Akt Struktur, würde ich, ohne zu spoilern, die Akte in "Schwerthalter" (1), "Trisolarier" (2), "Überlebenspläne" (3) und "Post-Überlebensplan" (4) aufteilen.
Im Buch kommen sehr viele Zeitsprünge vor, dennoch sollten diese Abschnitte für jeden, der das Buch las, einleuchtend sein.
Es gibt noch den "Märchen" Abschnitt, den ich zum 2. Akt zähle. Besonders auf diesen Abschnitt, aber auch auf die Ereignisse von Akt 1 und Akt 2, wird im 4. Akt eingegangen, wohingegen der 3. Akt die "Katastrophe" darstellt, aus welcher der 4. Akt resultiert.
Zum Ende des 3. Akts werden auch die "Antagonisten" nach der dunklen Wald Theorie näher beleuchtet. Die Handlung verläuft langsam, es wird viel Zeit für Ausschweifungen genutzt, die irrelevant für die Handlung sind, aber Liu möchte damit die Entwicklung der Menschheit nachvollziebarer machen. Ich kann nur Terranigma wiederholen: Hier liest man ein Buch im Buch, welches ein klares Ende vorsieht, nur weiß der Leser nicht welches genau.
Diese wird dann in einer eigenen Geschichte in Akt 4 erzählt. Die Hauptcharaktere haben aber keine Entwicklung durchlaufen. Das liegt leider am Umvermögen Cixin Lius, menschliche Charaktere zu erschaffen, die nachvollziehbar handeln (im Gegensatz zu seiner sehr interessanten astronomischen Ausführungen und technische Zukunftsprognosen).
Trotzdem ist es ein nachvollziehbares, wohl überlegtes Ende der Triologie. Nimmt man jedes der 3 Bücher für sich, ist der 4. Akt des 3. Bandes eine logische Konsequenz daraus.
Menschen, die Science Fiction wegen der Geschichten lieben, sollten aber besser nach dem 2. Buch aufhören.
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Davon unabhängig funktionieren die Twists im Buch nur, weil die Menschen im 3. Band noch nie etwas von der Spieltheorie und von Risikomanagement hörten (im Gegensatz zum 1. und 2. Band). Dass heißt, sie legen sich immer wieder auf einzelne Szenarien fest, ohne dass sie in Erwägung ziehen, dass es noch unzählige andere Szenarien geben kann und dass die Summe derer Wahrscheinlichkeiten höher ist, als die Gesamtwahrscheinlichkeit ihrer prognostizierten Szenarien. Sie bereiten sich jedes Mal
nicht auf dieses "unvorhersehbare" Ereignisse vor und werden immer und immer wieder davon überrascht. Gleichzeitig bauen sie aber eine Flotte von Raumschiffen.
Für den Leser sind diese Ereignisse aber oft nicht "unvorhersehbar". Da reiße ich mir die Haare aus!