Was ist Victoria 3?
Victoria 3 will eine Kombination aus einer Wirtschafts-, Politik- und Militärsimulation zwischen den Jahren 1836 und 1936 abbilden, bei dem man unzählige Länder über eine globale Stragiekarte spielen kann.
Der Fokus dabei liegt klar auf der Wirtschaftssimulation, die Militärsimulation ist dagegen auf das Wesentliche reduziert.
Im Laufe einer Partie durchläuft man die Industrielle Revolution, angefangen mit einem Agrarland und endet mit einer Nation, welche Autos und Elektrizität benutzt. So wandelt sich auch der Warenbedarf von Möbel & Kleidung über Kohle und kolonialen Waren, wie Opium und Gummi hinzu Erdöl.
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Meine aktuelle Beurteilung: Das Spiel ist kaputt, kann nicht in Ansätzen seinen Ambitionen Gerecht werden. Die KI funktioniert überhaupt nicht. Es gibt zu viele Bürgerkriege. Die politischen Entscheidungen sind zu grob und das Wirtschaftssystem konterkarriert das tatsächliche Wirtschaftssystem des 19. Jahrhunderts. Die Bedienung ist die Umständlichste, die ich seit Jahren gesehen habe. Trotzdem macht es Spaß.
Die Farben entsprechen der Lebensqualität. Alles dunkelgrüne außerhalb Europas sind meine Länder. Die KI ist dort vollkommen überfordert.
Das Militärsystem: Möchte man einen Krieg führen, geht dies über 2 Schritte: Zuerst muss man ein Interesse über das Gebiet anmelden, dann diplomatisch den Krieg erklären. Nach einigen Wochen bis Monate der Diplomatiespiele (dort können Verbündete gewonnen, Kriegsziele erklärt und Truppen mobilisiert werden), beginnt der Krieg.
Mein Hauptproblem dabei ist, dass man die Truppen nicht zur Front schicken kann. Möchte man beispielsweise den Oman erobern, kann man erst seine Invasion ab dem Tag des Krieges losschicken. Das heißt, die Truppen aus Europa benötigen noch Wochen dorthin, während der Oman z.B. den Jemen angreifen kann, weil die Distanz ungleich kürzer ist.
Wenn ich schon bei der Marine-Invasion bin, die Steuerung davon ist absurd:
Zuerst muss man auf das Diplomatiespiel des Konflikts klicken, dann auf den Militärbutton, dort auf den Marine-Reiter gehen und soweit scrollen bis man die jeweilige Flotte findet, dann auf das anzugreifende Land, zuletzt muss man noch den Landgeneral von der gleichen Basis wählen (man sieht nicht dessen Truppenstärke, oder ob er bereits an einer anderen Front kämpft, oder seine Fähigkeiten), fertig!
Das wiederholt man bis man alle Landungen fertig geplant hat.
Das immer wiederkehrende Scrollen in den Armee-Tabs habe ich vergessen.
Wie der Kampf abläuft, finde ich gut. Fronten werden vorangetrieben und können verstärkt werden. Aufgrund des obigen Problems, kann man aber seine Fronten nicht auf einmal aufstellen, weil die Truppen unterschiedlich lange dorthin brauchen, sie können also schon zusammenbrechen, bevor sie bereits sind.
Außenpolitik: Die Außenpolitik ist auf das Nötigste beschränkt. Um die Beziehungen mit einem Land aktiv zu verbessern, kann man gemeinsam Handeln, die Beziehungen via dem Diplomatiebutton "verbessern" stärken oder dem Land Geld schicken. Kriegskoordination? Fehlanzeige. Aber dafür kämpfen die Verbündeten, sobald es zum Krieg kommt (alte Total War Spieler werden überrascht sein ). Das Diplomatieniveau eines Total-War Three Kingdoms ist auf einem anderen Stern. Cao Cao lacht darüber. Bei Victoria 3 agiert die KI nach der vorgegebenen Agenda (z.B. das die Niederlande Indonesien kolonisiert), aber nichtaktiv. Es besteht nie der Hauch eines Wettbewerbs, es ist eher ein Miteinander, vielleicht wie in Anno...
...Und dann kommen Kriege: Wenn man z.B. einem unbedeute Land den Krieg erklärt, kann es sein, dass aus dem Nichts eine europäische Großmacht (mit der man selbst sehr gute Beziehungen pflegt und beide Staaten sind wirtschaftlich gegenseitig abhängig) sich auf die Seite des Gegners stellt. Vollkommen zufällig.
Innenpolitik: Das Politiksystem, bei dem Interessensgruppen in fortwährend veränderlichen Parteien und Koalitionen gebündelt werden, ist sehr cool! Leider sind die ca. 20 Gesetzesarten, die man beschließen kann in je ca. 5 Ausführungen kategorisiert (meist vom Autoritätsstaat zum Kommunismus), wovon also für "normale Staaten" nur je 2-3 gemäßigte Varianten in Frage kommen.
Diese sind so grob, dass man nicht von einer Politiksimulation sprechen kann. Beispiel, Wirtschaftssystem: Für eine kapitalistische Marktwirtschaft kommen nur der Interventionalismus und Laissez Faire in Frage. Es gibt keinerlei Abstufungen.
Das Sozialsystem dort lässt die Spieler nicht erahnen, welche Kosten auf sie zukommen. Insgesamt werden die Auswirkungen nur abstrakt, nicht real angezeigt, wodurch man, ohne externes Wissen, schlechte Entscheidungen trifft - obwohl es viel zu wenige für 100 Jahre Spieldauer gibt.
Merkwürdig ist, dass wenn eine Regierung wiedergewählt wurde, man sie nicht bestätigen kann, sondern immer umbauen muss (außer man möchte Nachteile erleiden).
Das Wirtschaftssystem: Als Wirtschaftswissenschaftler musste ich über die Basis dieses Systems hier lachen und weinen: Die Produktivität der Betriebe sinkt mit jeder weiteren Stufe einer Fabrik pro Region. Typisch für PC-Spiele.
Ich spreche bewusst von Stufe, weil wenn es weitere Fabriken wären, würde sie in etwa konstant bleiben müssen.
Wenn man also in Victoria 3 eine Fabrik in z.B. Frankfurt größer macht, ist das (von der Produktivität) schlechter, als wenn man eine weitere in Mikronesien baut.
Das 19. Jhd ist bekannt für seine Monopolisten und Wirtschaftsmogule, welche ihre Dominanz dadurch erhielten, dass sie ihre Fabriken so groß bauen konnten, dass die Produktivität viel höher war, als bei kleinen Farbriken.
(Irgenwann ist ein Produktivitätsoptimum erreicht, aber ab da kann man eine "2. Fabrik" nebenan bauen).
Diese degressive Produktivität kann ich mir nur aus gamedesigntechnischen Gründen erklären. Ich bin mir aber sicher, man hätte mit der authentischeren Variante ein besseres Spiel bekommen. Ein Wettstreit der Nationen um z.B. die produktivste Webereien (wie in Wirtklichkeit), verbunden mit Forschung, hätte so cool funktionieren können!
Normalerweise möchte das Spiel nämlich über seine Missionen, dass man sich auf einzelne Güter spezialisiert.
Ein weiteres Problem des Wirtschaftsystems besteht in der Unfähigkeit der KI ihre Wirtschaft auszubauen. In meiner Partie liegen sie Jahrzente hinter mir, was dazu führt, dass ich meine Güter weder verkaufen kann (weil keine Nachfrage besteht), noch dass ich Rohstoffe, wie Öl, importieren kann.
Der Tech-Tree ist viel zu kurz. Ich weiß nicht, was ich "falsch" gemacht habe, aber nach 75 Jahren werde ich alles erforscht haben.
Der Außenhandel: Der Außenhandel ist eine wichtige Stütze des Wirtschaftsystems. Wichtig hierzu sind "Handelkonvois". Wenn ich Routen eröffne wird mir angezeigt, dass ich genügend davon besitze. Nachdem ich einige Handelsrouten eingerichtet habe, wird mir immer angezeigt, dass ich zu wenige besitze.
Zu den Bürgerkriegen (zitiere ich mich vom anderen Thread):
Ich habe festgestellt, dass es hauptsächlich Glück ist, wie viele Bürgerkriege ausbrechen. Wenn man Pech hat, kommt man nicht um das Neuladen herum, weil es die eigene Wirtschaft vernichtet.Jon Zen hat geschrieben: ↑8. Nov 2022, 16:09
Und dann fallen alle Handelspartner (z.B. Deutschland, Frankreich, Großbrittanien) in Bürgerkriege und du hast innerhalb von 5 Sekunden eine -500k pro Woche in den Finanzen stehen.
Die "gegnerische" KI ist komplett vom Spiel überfordert. Anfangs merkt man das nicht, weil man mit den anderen Ländern wenig agiert. Bei mir ist aber ab ca. 1880 das reinste Tohuwabohu auf der Welt los.
Btw. gab es auf europäischem Boden in der Zeit von Victoria kaum "echte" Bürgerkriege. Das was man in Victoria sieht sind Bürgerkriege, wie man sie vom "Amerikanische Bürgerkrieg " her kennt. In Europa finde ich eigentlich nur den russischen Bürgerkrieg, welchen man in diese Reihe setzen kann, welcher aber vom 1. Weltkrieg ausgelöst wurde.
Der spanische Bürgerkrieg findet erst später statt, wobei es dort auch die sogenannten Carlsitenkriege gab, aber ob das vergleichbare Bürgerkriege waren, weiß ich nicht.
In Frankreich gab es zwar noch die Revolution von 1848 (nicht vergleichbar) und die von 1871 in Folge des verloren Krieges gegen das Deutsche Reich, welche ebenfalls nicht vergleichbar in ihrem Ausmaß ist.
Bürgerkriege werden auch gerne von unbedeutenden Gruppen ausgelöst, welche einen Bruchteil der Bevölkerung ausmachen (z.B. die Kirche).
Zur Kolonialisation: Es macht mehr Sinn die Länder zu erobern als sie zu kolonialisieren. Beim Kolonisieren besitzt man zuerst kaum Einwohner und muss alle Strukturen selbst aufbauen. Oft dauert es Jahrzente bis man Steuern erheben kann.
Erobert man stattdessen einfach das Land, verfügt man sofort über eine große Bevölkerung mit eigenen Wirtschaftsgebäuden, die Region kann schneller ins Land eingebunden werden und Steuern abwerfen.
Was mir am Kolonialsystem gefällt, ist dass man die Gründe zur Kolonialisierung besser nachvollziehen kann. Und man verknüpft die schreckliche Ausbeutung der Menschen mit dem damaligen Zeitgeist der nationalen Überlegenheit. In Victoria 3 kannn man sagen "bei mir gibt es Multikulturismus, Nationalismus ist scheiße, Rassismus ist verboten, alle sind gleichgestellt". Dafür bekommt man einige Mali, aber wenn man dies durchzieht, verleibt man sich zwar Länder ein, aber behandelt die Menschen genauso wie im restlichen Land. Das Fass möchte ich nicht zu weit aufmachen, hier kann man aber die Motive besser nachvollziehen als bei einem rein akademischen Diskurs. Im Spiel habe ich einen richtigen Hass auf die Kleinbürger bekommen.
Die Bedienung Das Beispiel aus dem Militärteil eignet sich für viele Teile der Bedienung. Das Tutorial zeigt zwar, wie man eine kleine Nation ausbaut, aber ich habe z.B. erst nach 15 Stunden den Nutzen für das 2. Bauen Menü entdeckt.
Ich weiß immer noch nicht, wann das Spiel die Infrastruktur und wann die Arbeitslosenanazahl auf der Karte anzeigt. Manchmal macht es das, aktiv Steuern kann ich es nicht. Es gibt kein Menü, wo ich die wichtige Infrastrukt meiner Regionen einsehen kann.
Es gibt auch kein Menü, wo die Handelsbilanz aufgeschlüsselt wird oder der gesamte Verbrauch einzelner Waren im eigenen Land. Für viele Aktionen muss man 3-4 Mal so häufig klicken und noch mehr scrollen als mit einem cleveren UI möglich wäre.
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Trotz allem zeigt das Spiel ein großes Potenzial und macht dennoch Spaß. Leider musste ich mich viel zu oft Ärgern. Man hat das Gefühl eine Beta zu spielen.
Wie seht ihr das?
Ist meine Kritik zu hart? Oder habe ich noch wichtige Aspekte vergessen?